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Debatte um AfD-Verbot: Wozu ist eigentlich die Verfassung da?


Tagesanbruch
Wozu ist eigentlich die Verfassung da?

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 09.02.2024Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Grund zur Freude bei Alice Weidel und Björn Höcke von der AfD: Die Partei verzeichnet derzeit 18 Prozent in Umfragen zur Bundestagswahl.Vergrößern des Bildes
AfD-Bundessprecherin Weidel und der Thüringer Parteichef Höcke: Ist das "schärfste Schwert" der Demokratie, das Parteiverbot, vielleicht doch nicht so scharf? (Quelle: KH/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

erinnern Sie sich noch an die wolkige Phrase "too big to fail" aus der Zeit der Finanzkrise? Ende der Nullerjahre wurden Banken, die durch windige Spekulationen ganze Volkswirtschaften in den Ruin getrieben hatten und nun selbst vor der Pleite standen, mit Milliarden Euro Steuergeldern gerettet. Ausgewählte Zockerinstitute an der Wall Street und der Frankfurter Börse galten plötzlich als "systemrelevant": zu groß, um sie untergehen zu lassen.

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Obwohl gewissenlose Banker und profithungrige Wettbüros das Finanzsystem damals fast zum Einsturz gebracht hatten, wandte man nicht Recht und Gesetz an. Stattdessen wurde ein staatlicher Rettungsschirm aufgespannt, um eine Katastrophe zu verhindern. "Too big to fail" war damals der hippe Anglizismus, der durch die politischen Debatten geisterte und die Vergesellschaftung der Verluste irgendwie zu einem unveränderbaren Naturereignis verklären sollte.

Heute erleben wir eine Art Wiederkehr des "too big to fail", diesmal in Gestalt der AfD. Zwar ist die AfD alles andere als systemrelevant, eher das Gegenteil. Aber bei der Frage, ob man die Partei angesichts zunehmender rechtsradikaler Umtriebe verbieten sollte, blickt so manch ein Politiker mit Sorge auf die möglicherweise gefährlichen Folgen eines AfD-Verbots.

Fünf Wochen ist es her, dass die Republik durch eine Recherche von "Correctiv" von dem Potsdamer Geheimtreffen erfuhr, wo im Beisein von AfD-Politikern Deportationsfantasien diskutiert wurden. Seitdem besteht eine Art politischer Schwebezustand: Die einen fordern mit Verve ein Verbot der Rechtsaußenpartei; die anderen warnen nicht weniger wortgewaltig vor den politischen Konsequenzen eines solchen Schrittes.

Beide Positionen greifen zu kurz – und sind im schlimmsten Fall politisch fahrlässig.

Größtes Problem der Verfechter eines Verbots ist das Timing: Im September wird in Thüringen, Sachsen und Brandenburg gewählt, in allen drei Bundesländern könnte die AfD als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen. Ausgerechnet im Wahljahr ein Verbotsverfahren anzustrengen, gibt der AfD reichlich Futter für ihre Behauptung, die "Altparteien" wollten sich der politischen Konkurrenz entledigen. Vor allem drängt sich die Frage auf, warum die Voraussetzungen für ein Verbot nicht schon viel früher geprüft worden sind, da das Potsdamer Treffen diesbezüglich kaum neue Erkenntnisse erbracht hat (was Ihnen jeder Innenminister bestätigen wird).

Komplizierter wird es aber bei denen, die vor den politischen Folgen eines AfD-Verbots warnen. CDU-Chef Friedrich Merz etwa sagte kürzlich, ein Verbotsverfahren würde zum jetzigen Zeitpunkt die AfD nur noch "in ihrem Opfermythos und in ihrer Märtyrerrolle" bestärken.

Das mag sein. Doch braucht die AfD kein Verbot, um weiter an ihrem Opfermythos zu stricken. Ob die Einstufung mehrerer ihrer Landesverbände als rechtsextrem, die Kritik an der fehlenden Brandmauer zu rechtsradikalen Gruppen oder die Enthüllung über das Potsdamer Deportationstreffen: Die AfD sieht sich permanent als Opfer, sie ist das ideelle Gesamtopfer, das sich ständig von irgendjemandem verfolgt, verleumdet oder ausgegrenzt fühlt – während sie in Wahrheit selbst so viele Menschen ausgrenzt.

