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Belfast in Nordirland: Gefangen hinter Mauern der Vergangenheit


Ein Besuch in Nordirland
Belfast – gefangen hinter Mauern der Vergangenheit

Von Nathalie Rippich

14.04.2019Lesedauer: 5 Min.
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Ein Durchgang an der "Peace Wall" in Belfast: Die Tore können jederzeit geschlossen werden, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken ist hier noch allgegenwärtig.Vergrößern des Bildes
Ein Durchgang an der "Peace Wall" in Belfast: Die Tore können jederzeit geschlossen werden, um gewalttätige Auseinandersetzungen zu vermeiden. Der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken ist hier noch allgegenwärtig. (Quelle: N. Rippich/T-Online-bilder)

Pulsierende Metropole und bedrückendes Zeugnis der Geschichte: Belfast kann sich von seiner gewalttätigen Vergangenheit nicht befreien. Die Menschen Nordirlands brauchen eine starke Führung – doch sie werden im Stich gelassen.

Belfast – Stadtzentrum: Menschenmassen drängen sich durch die Einkaufsstraßen, Junggesellen grölen auf Bierbikes, Straßenmusiker singen, Breakdancer tanzen. Touristen stehen Schlange an den Haltestellen der Sightseeingbusse. Die Stadt pulsiert.

Das Rathaus der nordirischen Hauptstadt ist ein Veranstaltungsort des Belfast Film Festival, das zurzeit stattfindet. Menschen aller Altersgruppen und Nationalitäten tummeln sich am zentralen Donegall Square. Musik schallt über den Platz. Zunächst fällt die kleine Gruppe älterer Menschen in dem Gewimmel nicht weiter auf. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich: Da läuft eine Demonstration.

Wogegen – oder wofür? "Die britische Flagge gehört auf das Belfaster Rathaus", ruft Ann gegen den Lärm der Umgebung an. Ann ist klein, mindestens 70 Jahre alt und ganz klar Protestantin. Wirklich viel über sich verraten möchte sie nicht. Seit sieben Jahren – so viel verrät sie dann doch – kommt sie jeden Samstag zum Rathaus. Ann bemerkt meinen verwirrten Blick. "Es wäre gar nicht aufgefallen, dass sie nicht da ist, stimmt’s?", fragt sie. "Aber wie würdest du es finden, wenn die Flagge deines Landes nicht auf dem Rathaus der Hauptstadt wehen würde?"

Der Nordirlandkonflikt schwelt seit Jahrhunderten

Bevor ich darüber nachdenken kann, ob mich das in irgendeiner Weise stören würde, antwortet Ann für mich: "Das ist einfach falsch. Belfast ist Nordirlands Hauptstadt, also muss die Flagge des Landes gehisst werden – der Union Jack. Wir sind hier in Großbritannien“, sagt sie voller Überzeugung – und Wut.

Und schon bin ich mittendrin in einem Konflikt, der hier seit einer halben Ewigkeit schwelt – seitdem im frühen 17. Jahrhundert gezielt Siedler aus England und Schottland nach Irland gebracht wurden, die sich sich in den nördlichen Gebieten niederließen. Ein Konflikt, der in Belfast keine zwei Kilometer vom bunten Stadtzentrum entfernt noch sicht- und spürbar ist.

Der Streit zwischen Unionisten und Nationalisten – also jenen, die sich Großbritannien zugehörig fühlen und jenen, die sich ein vereintes Irland wünschen – sei auch heute noch ein Thema, sagt Ann. "Natürlich. Was den Menschen angetan wurde, das vergisst man nicht einfach." Wenn Ann von diesen Menschen spricht, spricht sie vor allem von Mitgliedern der britischen Armee, die durch Kämpfer der paramilitärischen IRA ums Leben gekommen sind. Was Ann nicht erwähnt: Die vielen Toten auf Seiten der Nationalisten. Kein Wort davon, dass die Gewalt auf beiden Seiten eskaliert ist, dass der Nordirlandkonflikt eine Spirale der Gewalt war, in der sich viele schuldig gemacht haben – und viele Unbeteiligte ihr Leben verloren haben. Für mich als Außenstehende ist es leicht, dieses Urteil zu fällen. In Belfast begegnet einem das "Wir-gegen-die-anderen" jedoch auch heute noch an vielen Orten.

