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Türkei-Wahl: Was, wenn Erdoğan verliert? Das große Chaos droht


Verliert Erdoğan die Türkei-Wahl?
Es droht Chaos

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 14.05.2023Lesedauer: 6 Min.
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Erdoğan gegen Kılıçdaroğlu: Der amtierende türkische Präsident hat vor der Wahl an Zustimmung verloren, (Quelle: Reuters)

Es ist eine Schicksalswahl für Recep Tayyip Erdoğan und für die Türkei. Aber wirft der Langzeitpräsident bei einer Niederlage friedlich das Handtuch? Die Nervosität steigt.

Die Anspannung in der Türkei ist groß. Das Land wählt an diesem Sonntag einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Für Recep Tayyip Erdoğan wird es eng, er wird sich laut Meinungsumfragen mit dem Spitzenkandidaten der kemalistischen CHP Kemal Kılıçdaroğlu ein enges Rennen liefern. Die großen konkurrierenden Wahlallianzen sind sich nur vor allem in einem Punkt einig: Für die Türkei ist es eine Schicksalswahl.

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Nach 20 Jahren als Präsident kann es bei dieser Türkei-Wahl tatsächlich so weit sein: Erdoğan könnte aus seinem Staatspalast ausziehen müssen. Für sein Land wäre es das Ende einer Ära, eine politische Zeitenwende. Aber die Nervosität in der Bevölkerung ist groß. Es gibt durchaus Angst und Respekt vor diesem möglichen Knall. Denn in Teilen der türkischen Politik gibt es kaum Vorstellungen darüber, wie es dann weitergehen soll.

Die Opposition in der Türkei hat vor allem ein Ziel: Erdoğan bei einer Wahl besiegen.

Doch die Frage, ob die sechs Parteien im Bündnis von Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu über die Legislatur eine stabile Regierung aufbauen können, ist unklar. Auch fraglich ist, ob Erdoğan bei einer Wahlniederlage einen friedlichen Machtwechsel einleiten würde. In jedem Fall stehen der Türkei nach dieser Wahl stürmische bis chaotische Zeiten bevor. Deshalb blicken auch die internationalen Partner gespannt auf das, was in den kommenden Wochen in dem Nato-Land passiert.

Kein Vertrauen in den politischen Gegner

Die türkische Gesellschaft ist nach Jahren der Erdoğan-Herrschaft tief gespalten, auch deswegen ist das gegenseitige Misstrauen vor dieser Wahl groß. Der türkische Präsident hat in den vergangenen zehn Jahren ein Herrschaftssystem aufgebaut, das auf ihn zugeschnitten ist und ihm möglichst große Macht sicherte. Er griff die Pressefreiheit an, die Justiz ist nicht mehr unabhängig, die Gewaltenteilung und damit auch die türkische Demokratie sind stark beschädigt.

Die Gegner von Erdoğans islamistisch-konservativer Partei AKP trauen der türkischen Regierung deshalb nicht, dass die Auszählung der Stimmzettel bei dieser Wahl ohne Komplikationen ablaufen wird. Die Folge: Viele Menschen haben sich freiwillig als Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter gemeldet, möchten die Zahlen am Wahlabend überprüfen. "Wir haben viel Zulauf", sagte Gonca Açıkalın von der Organisation "Die Wahlstimme und mehr" dem ARD-"Weltspiegel".

Zumindest die größten Parteien – die AKP und die kemalistische CHP – möchten Beobachter in alle Wahllokale entsenden. Hinzu kommen ehrenamtliche Beobachter und auch die OSZE ist zur Überprüfung der Wahl im Land. Die Umfragen der vergangenen Monate zeigen, dass es zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu knapp ausgehen könnte. Deswegen zählt jede Stimme und jede Stimme soll auch ordnungsgemäß zählen. Eine Übersicht über die Umfragen vor der Präsidentschaftswahl finden Sie hier.

Kılıçdaroğlu zeichnet ein Kontrastbild

Auch wenn Umfragen in der Türkei durch ihre Parteinähe oft von der tatsächlichen politischen Stimmung abweichen können, liegt Kılıçdaroğlu in einem Großteil der Erhebungen in Führung. Anfangs wurde der Kandidat belächelt, weil er noch nie eine Wahl gewonnen hat. Doch ihm ist es im Wahlkampf gelungen, sich als Gegenmodell von Erdoğan zu inszenieren.

