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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Unabsichtlich kann das nicht passiert sein" 260 Tote bei Absturz – war es Terror oder Pilotensuizid?
Hat an Bord von Todesflug AI171 jemand absichtlich die Treibstoffzufuhr unterbrochen? Ein Insider-Bericht deutet darauf hin. t-online hat einen Experten gebeten, die Meldung einzuordnen.
36 Sekunden nach dem Start ist im Juni eine Boeing der Fluggesellschaft Air India auf eine Hochschule mit angeschlossenem Krankenhaus gestürzt. An Bord und am Boden starben insgesamt 260 Menschen – und auf einmal steht Absicht im Raum. War eines der schwersten Flugzeugunglücke der vergangenen Jahre möglicherweise ein Pilotensuizid – oder gar ein Terroranschlag?
30 Tage nach dem Absturz am 12. Juni im indischen Ahmedabad blühen die Spekulationen. Grund dafür ist ein Bericht des Branchenportals "The Air Current". Demnach konzentrieren sich die Ermittlungen nach der Auswertung des Flugdatenschreibers und der Cockpit-Stimmenrekorder auf die Bewegung der Treibstoffregler für die beiden Triebwerke im Cockpit.
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Diese Regler drehen dem Flugzeug den Saft ab
Das Umschalten der Schalter von "RUN" ("An") auf "CUTOFF" ("Aus") während des Flugs würde die Treibstoffzufuhr der Triebwerke sofort unterbrechen und zum totalen Schubverlust führen.
Aber: Diese Regler aus Versehen zu bewegen und somit dem Flugzeug ungewollt den Saft abzudrehen, ist laut Fachleuten praktisch unmöglich. Auch Elmar Giemulla, Experte für Luftverkehrsrecht, Honorarprofessor an der Technischen Universität Berlin und ehemaliges Mitglied des Beirats der Deutschen Flugsicherung, erklärt t-online: "Unabsichtlich kann das nicht passiert sein."
"Das sieht aber auf den Aufnahmen nicht danach aus"
Die Schalter befinden sich laut Giemulla unterhalb des Panels im Cockpit. Will ein Pilot sie betätigen, etwa um im Notfall einem brennenden Triebwerk die Treibstoffzufuhr abzudrehen, muss er sich also auf seinem Sitz bewegen, den Schalter erst leicht hochheben und dann umdrehen.
Im Fall des Air-India-Absturzes hätte ein möglicher Täter beide Schalter für die Triebwerke gleichzeitig bewegen müssen. Denn, erklärt Giemulla: "Jeder Schalter schneidet ein Triebwerk ab." Wäre zuerst nur ein Triebwerk ausgefallen, hätte man das gesehen, argumentiert der Experte. "Die Maschine schiebt dann in eine Richtung. Das sieht aber auf den Aufnahmen nicht danach aus."
"Dann müssten beide Piloten unter einer Decke gesteckt haben"
Sollte tatsächlich jemand beide Schalter auf "CUTOFF" gestellt haben, hätte er laut Giemulla also beide Hände zugleich benutzen müssen. "Das hätte niemals unbemerkt vom anderen Piloten geschehen können", sagt Giemulla. "Und der hätte das sofort als Angriff auf sein Leben aufgefasst und hätte eingegriffen. Das müsste auf dem Stimmenrekorder, der alle Audiodaten aus dem Cockpit mitschneidet, zu hören sein. Man müsste eine Auseinandersetzung oder ein Gerangel hören. Darüber wurde bisher aber nicht berichtet."
Einzige Alternative laut Giemulla: "Dann müssten beide Piloten unter einer Decke gesteckt, zusammengearbeitet und gemeinsam Selbstmord begangen haben." Daran glaube er aber nicht: "Zart ausgedrückt: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ein absichtliches Abschalten der Treibstoffzufuhr – das passt einfach nicht."
These: Der Strom ist ausgefallen
Ziemlich sicher ist sich Giemulla hingegen, dass an Bord etwas passiert sein muss, was auch bei einem beidseitigen Triebwerksversagen geschehen wäre: Der Strom muss ausgefallen sein. Denn erstens ist auf Videoaufnahmen der abstürzenden Maschine zu erkennen, dass die Stauluftturbine (Ram Air Turbine, RAT) am Flugzeug ausgefahren war. Dabei handelt es sich um einen kleinen Propeller, der automatisch im Fall eines Stromausfalls herauskommt, um das Flugzeug mit Notstrom versorgen zu können.
Zweitens zeigen die Bilder vom Absturz, dass das Fahrwerk nur zum Teil eingefahren war. "Den einmal ausgelösten Prozess, das Fahrwerk einzufahren, können die Piloten nicht stoppen", erklärt Giemulla. "Das kann nur passieren, wenn plötzlich der Strom weg ist." Wieso auf einmal der Strom ausfiel, sei aber bisher noch komplett unklar, so der Experte.
Ein "kritisches Flugzeug": Die Historie der Boeing 787
Seine Vermutung: "Es wird noch genauer auf die Historie der 787 zu schauen sein." Bei der zweistrahligen Langstreckenmaschine mit dem Beinamen Dreamliner handele es sich um ein "kritisches Flugzeug". Eine Reihe von Whistleblowern habe Bedenken geäußert, als Boeing diesen Flugzeugtyp entwickelte, baute und 2011 in Dienst stellte. "Die ersten Maschinen mussten alle nachgeprüft werden", erinnert Giemulla. "Es ging um die Frage, ob die verbauten Teile mit den Musterzulassungen übereinstimmten." Die nun abgestürzte Air-India-Maschine sei Flugzeug Nummer 26 gewesen – also einer der ersten Dreamliner überhaupt.
"Im Moment spekulieren wir noch alle", sagt Giemulla. Entsprechend werde der am Freitag erwartete erste Bericht der indischen Flugunfall-Untersuchungsbehörde AAIB zum Todesflug AI171 mit Spannung erwartet: "Mal sehen, was herauskommt."
Hinweis: Falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen, finden Sie hier sofort und anonym Hilfe.
- Gespräch mit Elmar Giemulla