Viel wichtiger aber ist doch: Ob eine Partei die Demokratie in Deutschland zertrümmern will, sollte nicht von der Befürchtung abhängig gemacht werden, dass diese Partei sich hinterher als Opfer präsentieren kann. Oder ob es ihr im Wahlkampf hilft. Entscheidend ist doch, ob sie gegen die Verfassung verstößt oder eben nicht. Alles andere ist Beifang. Bei islamistischen Vereinen oder "Reichsbürger"-Gruppen fragen wir doch auch nicht vorher, ob die Extremisten durch ein Verbot noch gestärkt werden, weil sie sich hinterher als Opfer inszenieren können. Das wäre absurd. Hier zählt allein die Frage, ob diese Organisationen gegen die verfassungsmäßige Ordnung arbeiten.

Auch das Grundgesetz kennt beim Thema Parteiverbot keinen Zusatz "nur wenn es politisch nicht mehr schadet als nützt". Im entsprechenden Artikel 21, Absatz 2 heißt es:

"Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig."

Natürlich darf man die möglichen politischen Folgen eines Parteiverbots nicht kleinreden oder ignorieren. So gibt es mittlerweile in ostdeutschen Landesregierungen die Befürchtung, dass ein AfD-Verbot zu gewaltsamen Aufständen führen könnte. Die AfD sei mittlerweile zu groß und zu mächtig, als dass man sie verbieten könne, ohne auch den Frieden im Land zu bedrohen, hört man in Hintergrundrunden.

Eine Sorge, die man nicht leichtfertig wegwischen sollte, die aber dennoch nicht wegweisend sein sollte. Eine Demokratie ist nur dann wehrhaft, wenn sie ihre Rechtsmittel konsequent einsetzt und nicht vor ihren Feinden zurückweicht. Zudem sollte man aufpassen, dass das "schärfste Schwert" der wehrhaften Demokratie (das Parteiverbot), wie gerne gesagt wird, nicht zu ihrem stumpfesten verkommt, weil ständig neue Gründe angeführt werden, warum man es nicht anwenden sollte.

Zur Erinnerung: Die NPD entkam im Jahr 2017 nur deswegen einem Verbot, weil sie zu klein war (eine nicht unumstrittene Entscheidung der Karlsruher Richter). Heute soll die AfD nicht verboten werden, weil sie zu groß ist? Das wäre kaum mehr zu vermitteln.

Klar ist: Ein Parteiverbot hat – zu Recht – hohe Hürden und muss genau abgewogen werden. Erst zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik (1952 und 1956) wurde es erfolgreich ausgesprochen. Umso weniger sollten jetzt politische Prophezeiungen über mögliche Folgen eine Rolle spielen als vielmehr eine präzise Prüfung der Fakten: Ob die AfD an der Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Ordnung arbeitet, soll ausschließlich eine unabhängige Beurteilung von belastbaren und gerichtsfesten Beweisen entscheiden. Ein staubtrockener juristischer Prozess, ohne politisches Störfeuer.

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Daher ist es gut, dass sich die SPD-Innenminister von Bund und Ländern an diesem Freitag zu genau dieser Frage beraten. Neben einem "Aktionsplan gegen Rechtsextremismus" soll es Informationen unserer Redaktion zufolge zudem um die Prüfung eines AfD-Verbots gehen. Wie meine Kollegin Annika Leister und ich berichten, gibt es auch bei den SPD-Ministerinnen und -Ministern durchaus unterschiedliche Positionen. Verkompliziert wird die Debatte noch durch die Ungewissheit, ob für ein Verbot die Bundes-AfD oder nur die als gesichert rechtsextrem eingestuften Landesverbände in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt infrage kämen. Auch hier herrscht selbst bei Experten Unklarheit – nicht zuletzt mangels historischer Präzedenzfälle.

Niemand weiß, was am Ende dieses Prozesses herauskommt. Gut möglich, dass die Innenminister zu dem Schluss kommen, dass die bisher von ihren Verfassungsschutzämtern gesammelten Indizien für ein Verbotsverfahren im Sinne des Grundgesetzes nicht ausreichen.

Sollte das der Fall sein, sollte die AfD-Verbotsdebatte zeitnah beendet werden (während die Ämter im Stillen weiter sammeln). Denn eine Verbotsdiskussion, die nicht von Fakten gedeckt ist, wäre dann tatsächlich nichts weiter als ein kostenloses Wahlkampfgeschenk an die Opferstrategen von der AfD.


Das Schreckgespenst von Minsk

Ob im Geschäftsleben, in der Politik oder im Privatleben: Eine ausgeprägte Fehlerkultur gilt Beratern und Expertinnen der menschlichen Psyche mittlerweile als das Erfolgsgeheimnis schlechthin. Sag' zum Abschied leise sorry – und das System, in dem Sie operieren, wird zu einem lernenden!