Er predigt von Liebe und teilt in den sozialen Netzwerken Videos aus seiner bescheidenen Küche, während Erdoğan aus einem Palast herrscht. Damit hat er dem Präsidenten den Wind aus den Segeln genommen. Denn auch Erdoğan musste daraufhin weniger über seine Gegner schimpfen und versöhnlichere Töne anstimmen, manchmal sogar mit einem Lied.

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Trotzdem ist der amtierende Präsident ein guter Wahlkämpfer. In der Vergangenheit schaffte er es bei Wahlen immer wieder von seinen persönlichen Beliebtheitswerten zu profitieren. Doch diesmal scheint es anders – und dafür gibt es Gründe:

  • Die Türkei befindet sich noch immer in einer Wirtschafts- und Währungskrise, die die türkische Regierung bislang nicht unter Kontrolle bringen konnte. Die Lira ist im Vergleich zum US-Dollar und Euro im Mai auf den niedrigsten Stand nach ihrer Einführung gerutscht. Die Inflationsrate betrug im April 2023 rund 43,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.
  • Die Inflation bestimmt seit vielen Jahren den Alltag vieler Menschen in der Türkei. Das Land ist auf Technologieimporte angewiesen, viele Menschen haben Kredite in Fremdwährungen. Auch Lebensmittel wurden teurer. Der Wohlstand schrumpft und für Erdoğan war das Wohlstandsversprechen das Zentrum seiner Macht.
  • Die Wahlen werden von dem Erdbeben im Februar 2023 überschattet, bei dem mehr als 51.000 Menschen starben und ganze Städte im Südosten verwüstet wurden. Erdoğan reagierte zu spät und die türkische Regierung nahm jahrelang Warnungen von Experten nicht ernst. Die Erdbebensicherheit fiel teilweise der Korruption in der Bauwirtschaft zum Opfer.
  • Auch die Einstellung gegenüber den Geflüchteten aus Syrien hat sich in den vergangenen Jahren geändert. Sie konkurrieren mit der türkischen Bevölkerung um Arbeit und Wohnraum. Deswegen wird Erdoğans Flüchtlingsdeal mit der EU in der Türkei immer negativer gesehen.
  • Letztlich ist das Präsidialsystem in der Türkei nicht unumstritten, weil es dem Parlament Macht genommen hat. Die Opposition zeichnet teilweise erfolgreich ein Bild: Erdoğan lebt in einem Palast, schafft Gelder für seine Familie beiseite, während die Bevölkerung mit Armut ringt.

Erdoğans treue Anhänger

In der Summe wären all diese Punkte zusammen in vielen Ländern wahlentscheidend, in der Türkei sind sie es allerdings vielleicht nicht. Noch immer besitzt Erdoğan einen großen Rückhalt in der Gesellschaft. Das liegt auch daran, dass die Opposition inhaltlich kaum eigene Konzepte vorgelegt hat. Kılıçdaroğlus Botschaft: Er möchte es anders machen als die aktuelle türkische Regierung. Aber wie, bleibt in vielen Punkten offen.

Ein Beispiel dafür ist die Flüchtlingspolitik. Kılıçdaroğlu kündigte zwar an, den Flüchtlingsdeal mit der Europäischen Union neu verhandeln zu wollen und dass er 3,5 Millionen Geflüchtete nach Syrien zurückschicken möchte. Aber er macht die Rechnung bisher ohne den syrischen Diktator Baschar al-Assad, der als Gegenleistung verlangt, dass die türkischen Truppen vom syrischen Staatsgebiet abrücken. Eine Einigung ist nicht in Sicht.

