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Saarbrücken: Warum der Fall Pascal Zimmer bis heute ungeklärt ist


Mord an Pascal Zimmer in Saarbrücken
Am Ende bleibt nur der Verdacht

Von Dietmar Seher

11.08.2019Lesedauer: 7 Min.
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Pascal Zimmer und die ehemalige Tosa-Klause in Saarbrücken: Hier sollen dutzende Männer und Frauen kleine Kinder missbraucht haben.Vergrößern des Bildes
Pascal Zimmer und die ehemalige Tosa-Klause in Saarbrücken: Hier sollen dutzende Männer und Frauen kleine Kinder missbraucht haben. (Quelle: imago-images-bilder)

2001 verschwindet der kleine Pascal. Polizei und Justiz scheitern an der Aufklärung, niemand wird verurteilt. Arbeitet in einem Vorort von Saarbrücken eine Kinderschänderbande?

Ein Junge, sechs Jahre alt, wird in eine fensterlose Kammer geschleppt. Man hält das Kind auf einer Matte fest. Zehn Männer und drei Frauen fallen über ihr Opfer her. Sie missbrauchen es sexuell, mehrfach. Fünf Männer vergewaltigen es. Als der Junge immer lauter schreit und sich wehrt, drückt eine Frau sein Gesicht in ein Kissen. Der Sechsjährige stirbt.

Könnten wir uns ein brutaleres Verbrechen vorstellen?

Der Albtraum: Die Richter, konfrontiert mit dem Verdacht, können nicht belegen, dass die letzten Stunden des kleinen Pascal Zimmer so verlaufen sind, wie sie es von Angeklagten erfahren haben. Sie haben keine Beweise. Und so hält ein weiterer Albtraum bis heute an, die nicht zu beantwortende Frage: Was ist mit Pascal passiert?

14.000 Einwohner hat Burbach. Der Saarbrücker Stadtteil schrumpft seit den 1970er-Jahren. Die Eisenhütte hat zugemacht, die Hochöfen sind stillgelegt. Burbach ist der Arbeitslosen-Hotspot im deutschen Südwesten und, wie es heißt, ein sozialer Brennpunkt. Armut, Gewalt und Alkohol spielen eine Rolle in seinem Alltag. Eine staatliche Gesellschaft bemüht sich heute, dem Ort an den Ufern der Saar mit einer Ansiedlung von Start-up-Firmen neues Leben zu geben. Alles hat sich verändert. Geblieben ist nur der Höhepunkt jedes Jahres im Herbst: Das Oktoberfest.

Pascal ist ein schmal gebauter, hübscher, blonder Sechsjähriger. Eltern und Freunde mögen seine Fröhlichkeit. Am Nachmittag des 30. September 2001, einem Sonntag, setzt er sich auf sein Fahrrad und verlässt das Elternhaus an der belebten Hochstraße. Er will zum Platz, wo das Oktoberfest stattfindet. Zeugen sagen, sie haben das Kind dort gesehen. Eine Budenbesitzerin will ihm noch einen Luftballon geschenkt haben. Danach: Nichts mehr. Keine Spur. Das gelb-blaue Kinderrad? Es ist seit jetzt 18 Jahren verschwunden – so wie der kleine Radfahrer selbst.

"Unbegreifbar", erinnert sich Pascals Tante

Das volle Fahndungsprogramm läuft am Abend seines Verschwindens an. Die Eltern, beide krank, haben zu späterer Stunde die Tante angerufen. Sigrid Hübner, sie ist die jüngere Schwester der Mutter, informiert die Polizei. Hundertschaften durchkämmen die Uferlandschaft, Taucher den Grund der Saar. Hubschrauber sind mit Wärmebildkameras unterwegs. Hunde werden auf die Suche geschickt. Sigrid Hübner zieht am nächsten Tag durch Burbach und zeigt allen auf der Straße das Bild vom Jungen und vom Fahrrad. Sie fragt bang: Habt ihr etwas gesehen? Sie erhält keine Antwort. "Unbegreifbar" sei das alles gewesen, erinnert sich Sigrid Hübner.

