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Nord Stream 1: Die fünf Kapitel von Putins Turbinen-Märchen


Gaslieferung
Die fünf Kapitel von Putins Turbinen-Märchen

  • Lars Wienand
Von Lars Wienand

Aktualisiert am 08.09.2022Lesedauer: 4 Min.
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Putin und die Technik: Der russische Präsident liefert haarsträubende Erklärungen, warum Gas nicht fließt.Vergrößern des Bildes
Putin und die Technik: Der russische Präsident liefert haarsträubende Erklärungen, warum Gas nicht fließt. (Quelle: IMAGO/Reichwein via REUTERS Montage: U.Frey / t-online)

Bei einer Rede in Wladiwostok hat Putin erklärt, warum kein Gas mehr durch Nord Stream 1 fließt. Mit der Wahrheit hat das wenig zu tun.

Noch kleiner als sonst wirkte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), als er sich am 3. August vor der 12 Meter langen und 20 Tonnen schweren Gasturbine in Mülheim an der Ruhr ablichten ließ. Das Bild sollte zeigen, dass sich der Westen nicht von Putin würde spalten lassen. Kanada hatte die reparierte Turbine trotz Ausfuhrstopp nach Deutschland geliefert.

Wladimir Putin hat das Bild offenbar gesehen. "Sie können so viele Fotos vor dem Hintergrund der Turbine machen, wie Sie möchten", giftete der russische Präsident am Mittwoch bei einem Wirtschaftsforum im russischen Wladiwostok, "aber das ist unser Eigentum." Die Aussage ist die Fortsetzung von Russlands Märchen zur Gaslieferung.

Denn Putin behauptete wieder einmal, dass es allein an der Technik liege, dass kein Gas durch Nord Stream 1 fließt: "Gebt uns eine Turbine, und morgen stellen wir Nord Stream 1 wieder an", sagte Putin. "Sie geben uns nichts." Dabei gibt es keinen neuen Stand: Siemens Energy wartet, dass Russland die Turbine abnimmt – und westliche Experten können nicht nachvollziehen, warum Gas nicht auch ohne sie durch Nord Stream 1 fließen sollte. Wie vorgeschoben die Gründe erscheinen, zeigt der Blick auf die Argumente.

Streitpunkt 1, die angeblich vorenthaltene Turbine: Sie war schon vor dem Krieg zur Wartung nach Kanada transportiert worden, wurde von dort dann nach Deutschland gebracht. Der Transport ist nach Darstellung von Siemens Energy eigentlich Sache des Auftraggebers – Gazprom. Siemens Energy hatte sie aber selbst nach Deutschland bringen lassen, weil das für Gazprom angesichts der Sanktionen nicht zu organisieren gewesen wäre. Mit der Lieferung der Turbine wollte Scholz "Putins Bluff auffliegen lassen", hatte der Bundeskanzler der kanadischen Zeitung "The Globe and Mail" gesagt. "Er kann keine technischen Gründe mehr für ausbleibende Gaslieferungen ins Feld führen."

Das macht Putin aber weiterhin unverdrossen: Russland verweigert die Annahme der Turbine, die in Mülheim seit Wochen zum Abtransport bereitliegt. Per Lkw soll sie nach Russland gefahren werden, alle Länder auf der Route haben nach Darstellung deutscher Regierungsstellen das Okay gegeben. Offenbar fehlt eine Unterschrift aus Russland zu einer Vertragsänderung, damit es auch losgehen kann. Was Russland stört, ist nicht klar. Ein Punkt könnte die russische Sorge sein, nicht länger mit der Technik versorgt zu werden, wenn Europa das russische Gas nicht mehr dringend braucht.

Streitpunkt 2 – die zentrale Rolle der Mülheimer Turbine: Die Turbine gehört zur Kompressorstation Portowaja, die der Pipeline vorgelagert ist. Dort gibt es eigentlich sechs Turbinen des Typs A65. Eine ist in Mülheim. Auch ohne sie könnten eigentlich 100 Prozent fließen – dafür reichen fünf laufende Turbinen. "In der Verdichterstation stehen genügend zusätzliche Turbinen für den Betrieb von Nord Stream 1 zur Verfügung", sagte ein Sprecher des Unternehmens der Agentur Reuters.

