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Wie ein ukrainischer Spitzenklub vergessen wird: "Einfach nur fürchterlich"


Fußballklub im Exil
"Fürchterlich, einfach nur fürchterlich"

  • Dominik Sliskovic
Von Dominik Sliskovic

Aktualisiert am 19.11.2022Lesedauer: 7 Min.
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Durch russischen Granatangriff beschädigt: Die Donbass Arena, das Heimstadion von Schachtar Donezk.Vergrößern des Bildes
Durch russischen Granatangriff beschädigt: Die Donbass Arena, das Heimstadion von Schachtar Donezk. (Quelle: IMAGO/Sergey Baturin)

Ab Sonntag blickt die Fußballwelt nach Katar. Trotz der Wüsten-WM darf das Schicksal von Schachtar Donezk nicht vergessen werden. Ein Besuch im Exil des ukrainischen Spitzenklubs.

Georgiy Sudakov sitzt auf dem Podium des sterilen Presseraums und sieht müde aus. Er greift zum Energydrink vor sich und nimmt einen Schluck, ehe er den Satz ausspricht, der alles andere in den Hintergrund drängt: "Ich habe meine Familie, mein neugeborenes Kind, seit Monaten nicht mehr gesehen."

Der 20-Jährige macht den Anwesenden schlagartig klar, dass dies keine beliebige Pressekonferenz vor einer beliebigen Champions-League-Partie ist. Sudakov spricht im Inneren des Stadions Wojska Polskiego mit ihnen. Weil er und sein Team Schachtar Donezk den DFB-Pokalsieger RB Leipzig im finalen Spiel der Königsklasse-Gruppenphase empfangen. In Warschau. Wie zuvor bereits Celtic Glasgow und Real Madrid. Denn Schachtar, der Bergarbeiterklub aus dem Donbass, ist auf der Flucht. Und das schon seit Jahren.

Die bewaffnete Eskalation des Konflikts zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Regierungskräften entriss den 13-fachen ukrainischen Meister erstmals brutal dem heimatlichen Boden. 2014 musste der Klub seine hochmoderne Spielstätte, die Donbass Arena, seine Stadt, einfach alles hinter sich lassen. Obdach fand Schachtar im über 1.200 Kilometer entfernten Lviv. In der Westukraine verirrte sich jedoch nur selten eine vierstellige Zahl von Menschen ins Stadion – die Westukraine ist eben nicht Schachtar-Kernland.

Also zog der Verein nach nur zwei Spielzeiten weiter nach Charkiw – näher an die Heimat, dorthin, wo das ukrainische Fußballherz orange-schwarz schlägt. Doch auch dort hielt es den Klub nicht lange: 2020 ging es in die Hauptstadt, nach Kiew, wo man das weitläufige Sviatoshyn-Trainingszentrum sowie das Olympiastadion bezog. Als russische Granaten am Morgen des 24. Februar 2022 auf Kiew niederregneten, war auch dieser Zufluchtsort für Schachtar Geschichte. Spieler und Mitarbeiter begaben sich einmal mehr auf die Flucht, gaben sich einem Nomadenleben hin, immer auf der Suche nach einem neuen Trainingszentrum, in dem man das Lager aufschlagen kann. In Kroatien. In Slowenien. In den Niederlanden. Schlussendlich in Polen.

Schachtar befindet sich seit Monaten auf einer wahren Odyssee

In den Monaten seit dem verheerenden Februarmorgen hat sich einiges getan. Die ukrainischen Truppen konnten den Vormarsch der russischen Aggressoren stoppen und strategisch wichtige Siege verbuchen. In weiten Teilen der Westukraine, sogar in Kiew, kehrte eine Form des Alltags wieder ein. Ein Symbol dieses Erfolgs ist auch die Wiederaufnahme des Fußballspielbetriebs. Die Premjer-Liha, die höchste Profiliga des Landes, sollte auf ukrainischem Boden ausgetragen werden, entschied Präsident Wolodymyr Selenskyj höchstselbst. Gesagt, getan.

Zwar läuft seit dem präsidialen Machtwort im Sommer die heimische Liga wieder mit Partien in Lviv und selbst in Kiew, Europapokalabende auf ukrainischem Territorium sind jedoch weiterhin utopisch. Zu groß sind die Sicherheitsbedenken, zu schwierig und aufwendig ist die Anreise für Superstars wie etwa Weltfußballer Karim Benzema. Also suchte und fand Schachtar in Warschau eine neue, temporäre Heimat.

In der 30.000 Zuschauer fassenden Spielstätte des örtlichen Traditionsklubs Legia trägt Schachtar seine internationalen Duelle aus, trainiert unter der Woche im angrenzenden Sportpark. Für die Partien in der ukrainischen Liga geht es jeweils am Wochenende nach Lviv, für Auswärtsspiele manchmal sogar bis nach Kiew. Und zwar mit dem Bus. Stundenlang. Der für Personenverkehr geschlossene ukrainische Luftraum zwingt den Uefa-Pokalsieger von 2009 zu einer echten Odyssee. Über 10.000 Kilometer werden Schachtars Spieler, Trainer und Mitarbeiter zwischen Heimat und Warschauer Exil bis Anfang November gependelt sein.

