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Ukraine: Was steckt hinter den "schmutzigen Bomben"-Vorwürfen aus Russland?


Russlands Vorwurf der schmutzigen Bomben
"Dahinter steckt gewaltiges Eskalationspotenzial"

InterviewVon Liesa Wölm

Aktualisiert am 24.10.2022Lesedauer: 4 Min.
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Russische Soldaten bei einer Übung (Archivbild): Der Kreml beschuldigt seinen Gegner, schmutzige Bomben zu bauen.Vergrößern des Bildes
Russische Soldaten bei einer Übung (Archivbild): Der Kreml beschuldigt seinen Gegner, schmutzige Bomben zu bauen. (Quelle: Lev Fedoseyev/imago images)

Russland beschuldigt die Ukraine, schmutzige Bomben zu bauen. Stimmt das – oder handelt es sich erneut um eine Propagandamasche des Kremls? Ein Experte klärt auf.

Der Ausdruck "schmutzige Bombe" beherrschte am Sonntag und Montag die Schlagzeilen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Eine schmutzige Bombe – handelt es sich dabei wortwörtlich um dreckigen Sprengstoff? Oder steckt viel mehr dahinter?

"Die russischen Lügen über angebliche Pläne der Ukraine, eine 'schmutzige Bombe' zu nutzen, sind so absurd, wie sie gefährlich sind", schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Sonntagabend auf Twitter. Zuvor hatte Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu behauptet, Kiew wolle eine radioaktive Bombe zünden und dann Moskau dafür anschuldigen. Die Ukraine sei "in der abschließenden Phase" der Herstellung, erklärte am Montag Generalleutnant Igor Kirillow, der in der russischen Armee für radioaktive, biologische und chemische Substanzen zuständig ist.

Die westlichen Atommächte Frankreich, Großbritannien und die USA wiesen Russlands Behauptung zurück. Es gebe keine Anzeichen dafür, dass die Ukraine auf ihrem eigenen Gebiet eine nuklear verseuchte Bombe zünden wolle.

Was ist nun dran an den Vorwürfen? Wäre die Ukraine überhaupt in der Lage, eine schmutzige Bombe herzustellen? Und welche Folgen hätte der Einsatz einer solchen Waffe? Im Gespräch mit t-online beantwortet Chemiewaffen-Experte Marc-Michael Blum die wichtigsten Fragen.

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t-online: Russland wirft der Ukraine vor, schmutzige Bomben im Krieg einsetzen zu wollen. Aber was ist das überhaupt?

Marc-Michael Blum: Eine schmutzige Bombe ist eine radiologische Waffe, keine Atombombe. Im Gegensatz zu Nuklearwaffen findet hier keine Kernspaltung statt – es handelt sich um eine konventionelle Bombe mit gewöhnlichen Explosivstoffen, denen allerdings radioaktive Substanzen beigemengt sind. Das Ziel: radioaktives Material mithilfe einer normalen Explosion weit zu verteilen. In der Größenordnung und Gefährlichkeit besteht ein massiver Unterschied zwischen Atomwaffen und einer schmutzigen Bombe.

Wie gefährlich kann eine schmutzige Bombe dennoch sein?

In erster Linie gehen die Gefahren von der eigentlichen Bombe aus. Erst an zweiter Stelle bergen auch die radioaktiven Substanzen ein Risiko, die durch die Detonation verteilt werden. Wie gefährlich diese sind, kommt auf die jeweilige Substanz, die Art der Strahlung und die Menge des verteilten Materials an. Mit einer kleinen Bombe, etwa einer Autobombe, könnte man den Sprengstoff über mehrere Hundert Meter streuen. Aber eine ganze Stadt mit einer solchen Bombe zu kontaminieren, wäre sehr schwierig.

Dr. Marc-Michael Blum ist Chemiker und promovierter Biochemiker. Er ist auf die Erkennung von und den Schutz vor Chemie- und Biowaffen spezialisiert. Von 2012 bis 2019 arbeitete er im Labor der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), das er ab 2017 leitete. Im Jahr 2018 führte Blum die OPCW-Ermittlungen zum Fall Skripal in Großbritannien an. Derzeit leitet er eine wissenschaftliche Beratungsfirma in Hamburg.

Für die Bevölkerung stellen radioaktive Stoffe aber auch in kleinerem Umfang ein gesundheitliches Risiko dar.

Radioaktive Substanzen können natürlich in den Körper kommen, indem man sie einatmet oder eventuell kontaminiertes Essen zu sich nimmt. Zudem ist man der Strahlung ausgesetzt, wenn man sich dort aufhält, wo die schmutzige Bombe explodiert ist. US-amerikanische Studien zeigen jedoch, dass die Strahlenbelastung in solchen Gebieten zu gering ist, um unmittelbar zum Tod zu führen.

