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Blutiger Häuserkampf mit Russland: Wann fällt Mariupol?


Umkämpfte Hafenstadt
Warum die Eroberung Mariupols für Putin so wichtig ist


Aktualisiert am 29.03.2022Lesedauer: 7 Min.
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Mariupol: Die Hafenstadt wird seit Wochen heftig von russischen Truppen bombardiert – Bewohner melden sich zu Wort. (Quelle: reuters)

Die russische Armee hat weite Teile von Mariupol erobert. Es tobt ein Kampf um jede Straße und jedes Haus. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Stadt fällt. Aber auch Russland zahlt dafür einen hohen Preis.

Grüne Parks, bunte, majestätische Gebäude, Menschenmengen, die einem Konzert lauschen: In Mariupol herrschte vor wenigen Monaten noch ganz normaler Alltag. Ein bewegendes Video zeigt, wie die Stadt vor dem Beginn der russischen Invasion aussah.

Heute ist von all dem nichts mehr übrig: Die Stadt ist nach dem Angriff durch Russland ein Trümmerfeld. Zerstörte Gebäude, ausgebrannte Autos, geplünderte Geschäfte. Noch immer harren zahlreiche Zivilisten in der Stadt aus, in Kellern suchen sie Schutz vor russischen Bomben. In den Straßen von Mariupol sollen viele Leichen liegen, die nicht begraben werden könnten, berichtete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Besonders in der Hafenstadt zeigt sich das Grauen dieses Krieges.

Eingekesselt und vom Nachschub abgeschnitten

Mariupol ist bislang die Stadt im Ukraine-Krieg, die seit vier Wochen am härtesten umkämpft ist. Es gibt keinen Strom, keine Heizung, kaum noch Nahrung und Wasser – und auch keinen Nachschub an Waffen und Munition für die ukrainischen Kräfte, die in der wichtigen Hafenstadt die Stellung halten.

Nach Angaben der ukrainischen Regierung sind in Mariupol innerhalb von vier Wochen mehr als 5.000 Menschen getötet worden. Die tatsächliche Zahl könnte noch deutlich höher liegen, bei "ungefähr 10.000", wie eine Regierungsvertreterin am Montag der Nachrichtenagentur AFP sagte. Berichte gab es auch von Massengräbern mit bis zu 200 Leichen. Die Angaben ließen sich nicht von unabhängiger Seite bestätigen. Journalistinnen und Journalisten haben die Stadt verlassen.

In Mariupol halten sich nach Schätzungen des Bürgermeisters Wadym Bojtschenko noch etwa 160.000 Bewohner auf. Vor dem Krieg lebten rund 440.000 Menschen in der Industrie- und Hafenstadt am Asowschen Meer. Es sei unmöglich, in der zerstörten Stadt noch zu wohnen, sagte Bojtschenko.

Humanitäre Katastrophe

Ukrainischen Angaben zufolge sind 90 Prozent der Wohngebäude der Stadt aufgrund russischer Angriffe beschädigt, ebenso sieben Krankenhäuser, drei davon seien komplett zerstört worden. 57 Schulen und 70 Kindergärten seien getroffen worden, davon mindestens 23 komplett zerstört. Sehen Sie in unserer Fotoshow das Ausmaß der Zerstörungen.

Für weltweites Aufsehen sorgte besonders der Angriff auf das Theater in Mariupol: Mehr als 1.000 Menschen sollen sich dort in einem Schutzraum aufgehalten haben, als das Gebäude von einer Bombe getroffen wurde. Ukrainische Behörden werfen der russischen Armee vor, das Theater gezielt angegriffen zu haben. Russland macht ukrainische Nationalisten verantwortlich.

Mindestens 300 Zivilisten sollen bei der Explosion ums Leben gekommen sein. Besonders makaber: Auf Satellitenaufnahmen war zu sehen, dass das Wort "Kinder" in großen russischen Buchstaben vor das Theater gemalt worden war, um das Gebäude vor Angriffen zu schützen. Vergebens. Immer noch suchen Einsatzkräfte in den Trümmern nach Menschen. Einige konnten bereits gerettet werden.

Die Aufnahmen von Zerstörungen einer Geburtsklinik in Mariupol gingen ebenso um die Welt: Mehrere Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt. Auch hier machte die Ukraine die russische Armee für den Angriff verantwortlich, Russland wies die Anschuldigungen erneut von sich, gezielt Zivilisten anzugreifen.

