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Israel gegen Hisbollah: Unerwartete Wendung im Nahost-Krieg?


Tagesanbruch
Unerwartete Wendung im Nahost-Krieg?

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 27.09.2024Lesedauer: 6 Min.
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Israels Ministerpräsident Netanjahu trifft Soldaten an der Grenze zum Libanon.Vergrößern des Bildes
Israels Ministerpräsident Netanjahu trifft Soldaten an der Grenze zum Libanon. (Quelle: imago images)

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Es gibt kaum etwas Beruhigenderes als die Wiederholung des Altbekannten. Vertraute Worte, tausendmal gehört, lassen die Augenlider müde herabsinken. Das Neue, Unerwartete, Schockierende regt uns auf, weckt Interesse – Routine hingegen schläfert ein. Dabei kann es passieren, dass man etwas Wesentliches verpasst.

Der Libanon steht am Abgrund, im Nahen Osten droht ein neuer Krieg: Wer alt genug ist, hat diese Sätze so oft gehört, dass sie schon fast zu einer lebensbegleitenden Melodie geworden sind. Selbst das Kurzzeitgedächtnis hat den bevorstehenden Untergang längst in die hinteren Hirnschubladen verfrachtet. Wie oft sind wir im vergangenen Jahr vor einem "Flächenbrand" in der Region gewarnt worden, einer "gefährlichen Eskalation?", dem "Pulverfass" "Die Hölle bricht los", wie es UN-Generalsekretär António Guterres diese Woche ausdrückte. Schon der Gedanke ans Zählen dieser Formulierungen macht ein bisschen müde.

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Stimmen aus Israel machen uns aber schlagartig wieder hellwach. Der Oberkommandierende der israelischen Streitkräfte, Generalleutnant Herzi Halevi, hat seinen Soldaten bei einem Truppenbesuch mitgeteilt, ihr Vorstoß in den Südlibanon werde vorbereitet. Die Pressestelle der Armee verbreitete die Szene als Video. Die Hisbollah, die stärkste Armee im Libanon, soll von einer israelischen Bodenoffensive also nicht überrascht, sondern vom Gedanken daran eingeschüchtert werden. Der Showdown steht noch nicht unmittelbar bevor: Das ist die gute Nachricht, aber leider auch die einzige. Denn die Lage verändert sich. Das Erdbeben beginnt nicht sofort – aber es baut sich auf.

Der Eindruck, dass das Beben noch ein bisschen auf sich warten lässt, hängt allerdings stark vom Aufenthaltsort ab. Ferne hilft, Nähe nicht. In der Woche, die jetzt zu Ende geht, haben 90.000 Menschen im Libanon die Flucht ergriffen, und es ist erst Freitag. Im Bombenhagel der israelischen Jets starben an einem einzigen Tag mehr als 550 Menschen, darunter fast 150 Frauen und Kinder. Zahllose Libanesen wissen in ihrer Panik nicht, wohin sie sich noch retten sollen. Tausende Familien sind über die Grenze nach Syrien geflohen. Weil es dort sicherer ist. Das muss man erst mal sacken lassen.

In Israel herrscht ebenfalls Unruhe. Vor knapp einem Jahr, am 7. Oktober 2023, hatten die Horden der Hamas die Grenzzäune des Gazastreifens überwunden und mehr als 1.100 Menschen auf teils bestialische Weise getötet, Frauen vergewaltigt, Unschuldige verschleppt. Als am Tag danach der israelische Gegenangriff auf Gaza begann, eröffnete im Norden die Hisbollah eine zweite Front gegen Israel und ließ dort ihre Raketen niedergehen. Aus der Distanz erscheinen die Attacken aus dem Libanon begrenzt: Es sind symbolische Gesten der Solidarität mit den Palästinensern in Gaza, mehr nicht. Dass Bewaffnete ein paar Mal versuchten, aus dem Libanon in israelische Siedlungen vorzudringen, ist im Ausland kaum wahrgenommen worden, so kläglich scheiterten die Attacken.

