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"Gorch Fock": Fall Jenny Böken – Geschah ein Mord an Bord?


Der Fall Jenny Böken
Geschah ein Mord an Bord der "Gorch Fock"?

Von Dietmar Seher

Aktualisiert am 07.04.2019Lesedauer: 6 Min.
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"Gorch Fock": Bis heute ist umstritten, wie die Sanitätsoffizier-Anwärterin Jenny Böken ums Leben kam (Archivbild).Vergrößern des Bildes
"Gorch Fock": Bis heute ist umstritten, wie die Sanitätsoffizier-Anwärterin Jenny Böken ums Leben kam (Archivbild). (Quelle: Thomas Zimmermann/imago-images-bilder)

2008 starb die Kadettin Jenny Böken bei der Fahrt mit der "Gorch Fock". Ein Unfall laut Bundesmarine. Ein Zeuge spricht nun von Sex und Mord. Möglicherweise ist die "Gorch Fock" ein Tatort.

Blaue See. Blauer Himmel. Blaue Jungs. "Weiß ist das Schiff, das wir lieben", schmettern die Kadetten. Sie sind Statisten in einem PR-Film. Die Bundesmarine lässt ihn für die "Gorch Fock" drehen, ihr Segelschulschiff, das im Herbst 2008 den 50. Geburtstag feiert. Norbert Schatz, der Kapitän des Windjammer, redet in die Kamera von der "Erziehung", die sie an Bord vermitteln und dass "aus Individualisten Teammitglieder werden sollen". Die Bilder zeigen, wie schön das ist. Eine lustige Seefahrt, ein blondes Mädchen im Wind. Die Marine braucht Frauen.

Irgendwann, nicht lange nach dem Dreh, ist ein blondes Mädchen tot. Sie stirbt in den stockdunklen, einsamen Stunden ihrer "Hundewache" vor Mitternacht, nach offiziellen Angaben am 3. September 2008 um 23.43 Uhr. Die Schiffsposition ist da zehn Seemeilen nördlich von Norderney. Jenny Böken steht vorn an der Bugspitze, der sogenannten Back, wo die Reling gerade 30 Zentimeter hoch ist und nach außen abgerundet. Sie trägt weder eine Schwimmweste noch ist sie festgehakt noch verfügt sie über eine Lichtquelle oder einen GPS-Sender. Sie ist allein. In den Unterkünften will man einen Schrei gehört und festgestellt haben, sie habe auch ihre letzte Routinemeldung nicht gegeben. Dann ist Jenny verschwunden.

Zweifel am "Unglücksfall"

Die 18-jährige Offiziersanwärterin sei "unter ungeklärten Umständen über Bord gegangen", heißt es zwei Wochen später in einer Mitteilung des Bundesverteidigungsministeriums. Da hatten Besatzungsmitglieder eines Forschungsschiffes gerade die Leiche geborgen, weit draußen, 120 Kilometer nordwestlich von Helgoland. "Es handelt sich am ehesten um einen Ertrinkungstod", steht später unter dem Obduktionsbericht. Die abschließende Untersuchung der Bundesmarine stellt fest: "Ein tragischer Unglücksfall". Die Akte wird zugeklappt und zur Verschlusssache.

"Unfassbar", sagt Rainer Dietz. Wer mit dem Rechtsanwalt redet, muss sich den Ausdruck nicht nur einmal anhören. Dietz vertritt Jennys Eltern. Der Mittfünfziger klagt für sie durch die Instanzen. Er will, dass herauskommt, was in dieser Nacht vor mehr als zehn Jahren wirklich passierte. War es einfach ein selbst verschuldeter Fehltritt? Ein Anfall von Müdigkeit, wie ihn Jenny wohl krankheitsbedingt nicht selten hatte, sogar bei Schießübungen? Ein Suizid, wie manche mutmaßen? Oder war hinter allem doch ein anderer Wille, ein körperlicher Angriff, ein Stoß oder etwas in einem Getränk, das sie bei zwei Meter hohen Wellen bewusstlos ins kalte Wasser gleiten ließ? Seit einigen Monaten steht das Wort "Mord" im Raum. Dietz hat eine Aussage dazu vorliegen. Die Staatsanwaltschaft in Kiel will den Zeugen befragen.

