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Putins Märchenstunde: Die russischen Soldaten sollen "Frieden sichern"


Für Putin trägt nur einer Schuld an der Ukraine-Krise

Von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 24.02.2022Lesedauer: 6 Min.
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Russlands Präsident bereitet sein Militär vor: Doch welchen Hintergrund hat die Ukraine-Krise? (Quelle: t-online)

Erst drohte Russlands Präsident, nun schickt er Truppen in die abtrünnigen Gebiete in der Ostukraine. Wladimir Putin behauptet, nur zu holen, was Russland historisch zusteht. Aber stimmt das auch? Eher nicht.

Lenin ist an allem schuld. Zumindest, wenn man Wladimir Putin glaubt. Denn schließlich sei die Ukraine nur eine Schöpfung von Gnaden des Führers der russischen Oktoberrevolution von 1917 gewesen. Noch dazu ein gescheitertes Projekt.

Diese Interpretation der Geschichte gab Putin am Montag während einer Rede zum Besten – um zugleich zu verkünden, dass Russland die abtrünnigen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten anerkennen wird. Nicht nur das: Da diese sogenannten Staaten Schutz bräuchten, ordnete Putin per Dekret die Entsendung russischer Soldaten dorthin an. Ihre Mission? Den "Frieden sichern".

Hinweis: Alle neuen Informationen zum Ukraine-Krieg finden Sie hier auf einen Blick.

"Putin ist unter die Historiker gegangen"

Frieden? Putin? In der Wahrnehmung vieler Ukrainer und des Westens sind Russland und sein Präsident die eigentlichen Aggressoren in der Ukraine-Krise, die weit mehr eine Russland-Krise ist. Schließlich hat Putin 2014 die ukrainische Krim annektiert, gefolgt vom Krieg in der Ostukraine und dem gegenwärtigen Truppenaufmarsch an der Grenze der Ukraine. Bei all diesen Schritten behauptete Putin, das Recht auf seiner Seite zu haben.

Neben der zahlenmäßigen Überlegenheit wähnt Putin aber auch die Geschichte auf seiner Seite. Allerdings eine "Interpretation" der Geschichte, wie sie Putin genehm ist. "Putin ist unter die Historiker gegangen", urteilte Andreas Kappeler 2021 in der Zeitschrift "Osteuropa". Kappeler, einer der besten Kenner der Ukraine und ihrer Geschichte, identifiziert Putins Ausflug von der Politik hin zur Geschichtsvorlesung als das, was sie ist: Legitimation der eigenen aggressiven Politik gegen die Ukraine, einem demokratischen, europäischen Staat.

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Staat? Bereits an dieser Tatsache äußert Putin Zweifel. "Natürlich haben das ukrainische Volk, die ukrainische Kultur und die ukrainische Sprache wundervolle Eigenschaften, die die Identität der ukrainischen Nation ausmachen", äußerte sich Putin noch 2013. "Und wir respektieren sie nicht nur, sondern, was mich betrifft, ich liebe sie." Aktuell spricht der russische Außenminister Sergei Lawrow der Ukraine glattweg die Souveränität ab. Und erweist sich damit als treues Sprachrohr seines Präsidenten, der den Ukrainern mittlerweile die noch 2013 respektierte eigene Identität kurzerhand nicht mehr zubilligt.

"Kolonie mit einem Marionetten-Regime"

Auch von Putin kommen jetzt ganz andere Töne: "Die Ukraine ist [...] bis auf das Niveau einer Kolonie mit einem Marionetten-Regime gebracht worden." Und noch mehr: "Die heutige Ukraine ist ganz und gar von Russland erschaffen worden."

Doch ist die Ukraine wirklich nicht mehr als eine Russland verloren gegangene Region? Die Antwort lautet klar nein.

"Es gibt Kräfte in Russland, die nicht verstehen wollen, dass die Ukraine ein souveräner Staat ist", klagte 1995 bereits der frühere ukrainische Präsident Leonid Kutschma, wie Kappeler in seinem Standardwerk "Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart" zitiert. Der Begriff "Brudervolk" trifft es sehr gut, denn als genau ein solches empfinden sich Ukrainer und Russen heute noch. Brüder, weil beide Nationen ihre Herkunft auf das Reich der Kiewer Rus im Mittelalter zurückführen.

Aber sind Russen und Ukrainer deswegen "eins", wie es Putin behauptet? Nein, lautet erneut die Antwort. Andreas Kappeler urteilt in seinem Aufsatz in der "Osteuropa": "Tatsächlich sind Russen und Ukrainer zwar nicht ein Volk, eine Nation, aber in Sprache, Religion, Kultur, Geschichte verwandt."

Zweite Taufe nötig

Verwandtschaft der Sprache bedeutet allerdings nicht, dass man diese auch problemlos versteht. So mussten Bewohner der russischen Hauptstadt Moskau und Ukrainer im 17. Jahrhundert Übersetzer bemühen, um miteinander zu kommunizieren. Und auch in Sachen Religion ging es nicht so einheitlich zu, wie man es im heutigen Kreml gerne hätte. So war es vor Jahrhunderten nicht unüblich, nach Moskau gezogene Ukrainer, die wie die Russen orthodoxe Christen waren, einer erneuten Taufe zu unterwerfen. Schließlich hätten sie aufgrund der geografischen Nähe zu Polen unter den Einfluss des Katholizismus geraten sein können.

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Eben diese geografische Lage der Ukraine spielt eine große Rolle bei ihrer Nationswerdung. Weite Teile lagen unter der Herrschaft des einstigen Reiches Polen-Litauen, die Ukraine kam im Gegensatz zu Moskau in den Kontakt mit "westlichen Einflüssen wie dem Stadtrecht, dem politischen System der polnischen Adelsrepublik, der Renaissance, Reformation und Gegenreformation", wie Kappeler betont.

