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Antonio Rüdiger: Vom Käfig in Berlin-Neukölln an die Fußball-Weltspitze


Antonio Rüdiger
Ein schwieriger Weg an die Weltspitze


Aktualisiert am 27.03.2024Lesedauer: 7 Min.
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Antonio Rüdiger: Der Innenverteidiger der Nationalelf stammt aus Berlin-Neukölln. (Quelle: IMAGO/BEAUTIFUL SPORTS/Wunderl)

Antonio Rüdiger spielt für die deutsche Nationalmannschaft und Real Madrid. Aktuell wird ein Bild von ihm in den sozialen Netzwerken diskutiert. Sein Weg an die Fußball-Weltspitze war alles andere als leicht.

Aus sportlicher Sicht hätte es genug Gründe gegeben, um nach dem Frankreich-Spiel der deutschen Nationalelf (2:0) über Antonio Rüdiger zu reden. Gemeinsam mit Jonathan Tah machte der deutsche Innenverteidiger das Abwehrzentrum dicht und sorgte dafür, dass Keeper Marc-André ter Stegen nur wenig auf sein Tor bekam.

Gesprochen wird nun aber in erster Linie über etwas, das nicht auf dem Rasen passiert ist. Kurz vor dem Anpfiff des Länderspiels postete der ehemalige Chefredakteur der "Bild"-Zeitung, Julian Reichelt, ein Bild, das Antonio Rüdiger vor zwei Wochen auf Instagram hochgeladen hatte. Es zeigt den gläubigen Muslim auf seinem Gebetsteppich in einem weißen Gewand und mit erhobenem Zeigefinger zu Beginn des Fastenmonats Ramadan.

Julian Reichelt bezeichnete den erhobenen Zeigefinger als Zeichen des "Islamismus in der deutschen Startelf". Seine Behauptung: Da auch Terroristen des sogenannten Islamischen Staats diese Geste benutzten, mache sich Rüdiger mit deren Ideologie gemein. Die Aktivistin Seyran Ateş gab dem früheren "Bild"-Chef recht. "Die Symbolik, die Rüdiger verwendet, wurde nachweislich von Extremisten eingeführt und verbreitet", sagte sie.

Mehrere Islam-Experten wie die ehemalige t-online-Kolumnistin Lamya Kaddor widersprachen dem Vorwurf jedoch entschieden. Auf der Plattform X schrieb Kaddor: "Diese Geste gehört zur islamischen Praxis. Der rechte Zeigefinger wird beispielsweise im rituellen Gebet mehrfach gehoben und beim Glaubensbekenntnis ebenfalls. Jedenfalls definitiv NICHT Ausdruck islamistischen Gedankenguts."

Der Islamwissenschatler Kaan Orhon betonte im Interview mit t-online: "Die Geste ist nicht im islamistischen Bereich zu verorten, da sie seit der islamischen Frühzeit bekannt ist, also nicht erst im 'IS-Zeitalter' entstand. Deshalb ist es besonders sinnentfremdet, dies als IS-Gruß darzustellen." Die Vorwürfe bezeichnete er als "blanken Unsinn".

Antonio Rüdiger und der DFB entschieden sich nun, gerichtlich gegen Reichelt vorzugehen. Sie zeigten den Journalisten des rechtspopulistischen Mediums "Nius" bei der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität an.

"Dann gute Nacht"

Antonio Rüdiger wuchs in Berlin-Neukölln auf. In einem Hochhaus der Dieselstraße, unweit der Sonnenallee, zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter Lily und seinen fünf älteren Geschwistern. Etwas mehr als 60 Quadratmeter bewohnte die siebenköpfige Familie Rüdiger. Was andere als eine "schwierige Kindheit" in einem "Problembezirk" beschreiben, ist für Rüdiger eine Zeit, die er nicht missen will. "Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich wieder in Neukölln aufwachsen wollen", erklärte Rüdiger vergangenes Jahr in einem Interview mit Sky.

Seine Mutter Lily war aus Sierra Leone vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. Der Zustand in ihrem Heimatland beschäftigt den inzwischen 31-Jährigen noch heute. Rüdiger: "Bei uns in Deutschland ist schon eine Kleinigkeit ein Problem, ein Stressfaktor. Ein Tag in der Haut von diesen Leuten (Einwohnern Sierra Leones, Anm. d. Red.), dann gute Nacht."

