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"Ohne unsere Hilfen würde meine Familie hungern"


Ein Jahr Machtübernahme der Taliban
"Ohne unsere Hilfen würde meine Familie hungern"

InterviewEin Interview von Stefan Simon

21.08.2022Lesedauer: 3 Min.
Interview
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Proteste in Kabul: Dutzende Frauen demonstrieren gegen die Taliban in Afghanistan.Vergrößern des Bildes
Proteste in Kabul: Dutzende Frauen demonstrieren gegen die Taliban in Afghanistan. (Quelle: Ali Khara/Reuters-bilder)

Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban herrscht bei Nesam Halim große Angst und Sorge über seine Familie. Die Folgen des Klimawandels verschärfen die Situation zusätzlich.

Vor einem Jahr, am 15. August 2021, marschierten die radikalislamischen Taliban nahezu ungehindert in die afghanische Hauptstadt Kabul ein und regieren seitdem fast das ganze Land. Zuvor waren die internationalen Truppen, die 20 Jahre lang in Afghanistan stationiert waren, abgezogen worden. Die internationale Gemeinschaft hat Afghanistan in totalem Chaos zurückgelassen.

Nach der Machtübernahme der Islamisten haben Tausende Afghanen ihr Heimatland verlassen. So auch ein Teil der Familie des Frankfurters Nesam Halim. Der 26-Jährige sorgt sich seither um seine Familie in Afghanistan, gleichzeitig ist er enttäuscht, dass die internationale Gemeinschaft Afghanistan seinem Schicksal überlässt. Halim ist zudem Mitorganisator der weltweiten Proteste "Stop killing Afghans" der afghanischen Diaspora. Im Gespräch mit t-online spricht er über die humanitäre Lage, über seine Familie und die düstere Zukunft unter der Taliban-Herrschaft.

Herr Halim, die Taliban regieren seit einem Jahr ungehindert Afghanistan. Wie geht es Ihnen seitdem?

Nesam Halim: Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung. Ich denke, das sind die Worte, die meine Gefühlswelt gut beschreiben. Zudem bin ich froh, dass meine Verwandten und Bekannten, die nach Europa gekommen sind, nun bessere Perspektiven haben.

Können Sie Ihre Gefühlswelt genauer beschreiben?

Es gibt mehrere Problemlagen. Zum einen ist da die wirtschaftliche Situation. Die betrifft alle. Laut Unicef gelten 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung als arm. Ohne unsere finanziellen Hilfen würde meine Familie hungern.

Wie viel Geld schicken Sie denn monatlich an Ihre Familie?

Das sind im Durchschnitt 100 bis 200 Euro. Zum Vergleich: 100 Euro kann eine fünfköpfige Familie mit Grundnahrungsmitteln und Heizmaterial einen Monat durchbringen. Die Taliban haben die Wirtschaft komplett ruiniert, mehr als die Hälfte der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Viele Gelder kommen nicht an und das Land ist stark abhängig von NGOs, für die auch viele Afghanen arbeiteten. Zudem sind die Taliban international nicht anerkannt – nicht mal von ihren größten Unterstützern Katar, Pakistan und Saudi-Arabien. Die Zukunft ist ungewiss und der Winter naht.

Das bedeutet?

Zunächst einmal gibt es große Temperaturschwankungen. Im Sommer ist es heiß, daher kommt es zu Dürren, die die Ernte zerstören. Das wiederum verstärkt den Hunger. Im Winter ist es sehr kalt, was gerade die Landbevölkerung, die den Großteil der Einwohner ausmacht, vor große Probleme stellt. Die Menschen sterben vor Kälte, kaum jemand hat Geld. Außerdem steigen die Preise für Heizmittel. Ein Teil meiner Familie lebt auf dem Land. Ich habe große Sorge, dass sie nicht genug zum Heizen haben und es stellt sich dann für mich die Frage: Können sie den Winter überleben?

Der 26-jährige hat die Hoffnung auf eine positive Wende in Afghanistan aufgegeben.
Der 26-Jährige hat die Hoffnung auf eine positive Wende in Afghanistan aufgegeben. (Quelle: Privat)

Nesam Halim

Ein Großteil seiner Familie konnte flüchten, aber viele leben noch in Afghanistan. Der 26-Jährige ist in Frankfurt am Main geboren und studiert im Master Politikwissenschaften an der Goethe-Universität. Halim ist Mitorganisator der weltweiten "Stop Killing Afghans" Proteste der afghanischen Diaspora.

Solange die Taliban weiterregieren, steigt die Perspektivlosigkeit – insbesondere bei jungen Menschen. Ein Teil Ihrer Familie ist letztes Jahr geflüchtet, ein anderer Teil lebt in Ihrem Heimatland. Werden Sie perspektivisch auch das Land verlassen?

Das hängt natürlich vom Alter ab, bei manchen schwingt da auch Nationalstolz mit. Die Älteren sagen, sie haben die Besatzungen der Sowjetunion überlebt, den Bürgerkrieg der Mujaheddin in den 90ern und auch die erste Taliban-Herrschaft, nun werden sie diese auch schaffen. Aber was ist mit meiner Cousine? Sie studierte Medizin und hat jetzt das Land aufgrund von Angst und Perspektivlosigkeit verlassen. Viele Mädchen können bald keine Medizin mehr in Afghanistan studieren. Keine der Frauen arbeitet mehr, obwohl die Taliban verkündeten, kein Berufsverbot einführen zu wollen. Aber ja, die Jüngeren werden sicher das Land verlassen.

"Man darf Afghanistan nicht vergessen"

Aber genau sie sind die Zukunft des Landes...

Das stimmt, insbesondere die Frauen. Sie machen fast 50 Prozent der Bevölkerung aus, dürfen aber nicht arbeiten, nicht studieren. Mädchen wird in den meisten Regionen der Schulbesuch ab der 6. Klasse verwehrt.

Bleiben wir zum Ende beim Thema Perspektive. Denken Sie, dass sich die Situation in Afghanistan doch noch zum Guten wenden kann? Oder haben Sie die Hoffnung aufgegeben?

Da sind wir wieder bei dem Begriff Enttäuschung, was ich schon zu Beginn gesagt habe. Meine Hoffnung ist weg, dass sich die Lage bessert. Die internationale Gemeinschaft hat Afghanistan dem eigenen Schicksal überlassen. Auch in den Medien ist das Land von der Bildfläche verschwunden. Die Regierung kann ihre totalitäre Macht ausüben, was man etwa am Beispiel der Sikhs sehen kann. Es lebten mal in den 80er Jahren etwa 220.000 Sikhs in Afghanistan. Nun sind die letzten nach Indien geflohen, kurz nach einem Anschlag. Man darf Afghanistan nicht vergessen. Die Leute wollen Freiheit. Der größte Widerstand kommt übrigens von den Frauen, die sich den Taliban auf der Straße entgegenstellen. So viel Mut und Unterstützung wünsche ich mir auch von den Männern.

Verwendete Quellen
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