Zeugnisse einer gewalttätigen Vergangenheit

Besonders anschaulich wird der Streit um Nordirland ein Stück nordöstlich der Innenstadt – zwischen der Shankill Road und der Falls Road. Hier eskalierte die Gewalt in den späten 1960er und 1970er Jahren. Die Shankill Road gilt bis heute als Hochburg der Unionisten. Nicht einmal einen Kilometer weiter konzentrieren sich rund um die Falls Road Nationalisten. Auch 2019 leben die Bewohner umstrittener Gebiete noch immer hinter massiven Zäunen mit bedrohlichen Stacheln, verbarrikadieren sich nachts hinter mehreren Toren. Aus Angst vor Angriffen der jeweiligen Gegenseite.

Getrennt werden die beiden Gegenden durch eine "Peace Wall", eine Friedenslinie. Was schön klingt, ist in Wahrheit ein meterhoher Zaun entlang des Cupar Ways, der nur durch doppelte Tore passiert werden kann. Diese Tore können jederzeit geschlossen werden – um die Konfliktparteien auseinander zu halten und eine erneute Eskalation der Gewalt zu verhindern.

Ann sagt, sie wolle keine Gewalt, keine Toten mehr. Das sehen die meisten Nordiren so. Nachgeben will Ann aber nicht. Sie ist sauer. Sauer, dass die katholische und irisch-republikanische Sinn Féin, eine Partei, die für sie aus Mördern und Terroristen besteht, im Rathaus der Stadt so viel Einfluss hat. Sauer, dass die Flagge Großbritanniens nur an wenigen Tagen im Jahr in Belfast gehisst wird – und sauer, dass Theresa May "nicht liefert".

Der Brexit macht Hoffnung

Wie das zusammenhängt, will ich wissen – dieser uralte Konflikt und das vergleichsweise junge Drama um den Brexit. Für Ann ist es ganz logisch: Der Brexit würde die Diskussionen um Nordirlands Zugehörigkeit zu Großbritannien beenden. Großbritannien hat eine Entscheidung getroffen, Nordirland als Teil trage diese mit. Alles würde sich zum besseren entwickeln.

Dass die meisten Nordiren für einen Verbleib in der Europäischen Union gestimmt haben, hat für Ann kein Gewicht. 56 Prozent der Nordiren hatten für den Verbleib gestimmt. 44 Prozent wollten raus. "Das war nur eine knappe Mehrheit – und die Mehrheit von Großbritannien, von dem Nordirland ein Teil ist, will nun einmal raus", fordert sie. Sie fühle sich in Nordirland, so wie es jetzt ist, verdrängt, nicht ernst genommen. Dabei sei das auch ihr Zuhause. Der Kampf um die Flagge auf dem Belfaster Rathaus ist symbolisch. Ann hat, wie viele Protestanten, Angst ihrer britischen Identität beraubt zu werden.

Erst in Belfast habe ich die Zerrissenheit Nordirlands wirklich verstanden. Gesehen, dass der Konflikt auch heute noch ein Thema ist. Während die Menschen an der Grenze zwischen Irland und Nordirland vor allem Angst um ihre Bewegungsfreiheit haben, geht in Belfast – eine Autostunde von der Grenze entfernt – die Angst um, eine Seite könnte durch den Brexit die Oberhand gewinnen. Hier stehen Zäune und Mauern als Zeugnis eines in Stein gemeißelten Kampfes um Identität und Zugehörigkeit.

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Nordirland wird von der Politik im Stich gelassen

Um diese Mauern einzureißen, bedarf es einer sensiblen Politik. Doch von ihren Volksvertretern fühlen die Nordiren sich im Stich gelassen. Das vereint Unionisten und Nationalisten. Sie sind enttäuscht. Enttäuscht von Theresa Mays Regierung, von den Abgeordneten in Westminster – und von ihrem eigenen Parlament. Das arbeitet zurzeit gar nicht, ist suspendiert, weil die gewählten Parteien sich nicht einigen konnten. Eigentlich sollen hier – so regelt es das Karfreitagsabkommen, das den Frieden in Nordirland garantieren soll – Vertreter beider Konfliktparteien gemeinsam arbeiten, für faire Bedingungen auf beiden Seiten sorgen. Doch Stormont thront leer über der Stadt.


In Belfast habe ich gelernt, dass die Nordiren führungslos sind. Die Geschichte hat ihnen eine Bürde auferlegt, die die Menschen nun ohne eine starke Führung, ohne richtungsweisende Anstrengungen, tragen müssen. Der Brexit ist hier nur eines von vielen Problemen, das zur Segregation beiträgt. "Die gesamte Politik hat die Menschen im Stich gelassen", sagt Ann – und spricht damit sicher vielen aus der Seele.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche vor Ort
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