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Thomas Mann hat was zu sagen


Tagesanbruch
Eine Welt, die nicht mehr schweigt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 04.06.2025Lesedauer: 6 Min.
Der Schriftsteller Thomas Mann im Jahr 1946 neben seiner Tochter Elisabeth.Vergrößern des Bildes
Der Schriftsteller Thomas Mann im Jahr 1946 neben seiner Tochter Elisabeth. (Quelle: ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv/dpa)
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Besondere Anlässe erfordern besondere Worte. Mir liegt es fern, meine Person über Gebühr zu prononcieren, aber der, der für gewöhnlich an dieser Stelle schreibt, hat mich um einige Zeilen gebeten. Es fällt mir schwer und leicht zugleich, der Bitte zu entsprechen. Zum hundertfünfzigsten Mal jährt sich der Tag meiner Geburt am Freitag dieser Woche, zu Lebzeiten feierte ich nicht gern. Anders ist es jetzt, die Dinge fallen leichter hier oben, die Perspektiven wandeln sich. So komme ich dem ungewöhnlichen Gesuch denn nach und ajouriere diesen Morgengruß mit einigen Gedanken zu der Zeit, in der ihr Heutigen lebt.

Es mag vermessen erscheinen – ja, eine Anmaßung gar –, aus jener längst entschwundenen Epoche, in der man noch Telegramme empfing und das Wort "Anstand" eine gewisse Gravität besaß, auf die Gegenwart herabzublicken, gleichsam durch ein Schlüsselloch des Jenseits. Und doch, wenn der Geist noch zu denken vermag, so vermag er auch zu staunen – und, mit leisem Lächeln, zu notieren.

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Was ist dies für ein Jahr, das ihr das Zweitausendfünfundzwanzigste nennt, und das doch so wenig mit der Würde jener Zahl gemein hat! Die Menschheit, so scheint es, hat sich ihrer Ruhe entwöhnt, als sei Ruhe etwas Altväterliches, zu verwerfen wie ein zu eng gewordener Gehrock. An ihre Stelle trat das Dröhnen. Nicht das Dröhnen der Musik, sondern das ständige, schwirrende, sirrende, zischende Raunen und Rufen der sogenannten "sozialen Medien" – ein virtuelles Etablissement, das in Wahrheit mit Sozialität gerade so viel zu tun hat wie ein Kasernenhof mit feiner Konversation.

In diesem Etablissement verbringt die heutige Jugend und verbringen auch allzu viele der Erwachsenen ihre Tage und Nächte. Sie schnattern und gackern, klicken und kommentieren, bejubeln und schmähen – und vergessen kurz darauf schon alles Gesehene und Gesagte. Die Erregung als Dauerzustand hat den europäischen Kontinent befallen, den Globus gar, als sei ein hysterisches Fieber über ihn gekommen. Was einst im Kaffeehaus diskutiert wurde, mit Zigarette und Ironie, wird nun mit einer Daumenbewegung hinausgeschleudert in eine Welt, die nicht mehr schweigt, sondern nur noch sendet.

Niemand bleibt von diesem Getöse ungerührt. Erst recht nicht jene, die ein Amt zu tragen haben. Ich gestehe: Es amüsiert mich, mit welcher Selbstgewissheit moderne Politiker auftreten. Da redet ein Minister – und es ist gleichgültig, welchem Land er entstammt –, als sei er zugleich Weiser, Gaukler und Entertainer. Er balanciert auf dem schmalen Seil der Aufmerksamkeit, immer mit Blick auf das Echo, das sich in Zahlen misst: Ihr nennt es Follower, Klicks, Likes. Ein jedes Wort will gefällig sein, glatt, ein Häppchen, das man in Sekunden konsumiert und in ebenso vielen vergisst. Nichts haftet. Alles gleitet.