Natürlich gibt es auch nicht lernende Systeme. Die Politik ist besonders anfällig dafür, keine Fehler zuzugeben und bloß nicht zu lernen. Es gibt aber auch Mischsysteme. Ein aktuelles Beispiel findet sich im früheren außenpolitischen Berater von Angela Merkel, Christoph Heusgen. Der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz hat diese Woche viel Kritik auf sich gezogen, weil er in einem Interview über den Ukraine-Krieg gesagt hat:

"Es darf nicht so ausgehen wie im Ersten Weltkrieg mit Hunderttausenden von Toten. Es ist deshalb richtig, dass man überlegt, wie man zu einer Verhandlungslösung kommt. Und ich denke, man kann sich dabei durchaus am Minsker Abkommen orientieren", so der frühere Merkel-Berater zu den Funke-Medien.

Ist Heusgen nun ein lernendes System oder nicht? Wahrscheinlich beides. Einerseits hat er es offensichtlich gewagt, seine Position zu ändern. Noch vor einem Jahr forderte er die Bundesregierung auf, bei Waffenlieferungen für Kiew "aufs Ganze" zu gehen. Angesichts der gescheiterten ukrainischen Sommeroffensive, die auch in der Ukraine zu unbequemen Debatten geführt hat, ist es legitim, über neue Strategien nachzudenken.

Andererseits hat Heusgen dafür das wirklich schlechteste Beispiel gewählt: Die Minsker Abkommen, die er damals als Merkels Berater mitverhandelt hat, gelten in der Ukraine als außenpolitischer Sündenfall des Westens. Viele Ukrainer sehen in den Verträgen, die Russland nie ernst genommen hat, eine Ermutigung für Wladimir Putin zu seinem Einmarsch in die Ukraine. Ob Heusgen das nicht wusste oder bewusst ignorierte, ist nicht bekannt. Oder ging es ihm vielleicht am Ende doch vor allem darum, sein politisches Erbe zu verteidigen?


Was steht an?

Der Höhepunkt von Olaf Scholz' Besuch in Washington ist der Termin im Weißen Haus. Mit Präsident Joe Biden spricht er über die Militärhilfe für die Ukraine, den Konflikt im Nahen Osten und den Nato-Gipfel im Sommer. In Zeiten wackeliger US-Solidarität für die Ukraine und eines drohenden Trump-Siegs im November ist die Bedeutung kaum zu überschätzen.


Irans Außenminister wird im Libanon erwartet: Bereits zum dritten Mal nach Ausbruch des Gazakrieges reist Hossein Amirabdollahian nach Beirut. Die einflussreiche libanesische Schiitenorganisation Hisbollah gilt als wichtigster nicht staatlicher Verbündeter Teherans und als williges Werkzeug Irans im Kampf gegen Israel. Die Lage im Nahen Osten bleibt angespannt, seit die palästinensische Terrororganisation Hamas vergangenen Oktober Israel den Krieg erklärt hat.


Lesetipps

Das politische Klima im Land ist aufgeheizt – aber Kanzler und Oppositionschef beharken sich persönlich. Scholz und Merz sollten das bleiben lassen, meint mein Kollege Christoph Schwennicke.


Nicht einmal ein Krisentreffen im Kanzleramt hilft: Die Ampelregierung streitet weiter über CO₂-Grenzwerte für Lkw und Busse. Und blockiert damit eine Entscheidung in der EU, wie mein Kollege Johannes Bebermeier berichtet.


Als erster westlicher TV-Moderator seit Beginn des Ukraine-Krieges durfte Tucker Carlson den russischen Präsidenten Wladimir Putin treffen. Warum das Interview zur politischen Horrorshow geriet und wieso Carlson sich lächerlich machte, erklärt Ihnen unser US-Korrespondent Bastian Brauns.


Die EU konkretisiert ihre Klimaschutzziele und schlägt vor, die Emissionen bis 2040 um 90 Prozent zu reduzieren. Was das für Autofahrer bedeutet, erklärt Ihnen unsere Kolumnistin Sara Schurmann.


Zum Schluss

Darauf haben seine Genossen gewartet: Scholz zeigt Merz dessen Grenzen auf.

Ich wünsche Ihnen einen vergnüglichen Freitag. Morgen kommt der Tagesanbruch wieder von Florian Harms.

Beste Grüße

Ihr

Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro von t-online

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