"Russendisko" Die Erwachsenen hält das Regime für verloren
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Russlands Krieg verschlingt Soldatenleben zuhauf, Wladimir Putin braucht zukünftig neue Rekruten. Jetzt indoktriniert das Regime die Jugend gnadenlos, meint Wladimir Kaminer.
Der Begriff "Weltfrieden" gehört für mich zum Vokabular des Krieges. Alle großen Tyrannen und Diktatoren haben ihre Kriege im Sinne eines Weltfriedens, einer neuen Weltordnung begonnen, und die Welt dadurch ins Chaos gestürzt. Wer sollte später dann an der Spitze stehen? Sie selbst. Meine Kindheit und Jugend habe ich in einer totalitären und aggressiven Diktatur verbracht, an jeder Ecke hingen bei uns überlebensgroße Plakate "Frieden für die Welt!" oder "Kampf für den Frieden!". Abgebildet auf diesen Plakaten waren Soldaten, Raketen und Panzer.
Regelmäßig wurden wir Schüler als Jungpioniere und später als Komsomolzen zur Teilnahme an Demonstrationen verdonnert, die unterhalb solcher Transparente stattfanden: "Wir kämpfen für den Frieden", "Wir sind gegen den Krieg". Dieser Weltfrieden war ein Teil der Mobilmachung, der permanenten Militarisierung meiner Heimat in ihrem Kampf gegen den Westen.
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein neues Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erschien kürzlich.
Es war Gott sei Dank ein Kalter Krieg, doch wir hatten keine Zweifel: Sollte er irgendwann mal in eine heiße Phase übergehen, würde uns das Regime ohne mit der Wimper zu zucken sofort verheizen. Deswegen zuckte ich mit dem ganzen Körper, als ich den Begriff "Weltfrieden" hörte. Er geht immer mit dem Krieg Hand in Hand. Nicht umsonst wird dieser Begriff heute von zwielichtigen politischen Gruppen in Deutschland gerne benutzt, die gerade durch ihre Radikalität auffallen.
"Das ist nicht unser Krieg", behauptet die AfD über die russische Aggression gegen die Ukraine. "Fragen Sie Putin, wie er zum Frieden steht, er wird sicherlich nicht dagegen sein", tönt Frau Wagenknecht sinngemäß. Und viele naive Menschen halten diese Grundschullogik für wahr. Warum soll Putin etwas gegen den Frieden haben? Wir sollen bloß keine Waffen an die Ukraine liefern, dann können sie sich nicht mehr gegen das Angreiferland wehren und keiner stirbt mehr. Soll doch das russische Regime die paar Dörfer in der Ostukraine bekommen, wenn es sie schon dermaßen sehnsüchtig begehrt. Soweit diese "Logik".
Das Böse wird nicht siegen
Hierzulande glauben etliche von ganzem Herzen, dass es dem russischen Regime bei diesem Krieg tatsächlich um die Dörfer in der Ostukraine geht. Ich verurteile die Menschen keineswegs, die so oder ähnlich denken. Der Glaube an das gute Ende ist keine Sünde. Ich glaube selbst, dass das Böse niemals über das Gute siegt, das Böse kann nicht siegen.
Doch einen Krieg zu stoppen, ist unvergleichlich schwieriger, als ihn zu entfesseln: Einmal von unzurechnungsfähigen, kurzsichtigen Politikern aus der Büchse der Pandora befreit und als "legitimes" politisches Mittel in die Welt gesetzt, feuert und wütet er und fordert immer mehr Menschenopfer. Ich beobachte seit Beginn des Krieges die radikalen Veränderungen in meiner Heimat, besonders interessiert mich das Bildungswesen, was sich in den russischen Schulen ändert.
Mit Beginn des neuen Schuljahres wurden diese Veränderungen gravierend. Neben der Demografie scheint die Kindererziehung zu den absoluten Prioritäten des Regimes zu gehören. Unsummen werden in die patriotische Erziehung investiert, besonders sind davon die Grundschüler betroffen. Es wird in Jahrzehnten gedacht und geplant. Was sich das Regime davon verspricht, ist gut nachvollziehbar: Im Grunde kann die heutige großzügige Investition in die patriotische militante Schulerziehung als Sparmaßnahme für morgen betrachtet werden.
Heute führt Russland den Krieg mit gekauften Soldaten. Die am häufigsten gezeigte Werbung im russischen Internet und im Fernsehen ist Werbung für Söldner-Kontrakte. Selbst in Moskau, so berichtete mein Onkel, kann man den Plakaten kaum ausweichen, auf denen schick uniformierte Soldaten lächeln und da drunter "5 Millionen Rubel" großgeschrieben steht. Doch anscheinend sind die Militärs inzwischen dahintergekommen, dass sich Kriege allein mit Geld nicht gewinnen lassen.
Wenig patriotische Begeisterung
Die gekauften Soldaten sind zu rar und zu lasch, sie kämpfen nicht richtig, wollen ihr Leben aus verständlichen Gründen nicht riskieren. Sie hegen immer noch die Hoffnung, irgendwann ihre Millionen Rubel auch ausgeben zu können. Für eine richtige Armee braucht es eine Ideologie, damit die Menschen aus Überzeugung an die Front gehen und Helden werden wollen. Der Großteil der russischen Bevölkerung scheint bis jetzt von der Idee des großen Krieges überhaupt nicht beseelt zu sein. Selbst als die ukrainischen Streitkräfte in international anerkanntes russisches Gebiet vordrangen und alle Propagandasender aufheulten, die Heimat sei in Gefahr, sind keine Schlangen vor den Einberufungspunkten entstanden.
Die erwachsenen Menschen hält das Regime daher für verloren – und konzentriert sich auf die Kinder. Dort in der Schule, in den Jungpioniervereinen, die jetzt "Die Ersten" heißen, möchte es seine ideologische Spritze einsetzen. Was ist in der Spritze drin? Nicht viel. Die neue Ideologie heißt Militarisierung, die Verherrlichung des Soldatenlebens und der damit verbundenen "Heldentaten". "Süß ist es und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben" hat bereits der alte Römer Horaz behauptet. Und die Gelegenheit dazu wird das russische Regime schon weiterhin schaffen.