Nation ohne Staat

Eine Nation waren die Ukrainer also schon früh, ebenso früh sprachen ihr russische Nationalisten, wie heute Putin, diesen Status ab. "Die Ukraine hatte nie eine eigene Geschichte, war nie ein separater Staat", behauptete im 19. Jahrhundert der russische Nationalist Michail Katkow, der eine, wenn nötig, auch gewaltsame Russifizierung von Minderheiten im Zarenreich befürwortete. Tatsächlich standen die Ukrainer Jahrhunderte lang unter fremder Herrschaft, etwa von Polen-Litauern, Russen oder auch Österreichern.

Im Zuge des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen im Russischen Kaiserreich wurden in der Ukraine verschiedene Republiken ausgerufen, Bestand hatte dann seit 1922 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik als Teil der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Für Wladimir Putin beginnt an dieser Stelle überhaupt erst die Geschichte der Ukraine – als fehlgeleitetes Projekt von Lenin und Co. Vorher war die Ukraine für ihn einfach: "Russland".

Lenins Nachfolger, Josef Stalin, wird bis heute in der Ukraine gefürchtet. Hatte der Sowjetdiktator dort doch eine Hungersnot zu verantworten, die 1932 und 1933 bis zu vier Millionen Ukrainer das Leben kostete. "Ich sah Frauen und Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen, sah sie blau werden, noch atmend, aber mit leeren, leblosen Augen", zitiert Kappeler in seiner "Kleinen Geschichte der Ukraine" den Schriftsteller Lew Kopelew.

Zankapfel Krim

Wladimir Putin sieht den Stalinismus ganz anders. Die Russen hätten am stärksten darunter gelitten, behauptet er in nationalistischer Diktion. Überhaupt die Kommunisten! Sie hatten Russland 1954 die Krim genommen und sie der Ukraine gegeben. Für Putin ein "eklatanter Verstoß gegen die damals geltenden Rechtsbestimmungen", wie er 2021 in einem Aufsatz mit dem Titel "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" behauptete.

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Wobei der damalige Eigentümerwechsel der Krim angesichts der Grenzenlosigkeit innerhalb des Sowjetimperiums die meisten Zeitgenossen eher weniger erregte. Für Putin ist es aber gleichwohl ein weiterer Beleg dafür, dass die Ukraine "ganz und gar und durch und durch ein Geschöpf der Sowjetära" sei.

Und dieses "Geschöpf" will Putin seit einigen Jahren destabilisieren. Mit Gewalt, Pathos und Verschwörungsmythen. So wittert Putin stets fremde Hände im Spiel, wenn die Ukraine einen Schritt in Richtung Westen machte. Etwa bei den Maidan-Protesten von 2013 und 2014: "Die westlichen Mächte mischten sich offen in die inneren Angelegenheiten der Ukraine
ein und unterstützten den Umsturz."

Putin lebt in einer anderen Realität

Der Westen habe die Ukraine in Putins Weltsicht als "Anti-Russland" etablieren wollen, so Andreas Kappeler. So sehr Putin die Sowjet-Zeit in Hinsicht auf die Entwicklung der Ukraine ablehnt, so sehr hat sie anscheinend seine Denkweise geprägt.

"Er kann sich nicht vorstellen, dass die ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von sich aus auf die Straße gingen und mit ihren Demonstrationen einen Machtwechsel erzwangen", bilanziert Kappeler in der "Osteuropa". "Er will nicht glauben, dass es die demokratisch gewählte ukrainische Führung ist, die eine Annäherung an die EU und die Nato anstrebt und nicht die Westmächte." In der Realität waren die westlichen Staaten auch eher Bremser, wenn es um die weitere Integration der Ukraine in Nato oder EU geht.

In Putins Weltbild, das er über die regierungshörigen russischen Medien an die Menschen weitergibt, sind wiederum die Russen Opfer der ukrainischen Politik. 2021 hat er bereits behauptet, dass "die Russen in der Ukraine nicht nur gezwungen werden, sich von ihren Wurzeln, von Generationen ihrer Vorfahren loszusagen, sie sollen zudem glauben, dass Russland ihr Feind ist".

Putin besser nicht unterschätzen

Als wenn dieser Vorwurf nicht genug wäre, wirft Putin der Ukraine gar einen "Genozid" vor, "dem fast vier Millionen Menschen ausgesetzt" seien. Was Putin damit meint? Eine "gewaltsame Assimilation" der Russen in der Ukraine beziehungsweise die "Schaffung eines ethnisch sauberen ukrainischen Staates".

Kappeler identifiziert diesen Vorwurf als das, was er ist: "Die angebliche Verfolgung und Diskriminierung der ethnischen Russen und Russischsprachigen in der Ukraine" könnte Putin "als Vorwand für indirekte oder gar direkte Interventionen nehmen".

Dass Putin solche Schritte zuzutrauen sind, hat er gestern mit der Anerkennung der "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk bewiesen. So krude das Geschichtsbild des russischen Präsidenten auch sein mag, so ernst muss man es nehmen. Andreas Kappeler warnt zu Recht: "Wer Putins Argumentation ins Lächerliche ziehen will, macht es sich zu einfach."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Andreas Kappeler: Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: "Osteuropa" 7/2021, S. 67–76
  • Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Auflage, München 2022
  • Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, 5. Auflage, München 2019
  • RND: Die wichtigsten Zitate aus Putins Fernsehansprache
  • ZDF: Putin will Geschichte in seinem Sinne umschreiben
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