Moskau behauptete, die Geburtsklinik sei keine solche gewesen, sondern zuletzt von ukrainischen Kämpfern genutzt worden. Von ukrainischer wie auch von UN-Seite jedoch hieß es, dass es sich um eine zu dem Zeitpunkt noch funktionierende Geburtsklinik gehandelt habe.

Noch ist Mariupol nicht gefallen

Aber wie steht es nun wirklich um Mariupol? Ist die Hafenstadt bald in russischem Besitz – oder setzen sich die ukrainischen Truppen durch?

Stand heute hat Russland Mariupol noch nicht erobert. Das britische Verteidigungsministerium geht aufgrund von Geheimdienstinformationen davon aus, dass das Zentrum noch unter der Kontrolle der ukrainischen Armee ist.

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Die russische Seite betonte zuletzt, dass die Eroberung Mariupols kurz bevor stehen würde. Viele Stadtteile seien bereits eingenommen worden, hieß es im russischen Staatsfernsehen. "Leider sind wir hier jetzt in der Hand der Besatzer", sagte Bürgermeister Bojtschenko am Montag. Allerdings wurde nicht klar, inwieweit sich dies auf die Kontrolle des Stadtgebiets bezog. Möglicherweise zielte er vor allem auf die Situation in den Fluchtkorridoren. Diese würden praktisch komplett von den russischen Invasoren kontrolliert, sagte er.

Ukrainer kämpfen mit erbeuteten Waffen

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Stadt fällt. Darüber sind sich Militärexperten einig. Mariupol wird weiterhin von der russischen Armee beschossen, belagert und ausgehungert und ist von der Versorgung abgeschnitten. Die Verteidiger sind auf Waffen und Munition angewiesen, die man von den russischen Angreifern erbeutet. "Das kann noch dauern", meint Russland- und Militärexperte Gustav Gressel zu t-online. Aber die nächsten ukrainischen Kräfte, die den Belagerungsring um Mariupol attackieren könnten, seien über 100 Kilometer entfernt und könnten nicht eingreifen.

Es gilt als relativ gesichert, dass das Stahlwerk der Stadt noch in der Hand der Ukraine ist, es wird auch weiterhin durch russische Artillerie beschossen. Russland braucht in dem Krieg dringend militärische Erfolge, deshalb sind die Eroberungsmeldungen durch die russische Propaganda vorschnell und eher als Angriff auf die Moral der ukrainischen Verteidiger zu verstehen – auch der Einsatz der tschetschenischen Kräfte, die als besonders brutal gelten, ist vor allem psychologische Kriegsführung.

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In jedem Fall droht in Mariupol ein Blutbad, weil die ukrainischen Kräfte die Stadt bis zum letzten Mann verteidigen wollen. Der ukrainische Präsident hatte vergangene Woche in einem Interview mit unabhängigen russischen Medien erklärt, dass die Verteidiger nicht aufgeben würden, auch wenn er es anordnen würde.

Der Widerstand der Ukrainer zeigt: Der Kampf um die Stadt ist auch für Russland teuer. Jede Straße und jeder Häuserblock muss von den russischen Soldaten erobert werden. Es gibt Hinterhalte sowie Verteidigungsgräben und mehrere Angriffswellen auf die Stadt wurden in den vergangenen Wochen abgewehrt. Russische Panzer wurden zerstört, es starben wahrscheinlich auch viele russischen Soldaten bei den Kämpfen – auch wenn genaue Zahlen nicht bekannt sind.

Putin will ein Exempel statuieren

Mariupol wird auch vom "Regiment Asow" verteidigt, das sich nach Beginn des Ukraine-Konfliktes 2014 gründete und als besonders nationalistisch gilt. Sollten diese Kämpfer in die Hände Putins geraten, fürchten sie das Schlimmste: Schließlich ist der russische Präsident mit dem Vorwand der "Entnazifizierung" in diesen Krieg gezogen – und es ist wahrscheinlich, dass er an diesem Regiment ein Exempel statuieren möchte.

Nachdem Moskau angekündigt hat, sich künftig auf die "Befreiung des Donbass" zu konzentrieren, befürchtet Kiew eine weitere Zuspitzung der Lage in Mariupol.

Die Evakuierung der Hafenstadt wurde am Montag vorerst ausgesetzt. Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk erklärte, aufgrund von Warnungen des Geheimdienstes vor russischen "Provokationen" entlang der festgelegten Fluchtrouten würden "keine humanitären Korridore geöffnet".

