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Präsident Emmanuel Macron nach einem Jahr – Eine Bilanz


Die Ära Macron
Dieser Mann sprengt das gelähmte System

  • Gerhad Spörl
MeinungVon Gerhard Spörl

Aktualisiert am 07.05.2018Lesedauer: 5 Min.
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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: Wie lange hält er sich in den Höhen, in die er sich geschwungen hat?Vergrößern des Bildes
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: Wie lange hält er sich in den Höhen, in die er sich geschwungen hat? (Quelle: Jacquelyn Martin/ap-bilder)

Seit einem Jahr regiert Emmanuel Macron sein Land. Er verordnet Frankreich liberale Reformen, die er autoritär durchsetzt. Dafür nimmt er auch Unpopularität hin. Das ist nicht ohne Risiko.

Am heutigen Montag vor genau einem Jahr hat der interessanteste Politiker Europas die Stichwahl in Frankreich für sich entschieden. Nur ein Jahr, kaum zu glauben bei dem Wirbel, den Emmanuel Macron auslöst und den er dazu nützt, seine Sache voranzutreiben. 40 Jahre ist er erst alt. Angela Merkel könnte seine Mutter sein, dabei ist sie sogar noch ein Jahr jünger als seine Frau Brigitte, die er Bibi nennt und die einst seine verheiratete Lehrerin mit drei Kindern war.

Ich finde Macron ungemein spannend und er nötigt mir höchste Achtung ab. Nie hätte ich gedacht, dass irgendjemand das gelähmte und lähmende politische System in Frankreich so leichthin sprengen könnte. Erst Mitterrand, dann Chirac, dann Sarkozy, dann Hollande und immer so weiter, ein Rechter auf einen Linken und ein Linker auf einen Rechten, daran waren wir, daran war Frankreich gewöhnt. Dazu noch die Le Pens, die von diesem dysfunktionalen System profitierten und umso stärker wurden, je schwächer und egomanischer die Präsidenten waren. Und dann tritt Emmanuel Macron auf, gründet seine eigene Bewegung, steckt voller Schwung und Leidenschaft und vor allem: Er redet nicht nur davon, er will wirklich etwas, nämlich Frankreich reformieren und seither geht es dort rund.

Der Vorwurf: liberal und autoritär

Was macht er anders als andere? Er hat Ziele und ist angstfrei. Frankreich ist ein Land mit Gewerkschaften, die weniger konsensgeneigt sind als die deutschen. Der Bahnstreik hat das ganze Land gelähmt, der Streik bei Air France reißt die Fluggesellschaft tief in die roten Zahlen. Die Lockerung des Kündigungsschutzes und die Verschärfung der Asylgesetzgebung ruft Protest hervor, genauso wie das Tempolimit von 80 auf Landstraßen. Macron will das Rentenalter erhöhen und das Arbeitslosengeld an strengere Bedingungen knüpfen. Die Lehrer haben schon gestreikt, das Krankenhauspersonal auch. Schriftsteller und Publizisten kritisieren, dass er liberal und autoritär sei. Liberal und autoritär? Interessante Kombination, interessanter Doppelvorwurf.

Es ist viel los in Frankreich, viele Freunde hat der Präsident nicht mehr, nur 40 Prozent der Franzosen finden ihn gut. Irritiert ihn das? Kaum. Er zieht durch, was er sich vorgenommen hat, und nimmt den Gegenwind als natürliche Folge seines Handelns hin. Macrons Reformprojekt ist vergleichbar mit Gerhard Schröders Agenda 2010, weil in Frankreich wie damals in Deutschland die Arbeitslosigkeit hoch ist und zu lange zu wenig passiert ist. Insofern leitet Macron wirklich liberale Reformen autoritär sein. Endet er auch wie Schröder?

Das Scheitern ist noch nicht abzusehen

Emmanuel Macron unternimmt ein großes Experiment. Er ist ein Außenseiter im politischen System und es gibt genügend intelligente Franzosen, die da meinen, im Land gebe es gar keine politische Mitte, das sei ein Schimäre, und bald schon werde das Links-Rechts-Schema wieder einsetzen. Kann sein, aber nur dann, wenn Macron scheitert und mit Verlaub: Danach sieht es nach einem Jahr nicht aus.