Inmitten des Spuks erhebt sich der Schatten des Herrn Trump, dieses Phänomen aus Barock und Burleske, ein Clown mit der Reichweite eines Cäsars. Wieder tönt er, wieder droht er, wieder entgleitet euch die Realität ein Stückchen mehr. Dass dieser Mann, dem seine eigene Grammatik ein Fremdwort ist, erneut Millionen Menschen als Hoffnungsträger gilt – es ist von einer Tragikomik, die selbst Zyniker erröten lassen muss. Das Publikum liebt offensichtlich den Narren, der sich selbst zur Wahrheit erhebt.

Und während im Westen das Spektakel gleißt, erklingt im Osten der dumpfe Takt der Gewalt: Zar Putin, kalt wie sibirischer Frost, zieht Linien auf der Landkarte mit jener finsteren Entschlossenheit, die sich nicht erklärt, sondern nur behauptet. Eine Grausamkeit, nicht aus Leidenschaft geboren, sondern aus jener unterkühlten Berechnung, die mit Achselzucken Städte zerstört, Menschenleben opfert wie Bauern auf einem Schachbrett, das nur er allein sieht. Es ist das alte, hässliche Spiel der totalen Macht – und doch in neuer Maske.

Hier Pest, da Cholera: Wie also soll man sich als heutiger Mensch verhalten? Diese Frage hat mir der, der normalerweise an dieser Stelle schreibt, anlässlich meines Geburtsjubiläums gestellt. Ich vermag sie nicht anders zu beantworten als mit einem Bild: Werdet euch bewusst, ihr Heutigen, ihr steht vor einem Spiegel, digital, verzerrt, hektisch. Ihr schminkt euch mit Meinungen, täuscht euch mit Filtern, sprecht in Kürzeln, schreit in Bildern – und verlernt dabei das Gespräch. Ihr lasst euch ablenken von Clowns, die Präsidenten sein wollen, und ängstigen von Maulhelden, die doch nur Hanswürste sind.

Haltet ein! Besinnt euch auf das, was euren Geist erhebt und vom kalten Stakkato der Algorithmen unterscheidet. Wendet euch einander zu, ohne dieses Ding in der Hand, das ihr Smartphone nennt, und ohne die immerzu flackernden Bildschirme in jedem Wohnsalon. Nehmt ein Buch zur Hand, führt Gespräche und denkt nach. Vergewissert euch der Kraft eurer Gemeinschaft und eurer fabelhaften Demokratie. So werdet ihr feststellen: Es ist ein Ton möglich, der nicht sofort Echo verlangt, sondern Antwort. Damit werdet ihr erstarken.

Mit nachdenklichen Grüßen von droben, jedoch nicht ohne Vergnügen.

Euer Thomas Mann


Außenminister muss antworten

Johann Wadephul ist der erste CDU-Außenminister seit fast 60 Jahren – und angesichts der multiplen internationalen Krisen direkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Der promovierte Jurist aus Schleswig-Holstein reiste bereits in die Ukraine und nach Israel, sondierte kürzlich für Kanzler Friedrich Merz die Stimmungslage in den USA.

Zuletzt allerdings musste er sich von den eigenen Leuten zurückpfeifen lassen: Nachdem er Kritik an der israelischen Kriegsführung im Gazastreifen geübt und eine Überprüfung der deutschen Waffenexporte an Israel angekündigt hatte, hagelte es Zurechtweisungen aus CDU und CSU. Wenn sich der Außenamtschef heute im Bundestag den Fragen der Abgeordneten stellt, wird das Thema sicher zur Sprache kommen.

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Am Nachmittag trifft Wadephul in Berlin seinen polnischen Amtskollegen Radoslaw Sikorski. So erfreulich der Anlass der Begegnung ist – nach sieben Jahren Pause kehrt das Deutsch-Polnische Forum als Konferenzformat zurück –, so bedrückend sind aus proeuropäischer Sicht die schon jetzt absehbaren Folgen der Präsidentschaftswahl in unserem Nachbarland. Nach dem knappen Sieg des Rechtsnationalisten Karol Nawrocki von der oppositionellen PiS-Partei hat Regierungschef Donald Tusk angekündigt, am 11. Juni im Parlament die Vertrauensfrage zu stellen.


