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Corona in Brasilien: Bolsonaros Politik kostet täglich Tausende Menschenleben


Epizentrum der Pandemie
500.000 Corona-Tote: Das Drama in Brasilien nimmt kein Ende


Aktualisiert am 22.06.2021Lesedauer: 5 Min.
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Blumen am Strand: In Brasilien sind mittlerweile mehr als 500.000 Menschen im Rahmen der Corona-Pandemie gestorben. (Quelle: reuters)

In Europa entspannt sich die Corona-Lage weitgehend, Südamerika wird zum Hotspot. Das liegt auch an den Neuinfektionen in Brasilien: Der riskante Kurs von Präsident Bolsonaro hat fatale Folgen.

"Seit Beginn der Pandemie habe ich gesagt, dass ich die Todesfälle bedaure, aber dass wir leben müssen." So begründete der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro vor Kurzem seine Entscheidung, das südamerikanische Fußballturnier "Copa América" in Brasilien stattfinden zu lassen. Und das ausgerechnet in dem Land, das am Wochenende höchst bedenkliche Zahlen veröffentlichte.

Mehr als 500.000 Menschen sind in dem Staat mit seinen weit über 210 Millionen Einwohnern inzwischen an Covid-19 gestorben. Nur die USA haben mit mehr als 600.000 Corona-Toten mehr Todesopfer zu beklagen.

Besonders besorgniserregend: 250.000 Tote wurden in Brasilien in den ersten elf Monaten der Pandemie gemeldet – ebenso viele verzeichnet das Land nun binnen vier Monaten. Dennoch wird dort nun ein großes Fußballturnier ausgetragen. Der bisherige Zwischenstand: 53 gemeldete Corona-Fälle. Dass es bis zum Finale am 10. Juli noch mehr werden, ist absehbar.

Bolsonaro verharmlost Virus seit Beginn der Pandemie

Warum hält Bolsonaro trotzdem daran fest? Seit Beginn der Pandemie verharmlost die Regierung des rechten Präsidenten das Virus. Sie stemmte sich gegen harte Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise – zu erheblich seien die wirtschaftlichen Folgen. Corona sei weniger schlimm als die Konsequenzen eines Lockdowns, so das Argument.

Zuletzt zweifelte Bolsonaro auch den Sinn von Impfungen an. Sich anzustecken sei ein effektiverer Schutz, behauptete er. Er selbst hatte sich im vergangenen Sommer infiziert. Dennoch spielte er das Virus herunter: "Ich denke, dass leider fast alle von Ihnen sich eines Tages anstecken werden. Wovor haben Sie Angst?"

Wut in der Bevölkerung nimmt zu

Allerdings wächst in Brasilien inzwischen die Wut auf den Regierungschef. Tausende Menschen gingen am Wochenende auf die Straßen, um gegen Bolsonaros Corona-Politik zu demonstrieren. In der Hauptstadt Brasília sowie in zahlreichen Provinzhauptstädten forderten die Bürger mehr Impfungen, wirtschaftliche Unterstützung in der Krise – und seinen Rücktritt. "Seine Position zu Covid und seine Verleugnungen sind absurd. Er hat die Realität und den gesunden Menschenverstand aufgegeben", sagte ein Demonstrant einem Medienbericht zufolge.

Die Fakten sprechen für sich: Derzeit kommen täglich rund 80.000 Neuinfektionen hinzu, insgesamt haben sich bereits fast 18 Millionen Menschen in dem südamerikanischen Land infiziert – zumindest offiziellen Angaben zufolge. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.

"Der Plan scheint gewesen zu sein, eine natürliche Durchseuchung zu erreichen, also die sogenannte Herdenimmunität", sagt der Professor für Internationale Beziehungen der FGV-Universität in São Paulo, Oliver Stuenkel, t-online. Das erkläre auch, warum Bolsonaro jegliche Versuche, etwa Abstandsregeln und Maskenpflicht durchzusetzen, immer abgelehnt habe. "Und auch die Wissenschaftler, die über dieses Thema gesprochen haben, hat er systematisch bekämpft. Zudem hat er Verschwörungstheorien gefördert und angefeuert", sagt Stuenkel.

Gouverneuren, die Schutzmaßnahmen durchsetzen wollten, drohe er mit dem Einsatz des Militärs. Bolsonaros Politik koste Tag für Tag Menschenleben. Um die Fallzahlen zu verringern, müsse eine andere Art der Kommunikation stattfinden, so der Brasilien-Experte. "Das ist aber leider sehr unwahrscheinlich."