Früher mal galt die "Fock" als Stolz der Flotte, als letzte Bastion von Abenteuer und Männlichkeit. Man ging rau miteinander um. Heute liegt das Schiff zerlegt im Bremerhavener Trockendock. Die Reparaturkosten haben sich vervielfacht. Ob der Segler je wieder fährt, das ist höchst umstritten. Wahr ist aber auch: Obwohl es nie einen Schuss abfeuern konnte, ist es bisher eines der tödlichsten Marineschiffe. Vier junge Seeleute sind zwischen der Jahrtausendwende und 2010 auf und um seine Planken herum gestorben.

Der Anwalt hat viele offene Fragen

Erst eine Woche vor Jenny Bökens Tod verletzte sich ein Kadett schwer. Zwei Jahre danach kam die 27-jährige Sarah Seele um, als sie vor Brasiliens Küste aus der Takelage fiel. Bei Temperaturen bis 15 Grad gegen alle Vorschriften ohne zusätzliche Sicherungen? Auf "Hundewache" allein? Auf den grauen Kampfeinheiten der deutschen Flotte sind die Sicherheitsregeln strenger als auf dem weißen Segler.

Ging die Führung, nicht nur in diesem Fall, zu leichtfertig mit der Sicherheit der Auszubildenden um? Uwe und Marlies Böken, die Eltern, haben eine lange Liste der Mängel und offenen Fragen zusammengeschrieben. Ihre Jenny, die doch Marineärztin werden wollte und den Armen der Welt helfen, hätte wegen fehlender Bordtauglichkeit gar nicht mitfahren dürfen, sagen sie. Mehrfach habe sich das Mädchen beim Schiffsarzt gemeldet, wegen der Schlafkrankheit. Dessen Mitarbeiterin habe das bestätigt. Der Arzt sagt: Das war nicht so. Die Akten sagen: Nichts. Denn die sogenannte G-Karte, die Auskunft über den Gesundheitszustand gibt, enthält dazu keine Eintragungen. Die Bökens mutmaßen: Sie sind gelöscht worden.

"Unfassbar", wiederholt der Anwalt. Die vielen Widersprüche. Die Pannen und Fehler, die aus seiner Sicht bei der Aufklärung passierten: Die denkbaren Vertuschungen, die im Lauf der Untersuchung aufgetreten sind. Und erst recht das Verschwinden mancher Asservate. Die Frage nach dem Namen der vorgesehenen Ablösung Bökens? Kann die Marine nicht mehr feststellen. Ihr privates Tagebuch? Ist nie wieder aufgetaucht. Die 15 Schlüpfer aus ihrem Kleiderbestand? Sind vernichtet. Der Parka und die Schnürstiefel, die sie auf ihrem letzten Wachgang trug? Die Leiche soll ohne diese Bekleidung geborgen worden sein. Warum wurde nur eine Dreiviertelstunde gesucht, warum wie üblich – nicht der Notruf Mayday abgesetzt, als man das Verschwinden der jungen Frau bemerkt hatte? Und: Stimmt der Todeszeitpunkt überhaupt? Die Drift, die die Leiche weit hinaus in die Nordsee trug, deute eher auf einen früheren hin, meint der Anwalt.

Petition an die schleswig-holsteinische Regierung

Für Dietz wirklich entscheidend sind aber die zahlreichen Ungereimtheiten rund um die Obduktion: Es war kein Seewasser in der Lunge der jungen Frau: "Auch nicht in den zuführenden Organen". Das könnte bedeuten: Jenny war schon tot, als sie von Bord fiel. Auch: Der Sohn des Kieler Rechtsmediziners, der sie obduzierte, hielt sich in der Nacht auf dem Schiff auf, vielleicht nur wenige Meter von der Wachhabenden Böken entfernt. Ist das nicht ein Grund, jeden Obduzenten überall auf der Welt für befangen zu halten? Ein Drogenschnelltest vor der Obduktion ergab Amphetamine im Körper. Der Drogentest während der Obduktion wenig später war dagegen negativ. Kann es eine Erklärung für den Widerspruch geben?