Tödliche Folgen einer schmutzigen Bombe sind zwar nicht auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich. Die Opferzahl wäre vermutlich deutlich geringer als die Zahl der Menschen, die durch die Explosion selbst zu Schaden kommen.

Welche Konsequenzen könnte eine solche Bombe noch mit sich bringen?

Es kann zu Beeinträchtigungen im Alltag kommen – vor allem, wenn die schmutzige Bombe eine Stadt trifft. Dann werden betroffene Bereiche unter Umständen vorübergehend unbewohnbar. Je nach Größe der Bombe sind diese Abschnitte kleiner oder größer.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die Ukraine eine schmutzige Bombe einsetzt?

Für die Ukraine ergibt es überhaupt keinen Sinn, eine solche Waffe zu nutzen. Radioaktive Substanzen sind in der Kriegsführung hauptsächlich eine Gefahr für Bodentruppen, also Infanterie. In Panzern oder gepanzerten Fahrzeugen sind Soldatinnen und Soldaten ziemlich gut geschützt. Die unglaubliche Wirkung einer Atomwaffe mit Hitze- und Druckwellen hat man bei einer schmutzigen Bombe nicht.

Es wird womöglich erhöhte Radioaktivität in verstrahlten Gebieten festgestellt, aber da marschieren die Truppen mit ABC-Schutz durch, das hält sie nicht auf. Zudem ist der Effekt räumlich sehr begrenzt, wenn man nicht zig schmutzige Bomben einsetzt.

Die russische Seite behauptet zudem, die Ukraine wolle die schmutzige Bombe im eigenen Land zünden. Wäre das nicht paradox?

Genau. Man würde eine solche Waffe eher im Angriff einsetzen, wenn man den Gegner hemmen möchte. Die Ukrainer zielen bestimmt nicht darauf ab, ihre eigenen Truppenbewegungen einzuschränken, indem sie schmutzige Bomben einsetzen. Die Ukraine hätte davon also keinen militärischen Vorteil.

Warum hält Russland dennoch an dieser Theorie fest?

Russland ist derzeit in vielen Kampfabschnitten massiv in der Defensive und hat auch noch kein Rezept gefunden, diese Dynamik umzukehren. Der russische Verteidigungsminister hat in Telefongesprächen mit westlichen Regierungschefs diese Vorwürfe gegen die Ukraine mehrfach erwähnt – wahrscheinlich, um Ängste zu schüren. Viele Menschen geraten natürlich in Sorge, wenn sie "Radioaktivität", "Atom", "Strahlung" und "Kontaminierung" hören. Es ist eine abstrakte Gefahr, die von Laien nicht so einfach eingeordnet werden kann.


Quotation Mark

Das ist ein Teil von Putins Strategie.


Chemiewaffenexperte Marc-Michael Blum


Was steckt also hinter Russlands Vorwürfen?

Es handelt sich bei den russischen Aussagen wohl um eine Provokation. Es steckt ein gewaltiges Eskalationspotential dahinter, wenn man dem Kontrahenten den Einsatz radioaktiver Materialien in die Schuhe schiebt. Wir haben seit Beginn des Krieges nun schon öfter gesehen, dass Russland solche "False Flags" nutzt, um sie dann letztlich selbst einzusetzen. Das ist ein Teil von Putins Strategie. Meist passiert davon gar nichts und die Vorwürfe waren heiße Luft.

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Hätte die Ukraine denn überhaupt die Möglichkeit, eine schmutzige Bombe zu bauen?

Eine schmutzige Bombe wird auch als "Terrorismuswaffe" bezeichnet – wenn Terroristen diese bauen könnten, schafft das auch ein Staat. Dafür braucht es eben radioaktives Material. Die Ukraine hat durch die Kernkraftwerke und Kernforschungszentren Zugang dazu, auch wenn die Anlagen teils nicht mehr einsatzfähig sind.

Das Land könnte aber auch aus dem medizinischen Betrieb radioaktive Substanzen bekommen – beispielsweise aus Röntgengeräten. Das Gleiche gilt auch für Russland. Im ganz kleinen Maßstab kann also fast jedes Land eine schmutzige Bombe bauen. Das wären aber wirklich keine ausgefeilten militärischen Waffen, sondern improvisierte Sprengladungen.

Herr Blum, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Dr. Marc-Michael Blum am 24. Oktober 2022
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
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