Impfungen müssen schneller vorangehen

Eine effektive Alternative? Eine erfolgreiche Impfkampagne. Doch die stockt. Knapp 30 Prozent der Brasilianer haben bislang die erste Impfdosis erhalten, etwa elf Prozent sind vollständig geimpft. Den Grund für die eher geringen Quoten sehen viele in der schlechten Planung der Regierung. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss prüft derzeit Bolsonaros Krisenmanagement. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, vergangenes Jahr ein Lieferangebot von Pfizer über 70 Millionen Impfdosen abgelehnt zu haben. Bolsonaro beteuert, er habe alles, was in seiner Macht stehe, getan, um Impfstoffe zu kaufen. Dabei gab der Regierungschef erst im März 2021 eine Bestellung bei Pfizer in Auftrag.

Insidern zufolge will er das Impfprogramm nun endlich beschleunigen: Er habe bei Pfizer angefragt, ob die für das vierte Quartal bestimmte Lieferung auf Juni vorgezogen werden könne. Womöglich nicht ganz ohne Hintergedanken: Denn in der Bevölkerung genießt das Vakzin von Biontech/Pfizer größeres Vertrauen als die Mittel von Astrazeneca und Sinovac. Bislang sind es jedoch eben die beiden letzteren Impfstoffe, die in Brasilien vorwiegend zum Einsatz kommen. Lediglich vier Prozent der verimpften Dosen kommen von Pfizer.

Bolsonaro wollte chinesischen Impfstoff nicht kaufen

Das stellt ein Problem dar: Viele Brasilianer lehnen Astrazeneca und Sinovac ab. Das liegt auch daran, dass Bolsonaro das Misstrauen in der Bevölkerung verstärkt. "Es ist gar nicht so selten, mit Menschen zu sprechen, die große Angst vor der Impfung haben aufgrund der Informationen der Regierung", sagt Experte Stuenkel.

Der brasilianische Präsident hatte sich zu Beginn der Impfkampagne zunächst geweigert, den Sinovac-Impfstoff der chinesischen Firma Coronavac zu kaufen. Erst als keine anderen Optionen zur Verfügung standen, schloss Bolsonaro den Vertrag – das Vakzin verspottete er jedoch öffentlich.


Die Mikrobiologin Natalia Pasternak, die immer wieder öffentlich Kritik an Bolsonaros Corona-Strategie äußert, forderte in einem Medienbericht: "Es ist die Aufgabe der Regierung, den Leuten zu sagen, dass sie nicht wählerisch sein sollten. Dass sie (die Impfstoffe, Anm. d. Red.) alle effektiv und gut sind." Selbst Patienten, die mit starken Covid-Symptomen ins Krankenhaus eingeliefert würden, glaubten teilweise nicht daran, dass ihre Krankheit etwas mit Covid-19 zu tun habe, sagt Brasilien-Experte Stuenkel. "Die, die die Pandemie anzweifeln, gibt es ja überall, aber in Brasilien haben sie durch den Präsidenten und seine Berater natürlich ein Sprachrohr." Das erleichtere die Verbreitung der falschen Fakten.

Auch die Etablierung des britisch-schwedischen Impfstoffes Astrazeneca scheiterte in Teilen, weil Nebenwirkungen wie Thrombosen Schlagzeilen machten. Die Bürger seien dadurch verunsichert worden, meint Stuenkel: "Es gibt viele Brasilianer, die gar keine Impfung wollen oder die nur die erste Dosis bekommen, was natürlich dann auch keinen ausreichenden Schutz darstellt." Die Regierung gab diesbezüglich keine Entwarnung, wie es etwa in europäischen Ländern der Fall war.

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Noch mehr Menschen werden sterben

Eine weitere Sorge wächst: noch mehr Mutanten, die im Zweifel infektiöser als der Wildtyp sind und erheblichen Einfluss auf das weltweite Infektionsgeschehen haben können. Im November vergangenen Jahres tauchte die sogenannte Gamma-Variante P.1 zuerst in Brasilien auf. Sie gilt als weitaus ansteckender als der Wildtyp und ist inzwischen weitverbreitet.

Die Entstehung neuer Varianten gilt es also zu verhindern – aber wie? Neben den Impfungen sind weitere Schritte erforderlich: "Härtere Distanzierungsmaßnahmen müssten eigentlich jetzt stattfinden und man müsste auch gerade, was Ansammlungen angeht, sehr viel rigoroser vorgehen", sagt Experte Stuenkel auch mit Blick auf das Fußballturnier "Copa". Zudem sollte mehr getestet werden, fordert die brasilianische Expertin Pasternak einem Medienbericht zufolge.

Andernfalls wagt Stuenkel eine düstere Prognose: "Wir werden weiterhin sehr, sehr hohe Fallzahlen sehen. Der Großteil der Experten geht davon aus, dass die Fallzahlen jetzt noch einmal ansteigen werden – und auch die Todeszahlen. Die Pandemie in Brasilien ist in 2021 viel schlimmer als 2020, deshalb werden wir die Todeszahlen der Vereinigten Staaten überholen. Südamerika ist das Epizentrum der Pandemie."

Verwendete Quellen
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