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Putin und Deutschland: Wer genau hinsieht, erkennt die rote Linie


Wer genau hinsieht, erkennt die Linie

Von Florian Harms

Aktualisiert am 15.09.2022Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Die deutsche Panzerhaubitze 2000 hat eine starke Feuerkraft: Sie verwendet 155-Millimeter-Munition.Vergrößern des Bildes
Die deutsche Panzerhaubitze 2000 hat eine starke Feuerkraft, ist aber keine Angriffswaffe. (Quelle: imago-images-bilder)

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Es ist ein Nachteil unsichtbarer Grenzen, dass man sie nicht sehen kann. Wie von Geisterhand drehen Menschen um, bevor sie den Fuß darüber setzen, oder ändern wie zufällig die Richtung, sobald sie sich der verbotenen Zone nähern. Ein unbefangener Beobachter muss dem Kommen und Gehen lange zuschauen, bevor sich die imaginäre Linie offenbart, die niemand übertreten will. Aber wenn man lange genug die Augen offenhält, ist sie irgendwann glasklar zu sehen.

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Seit mehr als einem halben Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. Nukleare Schreckmomente, hochfliegende Rüstungspläne, Sanktionen und Energieengpässe haben die Regierungen der westlichen Staaten zwischen Gipfeltreffen und Krisensitzungen hin- und hergetrieben, dass einem als Zuschauer dabei fast schwindelig werden kann. Aber wenn man dem Treiben lange genug zuschaut, zeigen sich auch dort die Grenzen, über die sich niemand wagt.

Die Diskussion über die Lieferung schwerer Waffen ist jetzt wieder neu entflammt. Marder-Schützenpanzer stehen auslieferungsbereit auf den Parkplätzen deutscher Rüstungsunternehmen – doch die Bundesregierung erteilt für die Ausfuhr in die Ukraine keine Genehmigung. Auch über die Lieferung von Kampfpanzern wie dem deutschen Leopard wird heftig debattiert, und die Forderung, damit endlich in die Hufe zu kommen, macht an Parteigrenzen nicht Halt. Ganz egal, ob es Herr Hofreiter von den Grünen ist, Frau Strack-Zimmermann von der FDP oder Herr Hahn von der Union: Panzer jetzt! tönt es unisono aus den Mündern, jedenfalls solange man sich noch im Dunstkreis des Parlaments und seiner außen- und verteidigungspolitischen Ausschüsse aufhält.

Doch mit jedem Schritt, mit dem man sich der Regierungsbank nähert, kann man eine bemerkenswerte Verwandlung der Positionen beobachten. Unterstützung für die Ukraine: selbstverständlich! Waffenlieferungen: Klar, wir machen, was geht! Doch im selben Atemzug wird immer gewundener vom Vorrang der eigenen Verteidigungsfähigkeit oder der leider viel zu langwierigen Ausbildung an westlichem Gerät geschwurbelt, von intensiver Abstimmung mit den Verbündeten, die erst stattfinden müsse, und dass man keinesfalls im Alleingang vorpreschen werde. Ja, und die Panzer? Man windet sich, weicht aus, beschwört vorsichtshalber noch mal die Solidarität mit der Ukraine – und wechselt bei nächster Gelegenheit das Thema (besonders eindrucksvoll zu besichtigen in diesem Interview mit Grünen-Chef Omid Nouripour).

Es hilft an dieser Stelle, einen Schritt zurückzutreten und den Blick über Deutschland hinaus zu weiten. Kein einziges Nato-Land liefert Kampfpanzer westlicher Bauart an die Ukraine. Nicht die Amerikaner, die ein Milliardenpaket nach dem nächsten genehmigen und bereits ungezählte Tonnen Militärmaterial ins Kriegsgebiet geschickt haben. Nicht die Franzosen und nein, auch nicht die osteuropäischen Hardliner in Polen und im Baltikum. Selbst der Hallodri Boris Johnson, der durch die rückhaltlose Unterstützung der Ukraine Punkte sammeln und sich vor der Absetzung retten wollte, konnte sich zwar den Platz als Selenskyjs bester Buddy erobern, aber wenn es auf das unangenehme Thema mit den Panzern kam, schlich er leise pfeifend zur Tür. Egal, wohin man schaut: Westliche Kampfpanzer für die Ukraine sind ein Tabu. Man spricht nicht gern darüber, oder eher: eigentlich gar nicht. Aber die unsichtbare Linie ist da.

Nach sechs Monaten Krieg, in dem die Regierenden sich von lieb gewordenen Positionen eilig verabschieden und beständig neue ausloten mussten, fällt die Weigerung der Nato-Partner, amerikanische Abrams-Panzer, deutsche Leoparden oder britische Challenger nach Kiew zu liefern, als roter Faden umso deutlicher auf. Diese seltsame Konstante kann eigentlich nur auf eines zurückgehen: auf eine direkte Kommunikation mit Moskau. "Absprache" wäre sicher das falsche Wort, Elemente der Drohung dürften in einem solchen Austausch wohl zugegen gewesen sein. Dass die Lieferung westlicher Kampfpanzer die Situation in dramatischer Weise eskalieren lassen würde, ist in den Köpfen von Premiers, Präsidenten und dem des Kanzlers jedenfalls erkennbar verankert. Ich möchte an dieser Stelle allerdings betonen: Kein Vögelchen aus Regierungskreisen hat mir eine Insiderinformation ins Ohr geflüstert. Es herrscht Stillschweigen. Doch die Konsequenz, mit der die rote Linie seit Monaten Bestand hat und allem Wandel widersteht, lässt kaum einen anderen Schluss zu.