Doch wer nahe der Grenze wohnt, hat bei dem Gedanken, schwer bewaffnete Hisbollah-Kämpfer könnten plötzlich die Straße herunterkommen, sofort den Horror des 7. Oktobers im Kopf. Das Massaker bleibt ein Trauma für die Nation. Jederzeit kann im Norden Israels eine Rakete vor der eigenen Haustür einschlagen – oder im Wohnzimmer. Kinder versammeln sich in Bunkern zum Schulunterricht. Das ist kein Leben, sondern ein Albtraum. Mehr als 60.000 Israelis packten ein, was sie konnten, und flohen aus dem Norden.

Der Wunsch, die unerträglichen Verhältnisse zu beenden, müsste beide Seiten eigentlich zusammenbringen, aber das Gegenteil ist der Fall. Es ist gegenwärtig schwer zu sagen, ob die Israelis mit ihren verstärkten Angriffen auf die Hisbollah einem Plan folgen oder nur die Gunst der Stunde nutzen. Einerseits wäre es denkbar, dass Premier Benjamin Netanjahu und sein Generalstab den Konflikt schrittweise eskalieren, um der Terrortruppe eine unmissverständliche Botschaft nahezubringen: dass sie für den Beschuss Nordisraels einen Preis zahlen muss, der zu hoch für sie ist. Andererseits ist die feinsinnige Unterscheidung zwischen dem Schlagabtausch, der seit einem Jahr andauert, und einem Krieg, der daraus erwachsen könnte, nur im bequemen Sessel weitab der Kampfzone möglich. Vor Ort ist der Krieg schon längst im Gange. Und wenn der Feind im Krieg sich eine Blöße gibt, dann schlägt man zu – ob mit oder ohne ausgefeilten Masterplan.

Nach den Blößen muss man nicht mehr suchen: Die Hisbollah taumelt wie nie zuvor. Die explodierenden Pager und Funkgeräte der vergangenen Woche haben die interne Kommunikation der Truppe ruiniert. Seitdem hat Israel durch gezielte Luftschläge wesentliche Teile der Hisbollah-Führungsstruktur ausgeschaltet. Zugleich zerstörten israelische Bomben binnen wenigen Tagen einen erheblichen Teil des Waffenarsenals. Beim wichtigsten Verbündeten, den iranischen Revolutionsgarden, herrscht ebenfalls Panik. Auch hier: flächendeckende Verbote für die Nutzung von Kommunikationstechnik, bis die Geräteberge auf israelische Manipulation und auf Sprengstoff untersucht worden sind. Zugleich läuft eine großangelegte Überprüfung des Spitzenpersonals auf mögliche Spione. Auch im Iran scheint sich der Eindruck verdichtet zu haben, dass der israelische Geheimdienst Mossad über tiefe Einblicke verfügt und die Panzerschränke mit den Schlachtplänen gläsern geworden sind.

An dieser Stelle darf ich Sie nun doch mit einer guten Nachricht überraschen. Jahrzehntelang hat der Iran die libanesische Hisbollah aufgepäppelt und zu einer Armee geformt, vor der die Generäle in Tel Aviv gehörigen Respekt haben. Sollte Israel es wagen, den Iran mit einem schweren Schlag anzugreifen – insbesondere um das iranische Nuklearprogramm zu stoppen – käme der Gegenschlag aus dem Libanon direkt von nebenan. Die Hisbollah ist aus Teheraner Sicht ein Abschreckungsinstrument ... gewesen, muss man hinzufügen, wenn der Konflikt noch lange so weitergeht. Das macht selbst die härtesten Hardliner im Iran nervös.

Aus Teheran ist deshalb erheblicher Druck zu erwarten, dass die Hisbollah einer Verhandlungslösung zustimmt – Gesichtsverlust hin oder her. Am selben Strang zieht ausgerechnet das Weiße Haus. Eine weitere Katastrophe wie den Gaza-Krieg kann man in Washington so kurz vor der Präsidentschaftswahl überhaupt nicht gebrauchen: Die Demokraten streiten darüber, wie man mit Israel umgehen soll, und Trump ist der lachende Dritte? Das fehlte gerade noch.

