Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Merz im Angesicht des Verbrechens

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Es fällt mir nicht leicht, aber heute möchte ich Sie auf einen Friedhof mitnehmen: weiße Stelen, wohin das Auge reicht. Gegenüber liegt eine verlassene Fabrik. Es gab eine Zeit, da waren auf diesem Fabrikgelände Tausende Menschen zusammengepfercht. Zwischen ihnen liefen überforderte Soldaten hin und her. Alle standen unter Stress, immer wieder brach Panik aus. Denn der Feind rückte heran – und traf auf keinen Widerstand. Panzer rollten in den Ort, Kämpfer sprangen von Lastwagen und übernahmen das Kommando. Viele von jenen, die damals angsterfüllt in der Fabrik festsaßen, befinden sich jetzt auf der anderen Straßenseite: unter einer der weißen Stelen. Jedenfalls dann, wenn man wenigstens ein paar Knochen von ihnen gefunden hat.
Auf dem Friedhof, der sich im Süden Europas an bewaldete Hügel schmiegt, fällt etwas auf: Abertausende Stelen gibt es dort, aber nur auf einer entdeckt man ein Kreuz. Es markiert das Grab des einzigen Christen unter all den Toten. Er arbeitete für das Rote Kreuz, und seine Leiche fand man – so wie viele andere – erst Jahre nach dem Massaker. Überall in der Gegend haben Suchtrupps Massengräber entdeckt. Heute reden die Leute dort nicht gern darüber. Auch sie sind Christen. Sie haben mitgemacht, damals, als die Soldaten einmarschierten. Unter den Stelen, bis auf die eine mit dem Kreuz, liegen ausschließlich: Muslime.
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Diese Woche ist es dreißig Jahre her, dass die UN-Schutzzone von Srebrenica, in der Tausende Menschen vor mordenden Milizen Zuflucht finden sollten, in die Hände bosnischer Serben fiel. Das anschließende Gemetzel hält bis heute den furchtbaren Rekord als größtes Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Um so einfach wie möglich morden zu können, erzählten die Schlächter ihren Opfern, diesen werde nichts geschehen, wenn sie nur den Anordnungen Folge leisten und in bereitgestellte Busse steigen würden. Wer es glaubte, endete in einem Schuppen, in den Handgranaten hineinflogen, oder vor einem frisch ausgehobenen Graben, in dem schon andere Körper lagen. Dann peitschten Schüsse. Aber auch von denen, die durch den Wald zu fliehen versuchten, liegen viele heute unter den Stelen.
Der Massenmord von Srebrenica war keine Ausnahme, sondern der Höhepunkt einer jahrelangen Kampagne. Nichts, was dort vor sich ging, kam aus heiterem Himmel. Alle wussten, was mit den bosnischen Muslimen geschah. Deren Hauptstadt Sarajevo lag im Würgegriff einer Belagerung, Scharfschützen erschossen Frauen und Kinder, es gab Konzentrationslager, Vergewaltigungszentren und Leichen, die in Flüssen trieben.
Jahrelang waren Nachrichten über diese Gewalttaten durchgesickert. Auch französische und britische Soldaten hatten zu spüren bekommen, dass die wenigen im Krieg geltenden Regeln längst ignoriert wurden. Sie hielten sich als Friedenstruppe zur Deeskalation in Bosnien auf – eigentlich. Doch Milizen bosnischer Serben nahmen Hunderte von ihnen als Geiseln und missbrauchten sie als menschliche Schutzschilde für ihre Stellungen. Kurzum: Man sah, was vor sich ging.
Doch der Westen hielt still. Bis heute ist umstritten, wer wann wie viel von dem bevorstehenden Ansturm auf die umzingelte Schutzzone wusste. Unübersehbar ist jedoch, wie entschlossen Politiker in Washington, London, Paris und Berlin die Zeichen an der Wand ignorierten. Nicht nur die Vereinten Nationen hatten schon zwei Jahre vor den Ereignissen vor einem möglichen Massaker gewarnt, falls Srebrenica fallen sollte. Der Anführer der bosnischen Serben, der Kriegsverbrecher Radovan Karadžić, hatte aus seinem Plan keinen Hehl gemacht: Das Blut werde "bis zu den Knien" reichen, wenn seine Truppen die Enklave einnähmen, verkündete er. Man hätte nur zuhören und die Warnungen ernst nehmen müssen.
Der brutale Konflikt auf dem Balkan entfaltete in der arabischen Welt eine Wucht, die im Westen lange unterschätzt worden ist. Ob in Casablanca, Kairo oder Riad: Millionen Menschen begannen sich zu fragen, ob es vielleicht zwei Arten von Massakern gibt – die, gegen die der Westen einschreitet, und die an Muslimen. Der verheerende Eindruck der Heuchelei hat nicht nur Terrorgruppen wie al-Qaida Zulauf verschafft, sondern auch unbescholtene muslimische Durchschnittsbürger von Europa und Amerika entfremdet. Denn im Westen bekamen sie nur Unwürdiges zu sehen: das Stillhalten, die Plan- und Interesselosigkeit, den Rückzug auf Lippenbekenntnisse.
