Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage
Kiew/Washington (dpa) - In der ukrainischen Hafenstadt Mariupol haben sich nach russischen Angaben nun alle KΓ€mpfer in dem belagerten Stahlwerk Azovstal ergeben.
Die Industriezone und die Stadt seien damit vollstΓ€ndig unter russischer Kontrolle, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitagabend mit. Es seien insgesamt 2439 ukrainische Soldaten seit dem 16. Mai in russische Gefangenschaft gekommen. Das Werk war das letzte StΓΌck der strategisch wichtigen Stadt im SΓΌdosten der Ukraine, das noch nicht komplett unter russische Kontrolle gewesen war.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu habe PrΓ€sident Wladimir Putin ΓΌber die "vollstΓ€ndige Befreiung des Werks und der Stadt Mariupol" berichtet. Am Freitag kam nach Angaben des Ministeriums die letzte Gruppe von 531 KΓ€mpfern in Gefangenschaft, hieΓ es in der Mitteilung der BehΓΆrde. Die Industriezone war seit dem 21. April von russischen Truppen blockiert gewesen. Der Kommandeur des Asow-Regiments sei in einem speziellen gepanzerten Fahrzeug abtransportiert worden.
Zuvor hatten die verbliebenen ukrainischen Verteidiger des Stahlwerks am Asowschen Meer erstmals erklΓ€rt, dass sie laut einem Befehl ihrer ArmeefΓΌhrung die Verteidigung der Stadt einstellen sollen. Dies sagte der Kommandeur des umstrittenen Nationalgarderegiments "Asow", Denys Prokopenko, in einer Videobotschaft. Damit sollten Leben und Gesundheit der Soldaten der Garnison geschΓΌtzt werden.
Am Montag hatten sich bereits die ersten 264 Soldaten ergeben, darunter ΓΌber 50 Schwerverletzte. Nach russischen Angaben kamen am Donnerstag weitere in Gefangenschaft. Die Kommandeure und einige KΓ€mpfer hatten bis zuletzt die Stellung gehalten. Insgesamt wurde in Moskau stets von rund 2500 ukrainischen KΓ€mpfern ausgegangen. Die Regierung in Kiew hingegen hatte deren Zahl nur mit 1000 angegeben.
Bis zuletzt sprach die ukrainische FΓΌhrung auch von einer "Rettungsoperation" statt einer Kapitulation und stellte einen baldigen Gefangenenaustausch mit Russland in Aussicht. Die Asow-KΓ€mpfer hatten immer wieder um Hilfe von den ukrainischen StreitkrΓ€ften gebeten. Russland fΓΌhrt seit knapp drei Monaten einen Angriffskrieg gegen den ukrainischen Nachbarn. Mariupol wurde bereits Anfang MΓ€rz von russischen Truppen komplett eingeschlossen und in den schweren KΓ€mpfen weitgehend zerstΓΆrt.
Selenskyj: Russischer Raketenangriff auf Kulturzentrum in Losowa
Der ukrainische PrΓ€sident Wolodymyr Selenskyj hat Russland fΓΌr einen Raketenangriff auf ein Kulturzentrum im Osten des Landes mit acht Verletzten verantwortlich gemacht. Bei dem Beschuss in der Stadt Losowa im Gebiet Charkiw sei auch ein elf Jahre altes Kind verletzt worden, schrieb das Staatsoberhaupt am Freitagabend im Nachrichtenkanal Telegram. "Die Besatzer haben Kultur, Bildung und Menschlichkeit als ihre Feinde identifiziert", meinte Selenskyj. Solche Angriffe seien eine "absolute Dummheit" und "Boshaftigkeit". Selenskyj verΓΆffentlichte auf seinem Account ein Video, das einen Raketeneinschlag zeigte. Danach war eine riesige Rauchwolke zu sehen.
Russland meldet Kriegserfolge im Donbass
Bei ihrem Angriffskrieg in der Ukraine haben die russischen Truppen nach eigenen Angaben weitere Etappenziele erreicht. Der Vormarsch im ΓΆstlichen Donbass-Gebiet sei erfolgreich und die "Befreiung" der von Moskau anerkannten Luhansker Volksrepublik nΓ€here sich dem Abschluss, sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Freitag.