Vielleicht werden Sie sich an dieser Stelle wundern: Hat die Bundesrepublik nicht längst schwere Waffen geliefert? Deutsche Raketenwerfer vom Typ Mars II rollen seit Juli auf ihren Ketten in die Abschusspositionen. Und was ist mit den Gepard-Panzern und der Panzerhaubitze 2000? Alles längst im Einsatz, alles effizient und tödlich, wie mein Kollege Daniel Mützel berichtet. Auch Amerikaner und Franzosen haben schweres Gerät und Hi-Tech-Artillerie geliefert. Ob schwer oder nicht, das ist bei den Waffen jedoch nicht die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist: Sind sie zum Angriff geeignet?

Die Nato verweigert der Ukraine offensive Waffensysteme. Der Flugabwehrpanzer Gepard, über den die Regierung jetzt so viel redet, trägt seinen defensiven Zweck bereits im Namen. Die Zuordnung, was ein offensives Waffensystem ist und was nicht, lässt sich anhand einer einfachen Frage entscheiden: Kann man mit dem gelieferten Gerät große Gebiete wie die Krim zurückerobern? Deutsche Raketenwerfer und Haubitzen können die russischen Bastionen zwar sturmreif schießen – aber zum Stürmen braucht man dann etwas anderes: Marder-Schützenpanzer etwa und den Kampfpanzer Leopard. Damit ist die rote Linie erreicht. Solche Panzer aus Nato-Waffenschmieden gibt es für die Ukraine nicht.

Bevor Sie nun womöglich die Wut packt, dass die Nato-Staaten augenscheinlich vor Putins Drohkulisse kuschen, werfen wir einen Blick auf eine andere Grenze, die in diesem Krieg nicht angetastet worden ist: Kein einziges russisches Geschoss, keine Rakete und keine Bombe hat sich auf Nato-Territorium verirrt, selbst dann nicht, wenn sich dort in unmittelbarer Nachbarschaft zur Ukraine – wie beispielsweise in Rumänien – der Nachschub für Kiews Truppen türmt. Mit ebensolcher Verlässlichkeit haben es Putins Luft- und Raketenstreitkräfte peinlich vermieden, auf Kiew oder Lwiw zu feuern, sobald ein hochrangiger Vertreter eines Nato-Staates die Städte besuchte.

Die Zeiten sind gefährlich. Deshalb muss man dankbar dafür sein, dass auf beiden Seiten des neuen Eisernen Vorhangs ein stillschweigendes – oder sogar ausdrückliches – Einverständnis darüber herrscht, die direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland unbedingt zu verhindern. Konfliktparteien, die bis unter die Haarspitzen nuklear bewaffnet sind, dürfen nicht aufeinander losgehen. Niemals. Es ist der denkbar kleinste gemeinsame Nenner, aber immerhin gibt es ihn.

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Diktatoren unter sich

Für den einen ist es die erste Auslandsreise seit zweieinhalb Jahren, für den anderen wohl eine willkommene Ablenkung vom Frontdebakel in der Ukraine: Wenn sich Chinas Staatschef Xi Jinping und Kremlchef Wladimir Putin ab heute auf der Konferenz der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Samarkand treffen, hat das für beide einen hohen Symbolwert. Natürlich geht es beim Gipfel in der märchenhaften Seidenstraßenstadt auch ganz handfest um Handels- und Sicherheitspolitik. Neben China und Russland gehören Indien und Pakistan sowie die zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan zur SCO; diesmal soll formell der Beitritt des Iran beschlossen und der Beitrittsprozess von Belarus eingeleitet werden.

Vor allem aber kann Putin auf dieser Bühne zeigen, dass er trotz der westlichen Sanktionen immer noch Verbündete hat. Und Xi kann vor dem Parteitag im Oktober, der ihm eine dritte Amtszeit bescheren soll, das Signal aussenden, dass er trotz Corona und drohender Wirtschaftskrise fest im Sattel sitzt. Kaum überraschend, dass in der dubiosen Runde ein weiterer Demokratieverächter nicht fehlen mag: Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan wird ebenfalls in Samarkand erwartet. Eines steht fest: Die Welt wäre eine bessere ohne alle diese Typen.


Feilschen im Kanzleramt

Als Olaf Scholz beim Arbeitgebertag den Unternehmern Mut machen wollte, überzeugte er bei Weitem nicht alle Zuhörer. Die hohen Strom- und Gaspreise treiben die Wirtschaft um, Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger geißelte die erratische Atompolitik der Ampelkoalition. Der Kanzler setzt jedoch unbeirrt darauf, sich "unterzuhaken", und bittet Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften heute zur zweiten Sitzung der konzertierten Aktion ins Kanzleramt. Unter anderem ist eine Öffnung des bisher auf die Industrie ausgerichteten Energiekostendämpfungsprogramms für Handwerk und Dienstleistungswirtschaft geplant. Was sich hinter dem Wortungetüm verbirgt, erklären die Kollegen des "Manager Magazins".


Was lesen?

Wie schlimm wird die Energiekrise Deutschland noch treffen? Der weltweit führende Wirtschaftshistoriker Adam Tooze erklärt die Lage im Interview mit meinem Kollegen Marc von Lüpke und mir.



Bayern erlebt ein Bergdrama: Der Alpengipfel Hochvogel droht auseinanderzubrechen. Unser Autor Klaus Wiendl berichtet, wie es dazu kommen konnte.


Ursula von der Leyens Rede zur Lage Europas wurde mit großem Tamtam angekündigt. Doch beim wichtigsten Thema enttäuschte die EU-Kommissionschefin auf ganzer Linie, kommentiert meine Kollegin Sonja Eichert.


Was amüsiert mich?

Sachen gibt’s!

Ich wünsche Ihnen einen federleichten Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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