Dieses Muster ist bis heute dasselbe. Dreißig Jahre nach dem Tiefpunkt auf dem Balkan, wo die Menschenwürde mit den Füßen getreten wurde, das Töten von Zivilisten kein Ende nahm und der Westen zusah, haben wir Europäer nichts gelernt. Für diese Erkenntnis genügt ein Blick in die aktuellen Nachrichten. Menschen, die beim Essenholen im Kugelhagel sterben: werden auch heute mit einer wohlfeilen Protestnote abgehakt. Ein Verteidigungsminister, der ausspricht, was er vorhat, nämlich Zigtausende Zivilisten im Operationsgebiet seiner Armee auf einem kleinen Areal zusammenzupferchen: So geschehen am vergangenen Montag. Nach Vorstellung dieses Ministers darf aus dem "Lager" niemand wieder heraus – außer jenen, die bereit sind, das Land zu verlassen. Ethnische Säuberungen nennt man das. Nicht nur damals in Bosnien, auch heute im Gazastreifen.
Das Leid der Palästinenser schreit zum Himmel: Familienväter werden von Schrapnellen zerfetzt und Kinder verstümmelt, Babys verhungern in den Armen ihrer Mütter. Einer unabhängigen Studie zufolge sind schon mehr als 80.000 Palästinenser im Gazastreifen getötet worden. Städte wurden zu Schutthaufen zerbombt, Abertausende Familien haben ihr Hab und Gut verloren. Die israelische Regierung hat den Krieg gegen die Hamas-Terroristen zwar zur Selbstverteidigung begonnen, ist aber längst selbst zur Täterin geworden. Ministerpräsident Netanjahu, seine Minister und Generäle begehen täglich Kriegsverbrechen – und können einfach weitermachen. Bisher hat der Druck europäischer Politiker keine Größenordnung erreicht, die vor Ort irgendetwas bewegt.
Dabei gäbe es Optionen: Die EU ist die größte Handelspartnerin Israels und könnte das Assoziierungsabkommen, von dem israelische Firmen bei Geschäften mit Europa profitieren, aussetzen oder zumindest einschränken. Staaten wie Frankreich sind dafür – doch Bundeskanzler Friedrich Merz verhindert es mit seinem Veto. Damit machen sich er, seine Regierung und letztlich ganz Deutschland mitschuldig an dem Grauen in Gaza, so kann man es sehen. Begehen durch Unterlassen heißt das im deutschen Strafgesetzbuch.
Die deutsche Schuld am Holocaust darf keine Ausrede sein, die Verbrechen der israelischen Regierung zu decken: Dass der Kanzler diese simple Wahrheit nicht anerkennt oder nicht anerkennen will, lässt ihn kaltblütig erscheinen. Er verstehe nicht mehr, "mit welchem Ziel" Israel in Gaza vorgehe, sagte Merz kürzlich. Was gibt es angesichts ethnischer Säuberungen nicht zu verstehen?
Die Lehren der Vergangenheit sind glasklar: Wenn das, was eine Kriegspartei tut, die Schwelle zum Verbrechen überschreitet, darf man nicht länger zusehen. Dann reichen auch tadelnde Worte nicht. Wenn man handeln kann, muss man es tun. In Gaza ist es allerhöchste Zeit.
Grummeln in der EU
Nein, Ursula von der Leyen wird heute nicht ihr Amt verlieren. Dass der Misstrauensantrag gegen die Kommissionspräsidentin, den ein rechtsradikaler rumänischer Abgeordneter von der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer auf den Weg gebracht hat, heute Morgen im EU-Parlament in Straßburg die nötige Zweidrittelmehrheit findet, darf als ausgeschlossen gelten. Vor allem Extremisten wie die "Patrioten", die von Marine Le Pen und Viktor Orbán angeführt werden, unterstützen die Initiative, die von der Leyens spärliche Kommunikation über ihre Impfstoffbeschaffung während der Corona-Pandemie anprangert. Deutscherseits sind AfD und BSW dabei.
Bemerkenswert ist die Abstimmung dennoch, denn sie offenbart ein beträchtliches Grummeln auch in der Mitte des Parteienspektrums. So werfen prominente Sozialdemokraten, Liberale und Grüne der CDU-Politikerin das Paktieren mit Rechtspopulisten wie Giorgia Meloni und eine Abkehr von den Klimazielen des Green Deal vor. Hinzu kommt eine steigende Nervosität angesichts der bislang ergebnislosen EU-Verhandlungen im Zollstreit mit US-Präsident Donald Trump. Bleibt zu hoffen, dass die Pro-Europäer die Abstimmung als Weckruf erkennen, um sich anschließend zusammenzuraufen. Nach der Sommerpause stehen Verhandlungen über wichtige Klima- und Migrationsgesetze an.
Ukraine-Konferenz in Rom
Während die Ukraine von Russland mit gnadenlosen Raketenangriffen überzogen wird, gibt es heute immerhin auch ein paar gute Nachrichten für das kriegsgebeutelte Land. Sogar Donald Trump scheint allmählich zu ahnen, dass er von seinem Kumpel Putin nur hingehalten wird – und hat die zwischenzeitlich gestoppte Lieferung zugesagter Verteidigungswaffen wieder freigegeben. In London laden der britische Premier Keir Starmer und der französische Präsident Emmanuel Macron die "Koalition der Willigen" zur Videoschalte ein. Und in Rom beginnt die vierte Ukraine-Wiederaufbaukonferenz, bei der es darum geht, wie sich die Reparatur zerstörter Infrastruktur schon jetzt unterstützen lässt. Sowohl Kanzler Merz als auch Wolodymyr Selenskyj reisen an. Im Vorfeld hat der ukrainische Präsident Papst Leo XIV. getroffen.
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Zum Schluss
Bundestagsdebatten haben Folgen.
Ich wünsche Ihnen einen friedlichen Tag. Morgen schreibt Christine Holthoff den Tagesanbruch, von mir hören Sie am Samstag wieder.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.