Diese unkonkreten politischen Ideen des Oppositionsbündnisses führen dazu, dass die AKP im Wahlkampf vor Chaos warnen kann. Erdoğans Partei bedient das Narrativ, dass gläubigen Muslimen bei einem Machtwechsel das Recht genommen werden würde, ihren Glauben öffentlich auszuleben. Kılıçdaroğlu hat das nicht vor, aber es war die AKP, die nach ihrer Gründung vor über 20 Jahren vielen Konservativen in der Türkei eine politische Stimme gab. Vorher war beispielsweise das Tragen von Kopftüchern in staatlichen Gebäuden oder an Universitäten verboten gewesen.

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Vor allem die konservativen Wählerschichten sehen Erdoğan als Verteidiger ihres Glaubens und das sicherte dem Amtsinhaber treue Anhänger, aller wirtschaftlichen Probleme zum Trotz.

Wie stabil kann die Türkei regiert werden?

Das politische Chaos in der Türkei droht unabhängig von der Opposition. Es kämpfen zwei Wahlbündnisse gegeneinander – mit Parteien, die bei der Präsidentschaftswahl auf eigene Kandidaten verzichten und ihre Anhänger dazu aufrufen, Erdoğan oder Kılıçdaroğlu zu wählen. Diese Unterstützung ist natürlich nicht umsonst: So müsste Erdoğan zum Beispiel Zugeständnisse gegenüber der rechtsextremen MHP machen.

Noch größer ist die Aufgabe für Kılıçdaroğlu: Der CHP-Politiker müsste auch als Präsident von sechs Parteien gestützt werden. Darunter sind die konservative Kräfte wie iYi, aber auch kleinere Splitterparteien, die nationalistisch und antisemitisch auftreten, sind dabei.

Eine weitere Herausforderung für Kılıçdaroğlu als Präsidenten könnte werden, dass die AKP weiterhin stärkste Kraft im Parlament werden könnte. Für neue Gesetzesentwürfe bräuchte er dann auch die prokurdische HDP für eine Mehrheit. All diese Parteien hinter eine Regierungspolitik zu bringen, könnte schwierig werden. Doch das übergeordnete Ziel scheint zunächst einmal zu sein, Erdoğan in den politischen Ruhestand zu zwingen.

Angst vor Unruhen und Gewalt

Letztlich ist der Sieg über den Langzeitpräsidenten und das Beenden der Ära Erdoğan für die Opposition die erste große Hürde. Die Angst, dass der türkische Präsident und seine Anhänger eine Niederlage nicht kampflos akzeptieren, ist vielleicht auch deshalb groß.

Deshalb forderte Kılıçdaroğlu die türkischen Bürger bereits dazu auf, am Wahlabend zu Hause zu bleiben, um Ausschreitungen zu vermeiden. Die Türkei erlebte oft Militärputsche, gewaltsame Unruhen und zu oft rollten türkische Panzer über Straßen und Brücken der Großstädte. Aufgrund der Vergangenheit haben wahrscheinlich viele Menschen Angst, dass eine derartige politische Zeitenwende wie das Ende der Ära Erdoğans nur gewaltsam vollzogen werden kann.

In welche Richtung das Land steuert, bleibt also unklar. Vor allem die Nato-Partner möchten nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich in die Wahl einmischen möchten. Das könnte Erdoğan ermöglichen, eine Niederlage mit der Wahlmanipulation durch den Westen zu begründen, erfuhr t-online aus diplomatischen Kreisen.

Klar ist: Für die EU wäre Kılıçdaroğlu der Kandidat, der bei einem Wahlsieg den Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara wieder neuen Schwung geben könnte. Der russische Präsident Wladimir Putin dagegen fürchtet, mit Erdoğan einen Verbündeten zu verlieren. Das Wahlergebnis am Sonntag wird also Folgen haben, weit über die Türkei hinaus.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • foreignpolicy.com: Yes, Erdogan’s Rule Might Actually End This Weekend (engl.)
  • foreignaffairs.com: Turkey’s Resilient Autocrat (engl.)
  • ard.de: Weltspiegel extra: Ende der Ära Erdogan?
  • de.statista.com: Umfragen zur türkischen Präsidentschaftswahl
  • zdf.de: Diese Themen entscheiden die Türkei-Wahlen
  • zeit.de: Türkei steht Richtungsentscheidung bevor
  • tagesschau.de: "Mit einem Bein immer im Gefängnis"
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