Wenig später, im Oktober. Bei Hübner, die Pascals kranken Eltern in diesen schweren Tagen hilft und den Draht zur Polizei hält, stehen Beamte der SoKo Hütte vor der Haustür. Sie berichten von einem Ermittlungsergebnis. Pascals 18 Jahre alte Stiefschwester aus der ersten Ehe des Vaters habe den Jungen im Streit mit einer Eisenstange erschlagen. Zwei andere Mädchen wären dabei gewesen. Man habe das Opfer in der Saar versenkt. Das Trio habe es so gestanden. Schnell stellt sich heraus: Das Geständnis ist falsch. Die drei Teenager hatten dem Druck der stundenlangen Vernehmung nicht standgehalten und die Tötung von Pascal einfach zugegeben. Keiner ahnt: Es ist nur die erste Sackgasse, in die die Ermittlungen geraten.

Nach Missbrauch in Worms: Die Justiz hätte gewarnt sein können

Fahnder berichten immer wieder, wie schwierig Sexualdelikte an Kindern zu klären sind. Aussage steht gegen Aussage. Phantasie-Erinnerungen täuschen das Gedächtnis. Zudem sind Kinder leicht zu beeinflussen, auch ihre Angaben als Zeugen, und manchmal spielt Rache eine Rolle. Deutschlands Justiz hat auf diesem Feld Lehrgeld zahlen müssen – schon mit dem Ausgang des bis dahin größten Missbrauchsverfahrens der Nachkriegszeit, den Wormser Prozessen zwischen 1994 und 1997.

25 Verdächtige waren des massenhaften Kindesmissbrauchs angeklagt. Alle kamen frei. In der Folge brachen Familien und Ehen auseinander, glaubten Kinder den Eltern nie mehr, wurden Leben ruiniert. "Den Massenmissbrauch hat es nie gegeben", begründete der Richter den Freispruch.


Hätten Polizei und Juristen in Saarbrücken, nur wenige Jahre nach dem Debakel im nahen Worms, gewarnt sein müssen? Sie wittern eine belastbare Spur, als ihnen 2002 die Aussage von Kevin vorliegt. Kevin heißt anders, aber der Freund des verschwundenen Pascal muss zunächst geschützt werden. Kevin, 7, berichtet, im Hinterzimmer der Kneipe Tosa-Klause seien er und Pascal missbraucht worden.

Die Klause gehört der hochintelligenten, als Jugendschöffin erfahrenen Christa W.. Sie betreut dort eine Gruppe von Menschen, Männer und Frauen. Viele von ihnen Trinker, mit niedrigem IQ, oft naive Charakter. Auch Kevin hat hier eine Zeit lang gelebt, bevor er einer Pflegemutter gegeben wurde.



Kevins Aussage bringt eine Lawine ins Rollen. Nicht nur Christa W. und Kevins leibliche Mutter Andrea M. müssen in Untersuchungshaft. Auch elf weitere Tosa-Gäste. Einer von ihnen, Peter S., gesteht, Pascal noch am Vormittag des 30. September, dem Tag seines Verschwindens, in der Klause missbraucht zu haben. Das Verfahren gegen S. wird später abgetrennt, er wird zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Nach und nach gestehen auch die anderen, bei solchen Taten mitgemacht zu haben. Polizei und Staatsanwaltschaft bietet sich das Bild eines gewaltigen Massenmissbrauchs mit Todesfolge, ausgeführt in einer hemmungslosen, abgeschlossenen und auch abgehängten Gruppe. Medien nennen sie eine "Kinderschänderbande".

Die Ermittler stecken viel Energie in die Aufklärung. Sie lassen den mutmaßlichen Tatort, das Tosa-Hinterzimmer, in einer leeren Fabrikhalle nachbauen. Sie wird zum Schauplatz, an dem Andrea M. einräumt: Ja, an diesem Septembertag 2001 habe sie nach den Vergewaltigungen durch die Männer – konkreter: als "Martin fertig war" – den Jungen zu beruhigen versucht. Sie habe Pascals Kopf ins Kissen gesteckt. Dann habe der plötzlich aufgehört, zu atmen.

Für die Anklage ist das eine sichere Grundlage, scheint es zunächst. Drei Jahre nach dem Verschwinden beginnt vor dem Landgericht in Saarbrücken im Saal 38 ein nächster Massenprozess. Zehn Männer und drei Frauen der Tosa-Klause sind angeklagt. Sechs müssen sich wegen Mordes verantworten, sieben weitere wegen sexuellen Missbrauchs. In den nächsten drei Jahren wechseln sich erschreckende Einsichten, Berichte vom "Verkauf" von Kindern für 20 D-Mark, von vermeintlichen Videos, Tragik und Dramatik ab. 400 Zeugen werden befragt, 60.000 Aktenseiten gewälzt. Immer wieder geht es um die schlimme soziale Lage vieler Familien in Burbach, um Vernachlässigungen dort und Prostitution.