Über in der Vergangenheit eingerichtete Fluchtkorridore aus Mariupol waren verhältnismäßig wenig Menschen geflohen. Russland warf der Ukraine mangelnde Zusammenarbeit vor. Die ukrainische Seite prangerte hingegen russischen Beschuss der Fluchtrouten an.

"Stadt von der Erdoberfläche ausradieren"

Die Lage in Mariupol ist höchst dynamisch: Noch vor wenigen Tagen hatte Bürgermeister Bojtschenko gesagt, über Mariupol wehe weiterhin die ukrainische Flagge und es bleibe weiterhin eine ukrainische Stadt. "Und unsere Soldaten tun alles, damit dies auch in Zukunft so bleibt", so Bojtschenko. Nun scheint sich das Blatt aus seiner Sicht gewendet zu haben.

Den russischen Militärs warf der Bürgermeister vor, rücksichtslos gegen alle Bewohner der inzwischen schwer zerstörten Stadt vorzugehen, auch gegen die ethnischen Russen. "Sie hatten nicht den Auftrag, irgendjemanden zu schützen", sagte Bojtschenko. "Ihre Aufgabe ist einfach, die Stadt von der Erdoberfläche auszuradieren, samt Bewohnern." Dies sei schlicht Völkermord, "eine andere Bezeichnung kann es dafür nicht geben".

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Präsident Selenskyj kritisierte in einer Videoansprache, dass Russland für eine katastrophale humanitäre Lage im stark zerbombten Mariupol verantwortlich sei. "Der Hafen ist vermint", sagte er. Es sei unmöglich, Lebensmittel, Medikamente und Wasser dorthin zu bringen. Selbst die Zerstörungen durch die russische Armee in Tschetschenien seien mit der Situation in Mariupol nicht vergleichbar. Russland bestreitet derweil weiter Angriffe auf Zivilisten.

Derweil bemühen sich Frankreich, Griechenland und die Türkei um die Evakuierung der Zivilisten, die sich noch in dem umkämpften Gebiet aufhalten. Als Voraussetzung nannte Frankreich, dass Russland die Belagerung der Stadt aufhebt. Sollte die Eroberung erfolgen, ist eine Evakuierungsmission wohl hinfällig.

Wichtige Landbrücke für Russland

Mariupol hat eine große strategische Bedeutung. Es ist die wichtigste ukrainische Hafenstadt am Asowschen Meer und der letzte Zugang der Ukraine zu dem Gewässer. Mariupol ist von entscheidender Bedeutung für den Export von Getreide und Stahl aus der Ostukraine. Die beiden Stahlwerke in der Stadt decken einen großen Teil des ukrainischen Stahlbedarfs.

Gelingt es der russischen Armee, Mariupol zu erobern, wäre die komplette Landbrücke von der Krim zu den sogenannten Volksrepubliken in russischem Besitz, was die Versorgung der 2014 annektierten Halbinsel erheblich vereinfachen würde.

Schon bevor Russland die Invasion gegen die Ukraine am 24. Februar begann, war Mariupol ein Ort, an dem die latente Bedrohung des Landes durch Russland zur täglichen Realität gehörte. Mariupol liegt im südöstlichen Donbass und ist nur 20 Kilometer von der Grenze der selbsternannten Volksrepublik Donezk entfernt. Seit 2014 kamen hier viele Geflüchtete an, die aus den "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk vertrieben wurden oder vor den prorussischen Separatisten geflohen waren.

Was, wenn Mariupol erobert wird?

Letztere erhebt Anspruch auf Mariupol: Es ist wahrscheinlich, dass Donezk nach der Eroberung die Verwaltung übernimmt – auch, wenn nicht mehr viel von der Stadt übrig sein wird. "Natürlich hätte man lieber eine intakte Stadt übernommen, aber die Landbrücke ist so wichtig für die Russen, dass sie auch eine Stadt nehmen, die dem Erdboden gleichgemacht wurde", sagte der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck "ZDFheute".

Und wie geht es weiter, wenn Mariupol erobert werden sollte? Es sei nicht davon auszugehen, dass die russische Offensive in Mariupol endet, sagte Politologe Mangott dem Bericht zufolge. Als nächstes würden die Angriffe auf Odessa – den zweiten wichtigen Hafen der Ukraine – verstärkt. Und auch das Hauptziel Kiew verliere durch die Einnahme von Mariupol nicht an Bedeutung.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
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