François Hollande, der zuvor Präsident war, hat soeben ein Buch veröffentlicht, in dem er Macron den "Präsidenten der Superreichen" nennt. Ganz toll. So halten es die Herren, die es nicht verwinden können, dass ihre Zeit abgelaufen ist. Hollande war übrigens derjenige Präsident, der nachts auf dem Roller inkognito zu seiner Geliebten düste, was immerhin Leidenschaft verriet, von der in seinen Amtsgeschäften nichts zu verspüren war. Er war ein großer, uninspirierter Langweiler, der niemandem weh tun wollte und auch deshalb unbeliebt war. Schweigen sollte er, damit er in die wohl verdiente Vergessenheit wie in eine tiefe Grube fällt.

Die Zeit und der Präsident passen zusammen

Macron denkt groß und handelt auch so. Wenn es gut geht, dann ist Frankreich jetzt endlich reif für die überfälligen Reformen. Wenn es gut geht, dann steht er die vielen Streiks durch, die noch kommen werden. Wenn es gut geht, dann passen der Präsident und die Zeit zusammen, denn in der Politik hängt viel davon ab, ob der richtige Mann zur richtigen Zeit die richtigen Einfälle hat.

Auch anderswo gab es junge Politiker, die wie Ikarus aufstiegen. Sie kamen der Sonne so schnell nicht zu nahe und hielten sich unterschiedlich lange dort oben in den Lüften. Als Tony Blair 1997 Premierminister wurde, war er 44 Jahre alt und hatte seiner Labour Party das Radikale ausgetrieben. Er wollte sein Land reformieren, ohne so weit zu gehen wie der Franzose. Er scheiterte an seinem Ehrgeiz nach einem besonders engen Verhältnis zu Amerika im Gefolge von 9/11, was den Irakkrieg einschloss, und am Ende scheiterte er auch an seiner Partei. Linke Parteien in Europa, egal ob in Frankreich, England oder Deutschland, halten eine Zeit lang stille, wenn einer der Ihren regiert, gehen dann in die innere Emigration und bald darauf in die offene Rebellion. Ikarus Blair hielt sich zehn Jahre lang hoch oben.

Auch Renzi scheiterte in Italien

Matteo Renzi war 39 Jahre alt, als Italien ihn zum Ministerpräsidenten wählte. Er nahm sich viel vor, ging viel an und scheiterte nach zwei Jahren: am politischen System, an seiner Ungeduld, am Timing, an seiner sozialdemokratischen Partei. Italien blieb unveränderbar Italien und wartet jetzt darauf, dass Lega Nord und die Bewegung Fünf Sterne eine Regierung bilden oder auch nicht oder vielleicht unter Einschluss der Berlusconi-Truppe. Die Populisten, die Rechten, die Europaskeptiker haben hier die Verantwortung inne. Bitter für ihr Land, bitter für Europa.

Macron ist der neue Ikarus. Er hat eine vergessene französische Tradition erneuert, den linken Liberalismus. Damit hat er die nationalistische Rechte um Marine Le Pen ins Abseits gedrängt, ein wirklich erfreulicher Kollateralnutzen. Er nutzt die Aura, die die Franzosen ihrem Präsidenten nicht nur zugestehen, sondern von ihm erwarten: Umringt von seinen Ministern zeichnet er im Élysée-Palast Gesetze ab, nimmt am 14. Juli die Parade ab und wiegt sich in der Geschichte seines Landes. Nebenbei sucht er illusionslos ein gutes Verhältnis zu Donald Trump und geht auch ein Risiko ein, wenn er in Syrien unterstützt und auf militärische Zusammenarbeit mit Amerika baut.

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Am 9. Mai bekommt Emmanuel Macron den Karlspreis der Stadt Aachen verliehen. Das ist richtig so, denn er will ernsthaft das Projekt Europa vorantreiben. Dazu hat er vor geraumer Zeit etliche Ideen formuliert, die aus der Lähmung, der Stagnation herausführen könnten. Nicht jede Idee ist ausgereift, nicht jede muss verwirklicht werden. Aber darüber reden, darüber debattieren ließe sich schon. Kann das bitte mal jemand der Bundeskanzlerin sagen?

Ein Jahr ist Emmanuel Macron nun Präsident. Erstaunlich viel hat er auf den Weg gebracht. Er wird Rückschläge erleiden, sicherlich auch die eine oder andere Niederlage. Im Verwinden und im Überwinden von Widrigkeiten zeigt sich der Charakter eines Politikers.

Ich traue Emmanuel Macron zu, dass er die Willenskraft und den Sinn für das richtige Timing besitzt, um sein Land zu reformieren und Europa gutzutun. Allein kann er das nicht, nein, dazu braucht er Verbündete. Findet er sie, kann sich dieser Ikarus lange hoch oben halten.

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