Die russischen StreitkrΓ€fte konzentrierten nach eigenen Angaben ihre Luftangriffe auf das frontnahe Hinterland der Ukraine. Laut dem Verteidigungsministerium in Moskau wurden mehrere Ortschaften in den Gebieten Donezk und Charkiw attackiert. RaketenstreitkrΓ€fte und Artillerie hΓ€tten Depots und Artillerie- und Raketenwerferstellungen zerstΓΆrt, hieΓ es. Bei den Angriffen seien 280 ukrainische Soldaten getΓΆtet und 59 gepanzerte MilitΓ€rfahrzeuge zerstΓΆrt worden. UnabhΓ€ngig konnten diese Angaben nicht ΓΌberprΓΌft werden. Der ukrainische PrΓ€sident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Situation im Donbass als "HΓΆlle".
Moskau: Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens bedroht Russland
Moskaus Verteidigungsminister Sergej Schoigu sieht in dem geplanten Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens eine Gefahr fΓΌr Russland. Die Lage an der westlichen Grenze Russlands werde durch eine wachsende militΓ€rische Gefahr gekennzeichnet, sagte Schoigu am Freitag bei einer Sitzung des Ministeriums. Finnland und Schweden hΓ€tten als Nachbarn Russlands die Aufnahme in den MilitΓ€rblock beantragt, damit nΓ€hmen die Spannungen im westlichen Wehrbezirk Russlands nun deutlich zu. Bis Jahresende sollten dort zwΓΆlf neue MilitΓ€rstΓΌtzpunkte entstehen, kΓΌndigte Schoigu an.
"Gleichzeitig erhΓΆhen die USA und die Nato das AusmaΓ ihrer operativen und militΓ€rischen Vorbereitungen an unseren Grenzen", sagte Schoigu. Konkret beklagte er auch, dass die Mitgliedsstaaten der Nato ein neues ManΓΆver vor den Grenzen Russlands abhielten. Er bezog sich die laufende Γbung "Defender Europe 2022". Schoigu warf den USA vor, in den vergangenen Jahren auch die Zahl der FlΓΌge ihrer strategischen Bomber in Europa massiv erhΓΆht zu haben β von einmal 15 auf inzwischen 45 im Jahr. In der Ostsee kreuzten zudem immer hΓ€ufiger mit Raketen bewaffnete US-Kriegsschiffe.
Schoigu hatte bei der Sitzung von Fortschritten bei Russlands Vormarsch in der Ukraine gesprochen. Er sagte, dass die russische Armee bald strategische Drohnen erhalte. Damit kΓΆnnten Ausgaben fΓΌr Personal, militΓ€rische AufklΓ€rung und Munition eingespart werden.
Erste Gepard-Panzer aus Deutschland im Juli
Die Ukraine erhΓ€lt im Juli die ersten 15 Flugabwehrkanonenpanzer Gepard aus BestΓ€nden der deutschen Industrie. Das ist das Ergebnis eines GesprΓ€chs von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Olexij Resnikow am Freitag, wie die Deutsche Presse-Agentur in Berlin erfuhr. Zu dem Paket gehΓΆrt demnach auch AusbildungsunterstΓΌtzung durch die Bundeswehr, die Bereitstellung von knapp 60.000 Schuss Munition sowie eine Lieferung von weiteren 15 Panzern noch im Sommer.
"Ich habe heute mit meinem ukrainischen Kollegen Resnikow gesprochen, und er hat ausdrΓΌcklich nochmals bestΓ€tigt, dass die Ukraine die schnellstmΓΆgliche Lieferung von Gepard-Flugabwehrpanzern einschlieΓlich der vorhandenen 59.000 Schuss Munition aus Deutschland wΓΌnscht", sagte Lambrecht nach der Videoschalte mit Resnikow. Dieser habe die LeistungsfΓ€higkeit des Systems besonders hervorgehoben.
