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Bürgergeld-Kompromiss: Was verbessert sich für die Menschen in Deutschland?


Bürgergeld
"Die Angst wird nicht verschwinden"


Aktualisiert am 25.11.2022Lesedauer: 5 Min.
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Ein Jobcenter in Berlin (Archiv): Eigentlich wollte die Ampel die Abkehr vom alten Hartz-IV-System erreichen.Vergrößern des Bildes
Ein Jobcenter in Berlin (Archiv): Eigentlich wollte die Ampel die Abkehr vom alten Hartz-IV-System erreichen. (Quelle: Schoening /imago-images-bilder)

Ab kommendem Jahr ersetzt das Bürgergeld das alte Hartz-IV-System. Was bedeutet das für Betroffene?

In dunkle Farben gekleidet treten die drei Vertreter der Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP am Dienstag vor die Kameras. "Ich bedaure das sehr", sagt die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann. Zuvor hatten die Regierungsparteien Änderungen bei ihrem Vorzeige-Sozialprojekt Bürgergeld zugestimmt – zähneknirschend.

Nur wenige Minuten später triumphiert dann der Oppositionsführer öffentlich: CDU-Chef Friedrich Merz verbucht die Zugeständnisse der Ampel als großen Erfolg – dem Kompromiss will die Union nun zustimmen. CDU und CSU hatten das ursprünglich von der Ampelregierung entworfene Bürgergeld im Bundesrat blockiert.

Wenig später einigte sich auch der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat auf den Kompromiss. Am Freitag gaben Bundestag und Bundesrat dann noch formal grünes Licht. Das neue Bürgergeld kommt also – allerdings in veränderter Form. Was bedeutet das am Ende für die Menschen, die davon betroffen sind?

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Bürgergeld sollte der große Wurf sein

Unter den Politikern sind die Einschätzungen unterschiedlich, wenn nicht sogar genau entgegengesetzt: Der Kern des Bürgergelds bleibe, sagt die parlamentarische Geschäftsführerin der SPD, Katja Mast. Der Kern des Bürgergelds sei "komplett gestrichen", sagt hingegen CDU-Chef Merz.

Fest steht: Die Union konnte einige ihr wichtige Änderungen am ursprünglichen Gesetzentwurf erzwingen – somit entsteht schnell der Eindruck, dass von der ursprünglichen Ampel-Idee ziemlich wenig übrigbleibt: Die Vertrauenszeit wird nun doch nicht kommen, das Schonvermögen wird niedriger ausfallen und die Karenzzeit wird auf ein Jahr verkürzt. Hier lesen Sie mehr dazu.

Eigentlich sollte das Bürgergeld der große Wurf sein, die Ampel wollte etwas wirklich Neues schaffen und eine Abkehr vom alten Hartz-IV-System erreichen. "Wir lösen die Grundsicherung durch ein neues Bürgergeld ab, damit die Würde des Einzelnen geachtet und gesellschaftliche Teilhabe besser gefördert wird", heißt es im Koalitionsvertrag vollmundig. Kann der Kompromiss dieses Versprechen halten?

Experte: "Die materiellen Härten werden kaum entschärft"

Ingo Bode, Experte für Sozialpolitik, sagt, es komme darauf an, inwiefern das neue Bürgergeld in der Lage sein werde, Armut zu bekämpfen. "Das ist zentral, denn darum muss es einer solchen Leistung im Sozialstaat gehen", so der Professor von der Universität Kassel zu t-online. Seine Bilanz fällt ernüchternd aus. "Der armutsbekämpfende Effekt ist sehr gering angesichts der geringen Erhöhung der Regelsätze." Das liegt auch an der Inflation, die die Erhöhung von rund 50 Euro auffrisst.

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"Die materiellen Härten werden durch das Bürgergeld kaum entschärft", sagt Bode deshalb. Das wäre jedoch eine Voraussetzung dafür, die sogenannte Teilhabe zu erreichen, die die Ampel eigentlich in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt hat. Denn gesellschaftliche Teilhabe heiße: "Kann ich ein Kino besuchen? Kann ich mit anderen ein Bier trinken gehen?", erklärt der Wissenschaftler. Das werde für die Bezieherinnen und Bezieher des Bürgergelds weiterhin nicht oder nur teilweise durch den Regelsatz abgedeckt sein.

Betroffene: "Wir sprechen hier nicht über Edelbrie"

Das berichtet auch eine Betroffene aus ihrem Alltag. Susanne Hansen bezieht seit dreieinhalb Jahren Arbeitslosengeld II, das umgangssprachlich auch Hartz IV genannt wird. "Ohne Unterstützung von Freundinnen, Familie oder Stiftungen funktioniert ein Leben mit einem Hartz-IV-Regelsatz von 449 Euro nicht, auch nicht mit 502 Euro Bürgergeld", schreibt die 54-Jährige in einem Gastbeitrag in der "Zeit". Sie engagiert sich auch in der Bewegung "#IchbinArmutsbetroffen".

Eine Freundin aus Köln, die wie sie selbst auch Hartz IV beziehe, sei beim Anblick des gestiegenen Preises für ein Stück Käse im Discounter in Tränen ausgebrochen, schildert Hansen. "Wir sprechen hier über abgepackten Gouda, nicht über Edelbrie."