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Die Justiz verteidigt ihre Ermittlungen. So sei zwar richtig, dass der Sohn des Arztes auf dem Schiff war. "Aber es gibt keine Befangenheit." Die Obduktion sei in einem Team von Ärzten und im Beisein der Staatsanwaltschaft erfolgt. Überhaupt: Weder Staatsanwälte noch Gerichte haben bisher einen Grund gesehen, den Fall Böken komplett neu aufzurollen. Die Klagen, Beschwerden und Eingaben von Dietz sind gescheitert, in einem Detail auch vor dem Bundesverfassungsgericht, wo die Rotroben keine Fehler im Ermittlungsverfahren sehen wollten. Nicht einmal eine Petition, gerichtet an die schleswig-holsteinische Landesregierung, hat gewirkt. 140.000 Menschen hatten unterschrieben.

Eine neue Spur?

In der Jahresmitte 2018, um den 10. Todestag herum, meldete sich in Jennys Heimat in Geilenkirchen ein Zeuge. Was er mit einer eidesstattlichen Versicherung versehen berichtet, könnte Licht ins Dunkel bringen – und die Theorie der Streitkräfteführung vom Unfall kippen. Dietz hat mit dem Mann geredet. Er sagt nicht viel über dieses Gespräch.

Der Anwalt will, dass die Staatsanwaltschaft feststellt, was Dietz aus der Zeugenaussage erfahren hat. Vieles bleibt vage. Aber nach dem, was der Anwalt hörte, könnte sich alles ganz anders abgespielt haben. Danach habe 2008, wenige Tage vor dem Auslaufen der "Gorch Fock", die junge Frau in einer Düsseldorfer Privatwohnung mit Kameraden ihren Abschied feiern wollen. An dem Abend sei Alkohol geflossen und es sei unter Alkoholeinfluss zu sexuellen Kontakten untereinander gekommen. Zwischen den Gästen und dem Zeugen und Jenny. Irgendjemand habe das gefilmt.

Doch die Geschichte, die der Zeuge dem Juristen gegenüber umrissen hat, hat laut Anwalt noch einen zweiten Teil. Draußen auf See sei das Filmchen demnach aufgetaucht. Jenny habe gedroht, den ganzen Vorgang zu melden. Sie habe sich auch bei dem Zeugen am Telefon beschwert. Später, einige Zeit nach dem Tod der Offiziersanwärterin, habe der Zeuge in seiner Kaserne Besuch von der Gruppe erhalten, darunter seien wohl auch Besatzungsmitglieder der "Gorch Fock" gewesen. Die Besucher hätten angedeutet, dass Jenny Böken einem Mord zum Opfer gefallen sein könnte.

Totschlag also, vielleicht ein Kapitalverbrechen? Dietz ist anfangs skeptisch. "Warum kommt er mit dieser Aussage erst jetzt?", fragt er sich. Da habe ihm der Besucher erklärt: Er sei 2016 bei der Polizei gewesen. Die habe jedoch kein Interesse gehabt.


Jenny Böken wäre heute 28 Jahre alt. Sie ist auf dem Friedhof von St. Willibrord in Geilenkirchen-Teveren in Nordrhein-Westfalen begraben. Der Grabstein ähnelt in den Umrissen einem Windjammer. Militärdekan Rainer Schadt hatte bei der Beerdigung gesagt, er danke Gott, dass die See den Leichnam wieder hergegeben habe. So sei ihr "angemessen zu gedenken.". Den Angehörigen und ihrem Anwalt reicht das nicht. "Wir wollen wissen, was die Wahrheit ist. Schweigen ist schrecklich."

Verwendete Quellen
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