Macht Trump ernst?

Man kann ja leicht durcheinanderkommen bei den fortwährenden Zollattacken des freidrehenden US-Präsidenten. Hatte Donald Trump noch vor anderthalb Wochen der EU angedroht, von Juni an Zölle von 50 Prozent des Warenwerts auf sämtliche Importe aus Europa zu verhängen, so lenkte er nach einem Telefonat mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ein und verschob den Termin auf 9. Juli, um mehr Zeit für eine Einigung zu schaffen. Mitten in den laufenden Verhandlungen verkündete er am vergangenen Wochenende allerdings die Verdoppelung der US-Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium von bislang 25 auf 50 Prozent ab dem heutigen Tag.

Ob es wirklich dabei bleibt oder sich der MAGA-Mann einmal mehr einfangen lässt, ist kaum vorherzusagen. Einerseits ist an diesem Mittwoch ein weiteres Treffen zwischen EU-Handelskommissar Maros Sevcovic und dem US-Handelsbeauftragten Jamieson Greer in Paris geplant, andererseits hat die EU ihre Bereitschaft zu Gegenmaßnahmen bekundet. Auf jeden Fall stellt der Handelskonflikt ein weiteres heikles Thema für Friedrich Merz dar, der heute Abend zu seinem Antrittsbesuch nach Washington aufbricht. Meine Kollegen Johannes Bebermeier und Bastian Brauns berichten von den Vorbereitungen zum Termin der Woche. Unser Chefreporter Johannes Bebermeier ist an Bord der Kanzlermaschine und wird auf t-online berichten.


Auf nach Mekka

Jeder fromme Muslim, der gesund ist und es sich leisten kann, soll mindestens einmal im Leben am Hadsch teilnehmen: Die sechstägige Pilgerfahrt nach Mekka gehört zu den fünf Säulen des Islam. Weit über eine Million Gläubige werden dem Gebot ab heute Folge leisten. Weil im vergangenen Jahr mehr als 1.300 Menschen wegen hoher Hitze bei der Wallfahrt ums Leben kamen, hat Saudi-Arabien die Zahl ausländischer Pilger je Land limitiert und rund 270.000 nicht registrierten Gläubigen die Einreise verweigert. Zudem sind Tausende Sanitäter im Einsatz, und auch Künstliche Intelligenz soll bei der Steuerung der Menschenmassen helfen. Über den atemberaubenden Wandel in Saudi-Arabien habe ich hier geschrieben.


Lesetipps

Zwischen 1940 und 1945 richtete sich Thomas Mann im BBC-Radio an die Deutschen. Seine Reden sind ein kraftvolles Zeugnis des Widerstands gegen den Extremismus und ein Appell für die Demokratie – auch heute noch, wie die Kollegen des "Deutschlandfunks" zeigen.


Geert Wilders lässt die niederländische Regierung zerbrechen, das Land taumelt in schwere politische Turbulenzen. Das sollte Deutschland eine Warnung sein, schreibt mein Kollege Patrick Diekmann.


Nach der knappen Niederlage des Liberalen Trzaskowski bei der Präsidentschaftswahl in Polen beginnt die Suche nach den Ursachen. Eine Spur führt nach Berlin, berichtet mein Kollege David Schafbuch.


Hagel, Orkanböen, Superzellen: Süddeutschland muss sich heute für heftige Unwetter wappnen. Auch das Spiel der Fußballnationalmannschaft könnte ins Wasser fallen.


Ohrenschmaus

Draußen Sturm, trotzdem Spaß? Das geht!


Zum Schluss

Ich bedanke mich für die vielen netten Leserzuschriften und wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag. Morgen kommt der Tagesanbruch von Daniel Mützel, am Freitag lesen Sie wieder von mir.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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Mit Material von dpa.

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