Rüdiger selbst bezeichnet sich als "Muttersöhnchen durch und durch". Eine entscheidende Rolle in seiner Kindheit spielte auch seine älteste Schwester: "Sie war überall mit dabei. Bei meinen Turnieren und allem. Wenn es hieß, dein Bruder hat ein Turnier, war sie sofort dabei."

Der Käfig als Zuhause

Für seinen fußballerischen Werdegang spielt auch sein acht Jahre älterer Halbbruder Sahr Senesie eine wichtige Rolle. Senesie kickte mit seinen Freunden in einem umzäunten Bolzplatz, einem sogenannten Käfig, Rüdiger musste zunächst zuschauen. "Zu gefährlich", sagte Senesie dem Magazin "Stern", "meine Mutter hatte mir befohlen, auf Toni aufzupassen. Er war ein kleiner Junge, der auf die Grundschule ging, und wir fast schon Männer. Nein, das ging nicht."

Rüdiger blieb hartnäckig, gründete eine eigene Mannschaft und trat als Kind mit seinen Freunden gegen Teenager an. Rücksicht nahmen die Älteren keine, doch Rüdiger hielt dagegen, berichtete Senesie im "Stern": "Toni wollte beweisen, dass er kein Kind mehr ist, sondern ein großer Fußballer."

Vergessen hat Rüdiger diese Zeit nie. "Ich wollte nie raus aus dem Käfig und irgendwie steckt der Käfig noch immer in mir", erzählte er vor der WM 2022 in Katar. Während sein Halbbruder Sahr Senesie in die U17 zu Borussia Dortmund wechselte, blieb Rüdigers fußballerische Heimat zunächst Berlin. Als Kind spielte er in verschiedenen Neuköllner Jugendvereinen, ehe es zu Hertha Zehlendorf ging, einem der besten Jugendklubs in der Hauptstadt. Doch so gut es mit dem Fußball lief, so ungemütlich wurde die Lage im Alltag.

"Zu Hause wirst du erzogen, und ich wurde definitiv gut erzogen. Aber wenn du die Tür verlässt, bist nur du mit dir selbst da draußen. Manchmal ist es dann so, dass es an dem Ort, an dem du aufgewachsen bist, schwierig ist, Nein zu sagen zu bestimmten Versuchungen und zu bestimmten Dingen", sagte Rüdiger einst im Interview mit "Spox". Geld gab es daheim kaum. "Und zum damaligen Zeitpunkt haben wir es sehr gebraucht. Da kannst du leicht auf die schiefe Bahn geraten. Gott sei Dank für mich: Mein Ausweg war Fußball."

Über Dortmund und Stuttgart nach ganz Europa

Seine Mutter sorgte sich um ihren Antonio, bat Senesie darum, ihn nach Dortmund zu holen. Er organisierte ein Probetraining und Rüdiger nutzte die Chance. Ins Internat durfte er aber nicht, dafür war er den Verantwortlichen nicht gut genug. Die Mutter eines türkischen Freundes von Senesie nahm ihn bei sich auf.

Weil man beim BVB nicht an ihn glaubte, trainierte Rüdiger mit seinem Halbbruder Sahr noch nach dem Training weiter. Die Extraschichten zahlten sich aus. Der Nachwuchsspieler wurde besser und besser, bekam sogar eine Einladung zur Junioren-Nationalmannschaft. Von Dortmund ging es zum VfB Stuttgart, wo er Profi wurde. Der VfB sollte der letzte deutsche Klub sein, bei dem er bis zum heutigen Tag spielte.

Über die Roma und den FC Chelsea ging es im Sommer 2022 zu Real Madrid, wo er inzwischen Stammspieler ist und zu den besten Verteidigern der Welt zählt. Für Trainer Carlo Ancelotti ist er ein wichtiger Baustein des Erfolgs. Anfang dieses Jahres sagte er: "Er (Antonio Rüdiger, Anm. d. Red.) verfügt über sehr gute Kenntnisse in der Defensive, hat Charakter und Persönlichkeit. Seine beste Eigenschaft ist sein Pessimismus. Er denkt immer, dass etwas Schlimmes passieren kann, deshalb ist er immer konzentriert."

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Unruhe auf Instagram

Mit seinem aggressiven, leidenschaftlichen Spielstil polarisiert er zuweilen die Fans. Manche lieben ihn dafür, dass er sein Herz auf dem Platz lässt. Andere werfen ihm Arroganz und zu viel Temperament vor. Ein Thema, dessen sich Rüdiger schon länger bewusst ist. "Ich habe früher viel aus den Emotionen gehandelt. Das hätte mich fast meine Karriere gekostet. Ich wäre fast in eine Rambo-Schublade geraten. Aber ich habe bewiesen: Wenn ich es will, kann ich mich beherrschen", sagte er 2017 in einem Interview mit "Der Westen".