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Die Erzfeinde Israel und Hisbollah könnten sich deshalb notgedrungen in einer Allianz als Friedensengel wiederfinden. Überraschend? Gewiss. Der Nahe Osten hat so manche unerwartete Wendung zu bieten. Die Menschen in der Region hätten verdient, dass es endlich eine gute ist.


So geht's nicht

Am Tag danach herrscht Katerstimmung in Erfurt: Mehrere Stunden dauerte es gestern, bis der Landtag von Thüringen in seiner konstituierenden Sitzung … nichts beschloss. AfD-Rechtsextremisten und Abgeordnete von CDU und Linkspartei blockierten sich gegenseitig, nun muss das Landesverfassungsgericht entscheiden, wie es weitergeht. "Das also ist der Mix, der Thüringen jetzt das Unheil bringt: Eine Mischung aus Faulheit, Hochmut und Fahrlässigkeit auf der Seite der etablierten Parteien und ein unbedingter Wille zur Macht auf Seite der AfD", meint unsere Reporterin Annika Leister.


Benvenuto!

Sergio Mattarella ist der angesehenste Politiker Italiens. Heute besucht der Staatspräsident gemeinsam mit seiner Tochter Berlin: Am Morgen empfängt ihn sein Freund Frank-Walter Steinmeier, dann geht’s weiter zu Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner und Kanzler Olaf Scholz, bevor ein Staatsbankett im Schloss Bellevue wartet. Der 83-jährige Mattarella hat Italien mehrfach durch heikle Krisen gelotst, ist ein felsenfester Demokrat und macht sich für den Klimaschutz stark. Benvenuto, Signor Presidente!


Da geht was

Apropos Klimaschutz: Der geht allen Unkenrufen zum Trotz stetig voran. Heute ist der Baubeginn von SuedLink, dem größten Infrastrukturprojekt der Energiewende: Zwei Leitungen sollen Windkraft-Strom aus Norddeutschland 700 Kilometer südlich nach Bayern und Baden-Württemberg transportieren. Die Ampelkoalition hat das Mammutvorhaben beschleunigt, nachdem Merkels Vorgängerregierungen es jahrelang verschoben hatten.


Sorgen um die Ukraine

In New York geht die Generaldebatte der Vereinten Nationen weiter. 330 Kilometer südlich hat der ukrainische Präsident Selenskyj in Washington seinen "Siegesplan" vorgestellt. Wobei "Sieg" wohl nur noch ein Wunsch ist: Dem ukrainischen Widerstand droht der Kollaps, berichtet unser Reporter Patrick Diekmann.


Sturm von rechts

In Österreich veranstalten die Parteien ihre Abschlusskundgebungen vor der Nationalratswahl am Sonntag. Die rechte FPÖ liegt in den Umfragen vorn und könnte erstmals siegen. Das hat viel mit dem stramm rechten Parteichef Herbert Kickl zu tun, den Ihnen mein Kollege David Schafbuch vorstellt.


Bild des Tages

13 Jahre lang arbeiteten Astronomen an einer umfangreichen Karte der Milchstraße. Jetzt haben sie spektakuläre Aufnahmen veröffentlicht.


Ohrenschmaus

Lady Gaga ist nicht nur eine große Bühnenkünstlerin, sondern auch eine große Songwriterin. Heute veröffentlicht sie ihr neues Album. Bis dahin vertreiben wir uns die Zeit mit ihrem vielleicht besten Lied.


Lesetipps

Es ist eines der größten Projekte der Ampelkoalition: Heute berät der Bundestag erstmals das Rentenpaket. Dabei zeichnet sich ein Problem ab, berichten unsere Reporter Daniel Mützel und Florian Schmidt.


Kremlchef Putin hat die russische Atomdoktrin verändert – wächst die Gefahr eines nuklearen Angriffs? Mein Kollege Christoph Cöln beleuchtet die Hintergründe.




Zum Schluss

Das deutsche Talkshow-Niveau nähert sich dem Tiefpunkt.

Ich wünsche Ihnen einen geistreichen Tag. Morgen sprechen wir im Podcast mit dem Israel-Korrespondenten Richard Schneider über die Aussichten im Nahen Osten.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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