Zuletzt ließ Gazprom nur noch eine laufen, folgerichtig floss rund ein Fünftel des Gases. Jetzt läuft auch die nicht mehr. Warum die anderen in den vergangenen Wochen nicht liefen, ist nicht nachvollziehbar. Bei einer war geplant, dass sie Ende Juli zur Wartung nach Kanada gebracht wird – eigentlich, wenn die Mülheimer Turbine zurück ist. Von einer hieß es, es habe sich ein Teil der Innenverkleidung gelöst. Das erklärt aber nicht, warum keine mehr läuft.

Streitpunkt 3 – die Rolle der letzten Turbine: Seit ein paar Tagen geht nichts mehr, weil die letzte betriebene Turbine zur Wartung ausgeschaltet wurde und der Gashahn zugedreht. Sie wird aber bisher nicht mehr in Betrieb genommen. Grund dafür sei der Austritt von Motorenöl an einer Stelle, so das offizielle Statement von Gazprom. Es drohe Explosionsgefahr, da dürfe die Anlage nicht mehr betrieben werden.

Nur: Siemens Energy stellt das als Lappalie dar, die keine Gefahr für den Betrieb bedeute. Auch in der Vergangenheit sei schon mal Öl ausgetreten, ohne dass dies gravierende Folgen gehabt hätte. Das Problem sei auch schnell behoben worden. Dass es diesmal nicht weiterging, hat auch mit der russischen Aufsichtsbehörde Rostechnadsor zu tun: Die habe den Weiterbetrieb untersagt, erklärte Gazprom. So ließen die "festgestellten Fehler und Schäden einen sicheren, unfallfreien Betrieb des Gasturbinentriebwerks nicht zu". Es handele sich um einen "Konstruktionsfehler" – damit werden dann gleich alle Turbinen für unbrauchbar erklärt.

Streitpunkt 4 – die Rolle von Siemens Energy: Vitaly Markelov, Vizechef von Gazprom, hatte Putins Märchenstunde auf dem Wirtschaftsforum mit einer eigenen fantasiereichen Erzählung vorbereitet: Wann Gas fließe, müsse man Siemens fragen. "Die müssen erst einmal reparieren", sagte er Reuters in Wladiwostok am Dienstag einen Tag vor dem Putin-Auftritt.

Siemens Energy hat aber offenbar gar keinen Auftrag, weder zu Reparaturen vor Ort noch zur Wartung der Anlagen in Kanada. Das muss offenbar einzeln beauftragt werden. Von Gazprom gab es am Wochenende noch einmal eine ganz andere Darstellung: Im Telegram-Kanal des Gas-Riesen hieß es: "Siemens beteiligt sich an Reparaturarbeiten gemäß dem aktuellen Vertrag, stellt Störungen fest … und ist bereit, die Öllecks zu beheben." Es gebe aber keinen Ort, an dem die Reparatur durchgeführt werden könne.

Streitpunkt 5 – die Sanktionen: Präsidentensprecher Peskow erklärte, Russland wisse nicht, wie die Reparaturarbeiten durchgeführt werden sollen, "weil die Sanktionen dies verhindern". Das Argument bezieht sich auf die Turbine in Mülheim: Russland erklärt, es fehle eine Bestätigung, dass die Technik, die Deutschland trotz Sanktionen bereitwillig liefern will, nicht von Sanktionen betroffen ist. Dabei hat Kanadas Außenministerin Melanie Joly gerade noch einmal erklärt: Wenn Turbinen zur Wartung kommen, werden sie an Russland zurückgeliefert. "Kanada will Putin keine Entschuldigung dafür geben, den Energiefluss nach Europa weiter als Waffe zu nutzen", sagte sie dem Sender CBC.

Verwendete Quellen
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