Doch auch abseits des Rasens eckt Rüdiger an. Kritik erntete er im Herbst 2020 dafür, dass ihm der Instagram-Post des ehemaligen russischen MMA-Kämpfers Khabib Nurmagomedov gefällt. Dieser hatte dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach den Terrorattacken von Paris vorgeworfen, "mehr als 1,5 Milliarden gläubige Muslime" beleidigt zu haben. Macron hatte zuvor von "islamistischen Terrorangriffen" gesprochen. Zudem bildete Nurmagomedov Macron mit einem Stiefel im Gesicht ab.

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Mit dem "Like" konfrontiert entschuldigte sich Rüdiger in der "Bild": "Das war ein Fehler. Natürlich sollte man keine Beiträge liken, die in Sprachen verfasst sind (ursprünglich in Kyrillisch – Anm. d. Red.), die man gar nicht versteht. Ich lehne jede Art von Gewalt ab und möchte mich deshalb klar von diesen Inhalten distanzieren."

Eine Schlüsselrolle in der Kroos-Rückkehr

Mit der Nationalmannschaft erlebte Rüdiger einige Höhen und vor allem Tiefen. Die EM 2016 verpasste er wegen eines Kreuzbandrisses. Bei der WM 2018 musste er meist von der Bank aus zusehen, wie seine Teamkollegen nach der Vorrunde ausschieden. Nur beim 2:1-Sieg gegen Schweden durfte er ran.

Auch die Folgeturniere wurden für ihn zur Enttäuschung. Rüdiger schied mit Deutschland im EM-Achtelfinale 2021 und in der Vorrunde der WM 2022 aus. "Wir sind selbst schuld", konstatierte der Innenverteidiger nach dem letzten Gruppenspiel. Auch in der Zeit seit dem WM-Aus entspannte sich die Lage beim DFB kaum. Rüdiger nahm also sein Schicksal selbst in die Hand und warb um Toni Kroos, der mit ihm in Madrid zusammenspielt. Kroos war nach der EM 2021 aus der Nationalelf zurückgetreten.

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"Ein Spieler wie er, der sich immer noch auf so einem hohen Level befindet, muss eigentlich dabei sein. Ich frage ihn jeden Tag", sagte Rüdiger in einem DAZN-Interview über Kroos. Dessen Reaktion folgte kurz danach: "Antonio hat in der Tat gefragt. Ich musste lange überlegen, er hat mich auf dem falschen Fuß erwischt, weil ich selbst diesen Gedanken nicht hatte, der kam erst durch ihn."

Dass Kroos eine mögliche Rückkehr nicht ausschloss, steigerte die Hoffnung bei den deutschen Fans. Bundestrainer Julian Nagelsmann nahm die Fährte auf und überzeugte den Mittelfeldmann von einer Rückkehr im DFB-Trikot.

"Ich kann auf keinen Fall sagen: Wir holen den Titel"

Am Samstag spielten die beiden nun erstmals seit langer Zeit wieder gemeinsam für Deutschland, nicht nur für Real Madrid. Das Ergebnis ist bekannt: Kroos brillierte als Taktgeber des deutschen Teams und die DFB-Elf besiegte Frankreich mit 2:0.

Im Dezember äußerte sich Rüdiger in einem Interview mit dem Magazin "11 Freunde" auf die Frage nach einem EM-Titel noch pessimistisch: "Ich kann auf keinen Fall sagen: Wir holen den Titel, das ist momentan nichts als Träumerei." Diese Träumerei hat nach dem Frankreich-Spiel zumindest etwas mehr Realismus bekommen. Im Test gegen die Niederlande am heutigen Dienstag soll dann der nächste Schritt folgen (ab 20:45 Uhr im Liveticker bei t-online).

An Motivation mangelt es einem Spielertypen wie Antonio Rüdiger nicht. Aber der Gedanke, ein EM-Finale vor seiner Mutter und seinen Geschwistern in seiner Heimatstadt Berlin zu spielen, dürfte ihn besonders anspornen. Auch wenn das Finale im Olympiastadion und nicht in "seinem" Käfig in Neukölln stattfindet.

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