Mitten im Verfahren sterben Pascals Eltern

Statt der erst geplanten 29 Sitzungstage werden es am Ende 148. Ein Angeklagter versucht, sich in der U-Haft das Leben zu nehmen. Mitten im Verfahren sterben die Eltern von Pascal. Die Mutter überlebt eine Hirnblutung nicht. Sein Vater erleidet 17 Tage danach einen tödlichen Infarkt. Im Prozess aber kommt es am 28. August 2006 zum Paukenschlag.

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Die Angeklagten, denen schon ein Sachverständiger "Empfänglichkeit gegenüber situativen Einflüssen" und einen "krankhaften Zwang zur lügenhaften Übertreibung" bescheinigt hatte, ziehen ihre Geständnisse zurück. Andrea M. tut das zuerst. Dann einer nach dem anderen. Pascal, in der Tosa-Klause? Nie da gewesen. Pascal, am Oktoberfest-Abend missbraucht? Hat es nie gegeben. Pascal erstickt? Nicht hier.

Richtern und Staatsanwälten dämmert jetzt, dass das Verfahren an einem Geburtsfehler leidet. Die Basis, die Aussage der Angeklagten, die vielleicht nur einer Rolle entsprechen wollten, ist binnen Tagen zusammengebrochen – und die Staatsanwaltschaft verfügt über keinen einzigen weiteren harten Beweis. Ob Pascal tot ist oder irgendwo noch lebt? Offen. Es gibt keinen Hinweis auf den Verbleib seines Fahrrades. Nie wurde seine Leiche gefunden, und trotz einer Aussage dazu auch kein Ort, an dem sie abgelegt worden sein könnte.

Nichts belegt, dass Pascal jemals in der Tose-Klause war

Es gibt nicht einmal eine DNA-Spur des Kindes in der Klause, die belegen könnte, dass es überhaupt je da war. Und schon gar nicht die DNA von irgendjemandem auf der Matte, auf der Pascal nach den anfänglichen Aussagen der Angeklagten vergewaltigt und getötet worden sein soll. Das Verfahren steht Mitte 2006 da, wie es begonnen hat: Am 30. September 2001, nachmittags. In seiner Stunde Null.

Richter Ulrich Chudoba spricht die Angeklagten am 7. September 2007 frei. Seine Urteilsbegründung hat einen anderen Tenor. Er glaube, "dass die Angeklagten die Taten höchstwahrscheinlich begangen haben". Vieles spreche dafür, dass es im Umfeld der Tosa-Klause zu Missbrauch gekommen sei und auch zum Tod des kleinen Pascal Zimmer. Doch: "Auf Verdacht darf niemand verurteilt werden".

Hat der Rechtsstaat versagt?

Das Eingeständnis des Gerichts, kein belastbares Urteil fällen zu können, erregt Bevölkerung, Opferverbände, auch die Politik. "Ein schwarzer Tag für kindliche Opfer in Strafverfahren", stellt die Kinderhilfe fest. Von polizeilichen Ermittlungsfehlern ist die Rede. Gab es nicht vorher Hinweise auf eine Kinderhändler-Szene um die Klause? Steckt mehr, ein größerer Ring, dahinter? Was ist aus frühen Bürger-Hinweisen ans Jugendamt geworden? Oder ist der Täter irgendein Unbekannter, die wahre Spur noch gar nicht gefunden? So fragen die Saarländer. Der heutige Außenminister Heiko Maas ist 2007 SPD-Fraktionschef im Saar-Landtag und wütend: "Ich finde die Freisprüche zum Kotzen. Heute haben viele den Glauben an den Rechtsstaat verloren".

Kevin outet sich 2017 vor den Kameras. Den "Kevin" von früher legt er in diesem Moment bewusst ab. Er heißt in Wirklichkeit Bernhard Müller. 2017 ist er 22 Jahre alt. Er trägt eine dunkle Frisur und Brille, als er redet. Müller sagt: Er trauere um den Freund Pascal. Es sei ihm ein Herzensanliegen, sich zu äußern. Der Kernsatz ist ein Echo der Aussage von 2002: "Wir beide wurden in der Tosa-Klause missbraucht".

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