"Fürchterlich, es ist einfach nur fürchterlich"

"Unsere Reisestrapazen sind der Wahnsinn", sagt Schachtars Cheftrainer Igor Jovicevic im Gespräch mit t-online. "Der ukrainische Luftraum ist gesperrt, was bedeutet, wir können nicht direkt aus Lviv zu unseren Auswärtsspielen im Europapokal fliegen, sondern müssen mit dem Bus die ukrainisch-polnische Grenze überqueren und den ersten Flughafen auf polnischem Boden ansteuern. Wenn andere Mannschaften ihren freien Tag nach einem Pflichtspiel haben, sitzen wir im Bus und stehen stundenlang am Grenzübergang. Fürchterlich, es ist einfach nur fürchterlich."

So richtig spricht es keiner aus, aber das Ende der Champions-League-Gruppenphase mit der 0:4-Pleite gegen RB Leipzig bringt auch eine gewisse Erleichterung mit sich, bedeutet es doch auch eine dreimonatige Pause vom immensen Reisepensum. Die Erschöpfung, die das ewige Herumreisen mit sich bringt, hat sich nicht nur in Sudakovs strenges und doch immer noch jugendliches Gesicht gefressen. Auch sein Coach ist sichtlich ermattet.

"Der Bus in die Ukraine geht morgen früh um acht, am Samstagnachmittag steht bereits das nächste Ligaspiel an, da bleibt keine Zeit für Freizeit, keine Zeit für Familie", erklärt der Kroate nach Abpfiff der Partie gegen die Gäste aus Leipzig. "Ehrlich gesagt weiß ich gerade gar nicht, wann ich meine Familie das letzte Mal gesehen habe."

Und dennoch freuen sie sich bei Schachtar, dass sie dieses "harte Leben", wie es Jovicevic nennt, führen dürfen. Schließlich wusste noch im Sommer keiner von ihnen, ob und wie es weitergehen wird.


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Die Spieler trainieren in der Ukraine unter dem Heulen der Luftalarmsirenen


Schachtar-Coach Igor Jovicevic


"Vor vier Monaten wusste niemand, ob der Verein überhaupt noch existieren wird, schließlich hatten 15 ausländische Spieler den Klub verlassen. Es war eine Herkulesaufgabe, eine auch nur im Ansatz wettbewerbsfähige Mannschaft für die Champions League zusammenzustellen. Allein dass uns das gelungen ist, ist ein unermesslicher Erfolg", rekapituliert Jovicevic, der sein Team mit sechs Punkten aus sechs Partien auf Platz drei und damit unverhofft in die K.o.-Phase der Europa League geführt hat.

Die Lorbeeren für diesen Kraftakt möchte Jovicevic, der als Aktiver ein Weltenbummler war und unter anderem in Brasilien, Frankreich, China und der Ukraine spielte, jedoch nicht selbst einheimsen. Vielmehr stellt er die Leistung seiner Profis in den Fokus. "Für die Spieler, die jetzt bei uns im Klub sind, ist es keine einfache Situation, in der Ukraine unter dem Heulen der Luftalarmsirenen zu trainieren, ständig in seiner Vorbereitung unterbrochen zu werden und dann dennoch in der Lage sein zu müssen, die taktischen Absprachen, die ich ihnen als Trainer mitgebe, einzuhalten", lobt er die Mentalität seines Teams um Offensivtoptalent Mykhailo Mudryk.

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Dem 48-Jährigen ist es wichtig, die Situation keinesfalls zu relativieren. "Natürlich ist es nicht gerade angenehm, unter diesen Bedingungen zu arbeiten, natürlich fürchte ich mich, natürlich packt mich manchmal die blanke Angst. Es ist nicht einfach, wirklich nicht einfach, sich unter diesen Umständen immer wieder aufs Neue rauszutrauen, immun gegen die Angst zu werden", erklärt er. "Aber die Resultate, die wir als Mannschaft bis hierhin eingefahren haben, zeigen, dass das Unmögliche manchmal eben doch möglich ist."

Schachtars Exil als Event für die Warschauer Oberschicht?

Bei Schachtar sind sie schlicht dankbar für alles, was sie haben. Besonders für die Gastfreundschaft Legias, Warschaus und ganz Polens. Ressentiments gegen die ukrainischen Flüchtlinge begegnet man in den Tagen und Stunden vor der Partie nicht – einer besonderen Aufregung, einem Stolz ob der prominenten Exilanten in der Stadt jedoch auch nicht. Großflächige Plakate oder Leuchtreklamen, die auf das Champions-League-Spiel unter Flutlicht hinweisen, sucht man in Warschau vergeblich.