"Ich begrΓΌΓe diese klare Entscheidung ausdrΓΌcklich. Der Gepard ist eine wirkungsvolle Waffe, die auch eine erhebliche Abschreckungswirkung hat - etwa zum Schutz kritischer Infrastruktur", sagte Lambrecht. "Gemeinsam arbeiten wir nun daran, dass die ersten 15 Geparden ab Mitte Juli mit fertig ausgebildeten Besatzungen einsatzbereit sind."
Deutschland wird der Ukraine auch sieben Panzerhaubitzen 2000 liefern. Die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf dem Waffensystem lΓ€uft bereits. Resnikow schrieb am Freitag auf Twitter, es habe ein sehr produktives GesprΓ€ch mit Lambrecht gegeben. Es sei der Beginn eines wichtigen neuen Projektes besprochen worden.
USA helfen der Ukraine mit Milliarden
Die Ukraine kann ihren Abwehrkampf gegen Russland mit neuen milliardenschweren Hilfen aus den USA fortfΓΌhren. Gut eine Woche nach dem ReprΓ€sentantenhaus verabschiedete am Donnerstag auch die andere Kongresskammer, der Senat, mit groΓer Mehrheit das Paket mit einem Volumen von fast 40 Milliarden Dollar (38 Milliarden Euro). Sechs Milliarden Dollar sind fΓΌr direkte militΓ€rische Hilfe fΓΌr die Ukraine vorgesehen, die von Russland vor fast drei Monaten angegriffen wurde. US-PrΓ€sident Joe Biden muss das Gesetzespaket noch unterzeichnen.
Der ukrainische PrΓ€sident Wolodymyr Selenskyj dankte fΓΌr die Hilfe. Er stellte in seiner abendlichen Videoansprache aber auch klar, dass die Ukraine in ihrem Widerstand selbst jeden Monat Milliarden verliere. "Um im Krieg um die Freiheit bestehen zu kΓΆnnen, brauchen wir schnelle und ausreichende finanzielle UnterstΓΌtzung", sagte er. Die auslΓ€ndischen Partner der Ukraine sollten Hilfen nicht als Geschenk sehen. "Das ist ihr Beitrag zu ihrer eigenen Sicherheit."
Die sieben fΓΌhrenden Industrienationen wollen das Land unterdessen mit zusΓ€tzlichen kurzfristigen Budgethilfen in HΓΆhe von 9,5 Milliarden Dollar (knapp 9 Mrd Euro) unterstΓΌtzen. Darauf verstΓ€ndigten sich die Finanzminister der G7-Staaten am Freitag auf dem Petersberg bei Bonn. Seit Jahresbeginn hΓ€tten sie damit insgesamt 19,8 Milliarden Dollar an Finanzhilfen fΓΌr die Ukraine mobilisiert, hieΓ es in der AbschlusserklΓ€rung des Ministertreffens. Das Geld soll etwa dabei helfen, die grundlegenden staatlichen Leistungen des kriegsgebeutelten Landes aufrechtzuerhalten.
Putin: Russland gegen auslΓ€ndischen Cyber-Krieg gerΓΌstet
Kremlchef Wladimir Putin hat eine Zunahme von Hackerangriffen gegen Russland seit Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine beklagt. "Im Grunde wurde gegen Russland eine echte Aggression, ein Krieg in der IT-SphΓ€re gestartet", sagte Putin am Freitag auf einer im Staatsfernsehen ΓΌbertragenen Sitzung des nationalen Sicherheitsrats. Demnach wurden die Angriffe von auslΓ€ndischen Geheimdiensten koordiniert. "Schon heute kann man sagen, dass diese Cyber-Aggression gegen uns wie auch die Sanktionsattacken gegen Russland insgesamt gescheitert sind."
Wegen einer anhaltenden Gefahrenlage ordnete Putin an, bis 2025 eine neue Sicherheitsstrategie im IT-Bereich umzusetzen. FΓΌr eine Digitalisierung der Wirtschaft mΓΌssten die Risiken bei der Nutzung auslΓ€ndischer Software und Technik auf ein Minimum reduziert werden. Die Nutzung von auslΓ€ndischen Antivirenprogrammen sei von 2025 an verboten, sagte der russische PrΓ€sident.