Experte: "Diese Angst wird nicht verschwinden"

Nach Bodes Einschätzung hängt damit ein weiterer Aspekt zusammen – etwas, das er "psychosoziale Effekte" nennt. Die Frage "Was passiert, wenn ich in Hartz IV rutsche?" sei sehr angstbesetzt, auch bei vielen derzeit Beschäftigten. "Diese Angst wird mit dem neuen Bürgergeld nicht verschwinden", sagt der Wissenschaftler.

Das liege nicht nur an den knapp bemessenen Regelsätzen, sondern auch daran, dass das System bislang bei Bezug der Grundsicherung oft den Umzug in kleinere Wohnungen erzwinge. Dies wird auch mit dem neuen Bürgergeld so bleiben, nur soll es nun eine Schonzeit geben. Diese wurde auf Druck der Union von zwei Jahren auf eines verkürzt. "Auf dem heutigen Wohnungsmarkt ist das – zumindest in Ballungsräumen – der Horror", sagt Bode. Hier hätte es seiner Einschätzung nach weitreichendere Änderungen geben müssen.

Vermittlungsvorrang entfällt

Gibt es also keine grundlegenden Verbesserungen für die Betroffenen? Für die Reform zuständig ist das Arbeitsministerium unter Hubertus Heil. Fragt man Parteivertreter seiner SPD, verweisen sie darauf, dass die Qualifizierung für Arbeitslose und die Möglichkeiten zur Weiterbildung verbessert würden – dieses "Herzstück" bleibe auch nach dem Kompromiss mit der Union.

Experte Bode bestätigt das: Für die Betroffenen gehe es beim Umgang mit dem Jobcenter immer auch um die Frage: "Kann ich mich selbst verwirklichen mit einer Tätigkeit, die mich interessiert – oder muss ich den Job machen, den mir jemand anderes aufbürdet?" Mit dem Bürgergeld gebe es hier durchaus eine neue Orientierung im Vergleich zum alten Hartz-IV-System.

"Der Betroffene muss nicht mehr den nächsten prekären, schlecht bezahlen Job annehmen", sagt Bode, sondern kann sich etwa um eine Weiterbildung bemühen. Denn der sogenannte Vermittlungsvorrang entfällt beim Bürgergeld. Das könne am Ende auch das Image der Leistung insgesamt aufbessern – im Vergleich zum schlecht angesehen Hartz IV.

Jobcenter: "Wenn der Drehtüreffekt ausbleibt"

So sieht das auch die Leiterin des Frankfurter Jobcenters, Claudia Czernohorsky-Grüneberg. "Wir können künftig stärker dafür sorgen, dass die Menschen sich weiterbilden und gut aufgestellt sind", sagt sie im "FAZ"-Interview. Zwei Drittel der Langzeitbezieher hätten keine abgeschlossene Berufsausbildung. Durch die Reform soll mehr Zeit für Qualifizierungsmaßnahmen bleiben, die die Chancen auf eine längerfristige Vermittlung in einen guten Job erhöhen.

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"Wenn der Drehtüreffekt ausbleibt, hat die Reform ihre Aufgabe erfüllt", so Czernohorsky-Grüneberg – wenn also die Menschen nicht in ein paar Jahren wieder im Jobcenter stehen.

Experte: Viele Träger unter immensem Druck

Einen Haken gibt es in der Auffassung von Experte Bode dabei allerdings: "Es ist noch völlig ungeklärt, wie die bessere Förderung von Weiterbildung oder Umschulung genau funktionieren soll – das dahingehende Versprechen also in der Praxis umgesetzt werden kann", sagt Bode. Das müsse sich in der Zukunft erst zeigen.

Es gehe unter anderem darum, ob den Menschen auch tatsächlich genügend Zeit für die Weiterbildung und berufliche Umorientierung gegeben werde. Und darum, ob die Träger die Aufgabe in diesem Umfang stemmen können. So wie das Weiterbildungssystem bislang aufgestellt sei, sehe er das skeptisch, sagt der Experte. Hier fehlten bislang Spielräume für nachhaltige Angebote, viele Träger stünden unter immensem Druck. Er vermisst konkrete Maßnahmen aus der Politik, um das zu verbessern.

"Schlimm für all jene, die darauf angewiesen bleiben"

Das Fazit also? Durchmischt. Experte Bode von der Universität Kassel stört sich vor allem an der Haltung von CDU und CSU: "Die Argumentation der Union konzentriert sich auf diejenigen, die das System ausnutzen könnten. Aus der Forschung wissen wir aber, dass das nur eine kleine Minderheit ist." Hätte man Politik für die Mehrheit der Betroffenen machen wollen, hätte der Kompromiss anders ausfallen müssen, sagt er.

Für die Betroffene Susanne Hansen ist die Sache dagegen klar: Das Bürgergeld sei, genau wie Hartz IV, weiterhin "nur als Notanker angelegt", schreibt sie. "Das ist schlimm für all jene, die darauf angewiesen bleiben." Für sie selbst gibt es aber gute Neuigkeiten: Ab Dezember könne sie ihren Lebensunterhalt wieder selbst finanzieren.

Verwendete Quellen
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