Auch das Trikot Schachtars findet sich in keinem der angesteuerten Sportgeschäfte. Ein Vater, der sich mit seinem Sohn auf dem Weg zum Stadion Wojska Polskiego befindet, stellt sich als Pole heraus, der auf die Frage nach dem Trikot seines Filius achselzuckend antwortet: "Internet. Du weißt doch sicher, wie Jungs sind: 'Wenn wir ins Stadion gehen, will ich auch das Trikot haben.'" Kurz darauf läuft sein Junge hastig vor: Ein fliegender Händler bietet einen Spieltagsschal feil.

Verkommt Schachtars Exil etwa zu einem Event für die Warschauer Mittel- und Oberschicht?

Ein Eindruck, der sich auf gewisse Weise bestätigt, je näher man dem Stadion kommt. Junge Hostessen bieten den Zuschauern nicht nur eine kostenlose Dose des offiziellen Uefa-Softdrinksponsors, sondern auch gleich eine Gesichtsbemalung in Gelb-Blau an. Im und ums Stadion hüllen sich viele strahlende Gesichter in mitgebrachte ukrainische Fahnen, posen mit Kussmund und Victory-Zeichen.

Dass das Gros der knapp 24.000 Besucher der Partie gegen Leipzig Polen auf der Suche nach einer guten Zeit sind, glauben auch Ivan (29) und Nikita (28). "Ich würde behaupten, zwei Drittel, wenn nicht sogar drei Viertel der heutigen Zuschauer sind Polen, die einfach nur mal ein Champions-League-Spiel erleben wollen", sagt Nikita.

Er selbst ist genauso wie Ivan Ukrainer. Seit elf Jahren leben die beiden Freunde in Warschau, wohin es sie nach der Schule zum Studieren gezogen hat. Eigentlich sind sie als gebürtige Kiewer eingefleischte Fans von Dynamo – Schachtars Erzrivalen aus der Hauptstadt. Eine Rivalität, die in Tagen des Krieges jedoch ruht. "Wir sind heute hier als Ukrainer, um unsere Landsleute auf dem Platz unterstützen. Schachtar hat durch seine Teilnahme an der Champions League eine unvergleichliche Möglichkeit, auf die Situation der Ukraine aufmerksam zu machen", erklärt Ivan.


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Die Donezker Ultras fehlen, weil sie an vorderster Front kämpfen


Nikita und Ivan


Dass die Stimmung trotz Menschen wie Nikita und Ivan eher einem Bezirksligakick gleicht, erklären die beiden fast unisono mit der Abwesenheit der Donezker Ultrasbrigade. "Die Jungs fehlen, weil sie an vorderster Front kämpfen – die Donezker Ultras sind ja alles junge, wehrfähige Männer."

"Die Atmosphäre wäre natürlich eine ganz andere, wenn wir in der Ukraine spielen dürften", gibt auch Coac Jovicevic zu, "man stelle sich nur vor, was für eine Stimmung bei einem so entscheidenden Spiel wie heute in der Donbass Arena geherrscht hätte!" Diese Heimatmosphäre, die einer Mannschaft in schwierigen Situationen Flügel verleihen kann, fehle seiner Mannschaft ganz eindeutig in Warschau. Dennoch: "Den Menschen, die uns hier in Warschau unterstützt haben, die die Champions-League-Partien im Stadion verfolgt haben, gilt mein tiefster Dank. Ohne sie hätten wir es sicherlich noch einmal sehr viel schwerer gehabt."

Die Solidarität mit der Ukraine ist enorm – auch wenn sie sich nicht in Schlachtrufen und Gesängen im Stadion Bahn bricht. Im Warschauer Stadtzentrum hängen in unzähligen Fenstern ukrainische Flaggen, selbst Lebensmittelläden sind in Gelb-Blau ausstaffiert, in den Sportartikelshops ist neben dem blütenweißen Heimtrikot Legias und dem rot-weißen von Robert Lewandowskis Polen das ukrainische Leibchen das einzige, das in jedem Laden erhältlich ist.

Womöglich erweitern die Warschauer Einzelhändler ihr Sortiment bis Februar ja doch noch um das orange-schwarze Trikot Schachtars. Dann nämlich kehrt der Klub für sein Europa-League-Duell mit dem französischen Vertreter Stade Rennes in die Stadt zurück. Coach Jovicevic zumindest blickt dem Termin bereits entgegen: "Wir freuen uns schon auf die Partien in der Europa League und die Rückkehr nach Warschau." Allen Strapazen zum Trotz.

Verwendete Quellen
  • Vorortbesuch der Champions-League-Partie Schachtar Donezk gegen RB Leipzig
  • Besuch der Pressekonferenz vor der Partie Schachtar gegen Leipzig
  • Interview mit Igor Jovicevic
  • Gespräch mit Fans im Stadion Wojska Polskiego
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