Seit dem von Putin befohlenen Krieg gegen die Ukraine sind eine Reihe staatlicher Institutionen in Russland, aber auch groΓe Konzerne von Hackern angegriffen worden. Dabei wurden in einigen FΓ€llen Webseiten lahmgelegt, in anderen groΓe Datenmengen abgesaugt, darunter auch persΓΆnliche Daten russischer StaatsbΓΌrger.
OSZE schickt Menschrechtsbeobachter in die Ukraine
Die Organisation fΓΌr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) intensiviert ihre Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen im Zuge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Beobachter wurden in das Land entsandt, um Zeugen und Γberlebende zu befragen, wie das OSZE-BΓΌro fΓΌr Demokratie und Menschenrechte (ODIHR) in Warschau am Freitag mitteilte. Zuvor hatte die Organisation Interviews mit Menschen in NachbarlΓ€ndern gefΓΌhrt, die vor der russischen Invasion aus der Ukraine geflohen sind.
FΓΌr die OSZE stehen die ZivilbevΓΆlkerung und Kriegsgefangene im Fokus. Angriffe auf Zivilisten, TΓΆtungen, Verschleppungen und Folter seien die dringlichsten Themen, hieΓ es aus Warschau. Bis zur Erstellung eines Berichtes werde es wohl Monate dauern.
Auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat im Zuge seiner Ermittlungen zu mΓΆglichen Kriegsverbrechen ein 42-kΓΆpfiges Team in die Ukraine geschickt. Zudem fΓΌhren UN-Menschenrechtsexperten Untersuchungen im Land durch.
Ukraine-Kontaktgruppe mit ΓΌber 40 Staaten berΓ€t am Montag
US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat fΓΌr den kommenden Montag eine Schalte der neuen internationalen Ukraine-Kontaktgruppe anberaumt. Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, kΓΌndigte am Freitag ein, das Treffen werde diesmal per Video abgehalten. Mit dabei seien mehr als 40 LΓ€nder. Austin hatte Ende April internationale Partner aus rund 40 Staaten zu einem Treffen auf dem US-LuftwaffenstΓΌtzpunkt im rheinland-pfΓ€lzischen Ramstein eingeladen, um ΓΌber Hilfe fΓΌr die Ukraine zu beraten. Dort hatte er in Aussicht gestellt, die Kontaktgruppe solle kΓΌnftig monatlich beraten. Kirby sagte, mehrere LΓ€nder, die beim vergangenen Mal nicht dabei gewesen seien, hΓ€tten Interesse angemeldet, sich zu beteiligen. Die Gruppe wachse.
Das bringt der Tag
In der Ukraine wird am Freitag der erste Prozess gegen einen russischen Soldaten wegen eines mutmaΓlichen Kriegsverbrechens fortgesetzt. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft fΓΌr den 21-JΓ€hrigen, der einen Zivilisten erschossen haben soll.
In den internationalen BemΓΌhungen um UnterstΓΌtzung fΓΌr die Ukraine wollen die AuΓenminister der Europarat-Staaten am Freitag in Turin in Italien beraten. AuΓenministerin Annalena Baerbock setzt dabei auf die Geschlossenheit der EuropΓ€er: "Diese haben wir bewiesen, als wir gemeinsam entschieden haben, Russland aus dem Europarat auszuschlieΓen", sagte die GrΓΌnen-Politikerin vor dem Treffen. Baerbock kΓΌndigte zudem an, dass Deutschland mit anderen Staaten die ausfallenden MitgliedsbeitrΓ€ge Russlands ΓΌbernehmen werde. Die Arbeit der Menschenrechtsorganisation dΓΌrfe nicht unter dem Ausschluss leiden.
In BrΓΌssel treffen sich die fΓΌr Entwicklung zustΓ€ndigen Minister der EU-Staaten zur internationalen ErnΓ€hrungslage, weil die Ukraine durch die russische Blockade als wichtiger Getreidelieferant ausfΓ€llt.