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Afghanistan: Gefangen im Taliban-Land? "Die Menschenjagd ist eröffnet"


Gefangen im Land der Taliban
Die Menschenjagd ist eröffnet

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 04.09.2021Lesedauer: 5 Min.
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Afghanistan: Die Taliban und Widerstandskämpfer haben sich im Pandschir-Tal schwere Gefechte geliefert. (Quelle: t-online)

Der Westen ist abgezogen, in Afghanistan bleiben zahlreiche Ortskräfte zurück. Sie fühlen sich im Stich gelassen, sind der Willkür der Taliban ausgesetzt. Haben sie eine Chance, das Land zu verlassen?

In Kabul tanzen die Taliban auf der Straße. Bewaffnete Kämpfer schwenken die weißen Flaggen des Emirats Afghanistan, am Mittwoch feierten sie ihren "Independence Day" – ihren Sieg über die westlichen Invasoren und über die in ihren Augen verräterische afghanische Regierung. Die Taliban haben erneut die Macht im Land, die westliche Koalition blickt nach ihrem Truppenabzug zähneknirschend auf die feiernden Islamisten.

Doch der Schein trügt: In Afghanistan herrschen aktuell vor allem Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Angst. Die Fehleinschätzungen des Westens und der überraschend schnelle Vorstoß der Islamisten führte dazu, dass viele Afghanen nun in Todesangst leben. Plötzlich sind sie gefangen im eigenen Land, verstecken sich in den Wohnungen von Freunden und warten auf eine Chance, das Land doch noch verlassen zu können. Nur das kann und will ihnen niemand versprechen.

Die Taliban machen Jagd auf sie. t-online erfuhr von Menschen vor Ort: Die Islamisten brechen schon jetzt die Versprechen, die sie in Doha machen. Viele Flüchtlinge kommen zwar an den Checkpoints der Islamisten an den Grenzen vorbei, aber es gibt gezielte Tötungen. Die Flucht aus dem Land könnte für viele zur Todesfalle werden.

Unter Hausarrest und zwangsverheiratet

Auch die Geschichte von Hadia ist von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit geprägt. Sie lebt in Deutschland, ihren Namen hat t-online zum Schutz ihrer Familie in Afghanistan verändert. Auch weitere Details ihres Lebens, die Aufschluss über die Identität ihrer Familie geben könnten, werden nicht genannt, liegen der Redaktion aber vor.

Hadias Eltern wurden während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 getötet, erzählt sie t-online. Ihre Geschwister lebten in den vergangenen 20 Jahren im Haushalt eines europäischen Unternehmerpaars, die Brüder bewirtschafteten das Grundstück. Ein Bekannter vermittelte sie als Arbeitskräfte.

Als die Taliban vorrückten, flohen ihre Arbeitgeber, seitdem fehlt jeder Kontakt. Auch der Bekannte, der ihnen die Arbeit vermittelt hatte, setzte sich mit allen Papieren in Richtung Pakistan ab. "Wenige Tage später erreichte uns die Nachricht, dass er und seine Familie an der Grenze erschossen wurden, obwohl sie pakistanische Pässe hatten", erzählt Hadia.

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"Sie haben Gift gekauft"

Mit ihm sei auch die Hoffnung verschwunden, die Tätigkeit ihrer Familie für den Westen nachweisen zu können. Danach kamen die Taliban in das Haus der Familie. Die unverheirateten Schwestern wurden an einen älteren Taliban versprochen, die Geschwister stehen nun unter Hausarrest der Islamisten. Frauen dürften das Haus gar nicht mehr verlassen, Männer nur noch zum Einkaufen nach draußen.

"Sie haben Gift gekauft", erzählt Hadia. "Es ist besser, einmal zu sterben, als ein ganzes Leben lang immer wieder." Sie hätten nicht damit gerechnet, dass die Taliban zurückkommen. Und selbst wenn: dann hätte man alles versucht, um außer Landes zu kommen. So ist zumindest bei vielen die Vorstellung des Horrorszenarios gewesen, das nun Wirklichkeit ist. Mit ihrer Arbeit für Europäer haben sie ihre Familie in Lebensgefahr gebracht.

Die Geschichte von Hadia ist kein Einzelfall. Nach Gesprächen mit Menschen vor Ort zeigt sich vor allem, dass die Taliban nach Menschen suchen, die in der afghanischen Regierung höhere Ämter inne hatten, gut vernetzt waren. Auch ehemalige Sicherheitskräfte sind in Gefahr, besonders wenn sie in der Vergangenheit in der Öffentlichkeit dafür bekannt waren, gegen die Taliban gekämpft zu haben. So wurde beispielsweise vergangene Woche ein Leibwächter des geflohenen Präsidenten Aschraf Ghani ermordet.

Flucht oder gefangen im Taliban-Land?

Das Amnestieversprechen der Taliban ist deshalb für viele Afghanen kaum noch glaubwürdig. Sie fliehen oder verstecken sich in ihren Wohnungen, auch viele Frauen trauen sich nicht mehr vor die Tür. Wenn Familien vergleichsweise vermögend sind und mit westlichen Kräften zusammengearbeitet haben, laufen sie Gefahr, von Taliban-Sympathisanten verraten zu werden. Den Islamisten geht es nicht nur um Rache, es ist auch ein Raubzug, bei dem Kriegsbeute eingesammelt wird.

"Die Taliban morden nicht immer", erklärt Khaleg aus Kabul t-online. "Manchmal kommen sie nur vorbei, drohen der Familie und nehmen das Auto mit."

Der zugesagte Fluchtweg, der beispielsweise von Außenminister Heiko Maas (SPD) als Zeichen für anhaltende Solidarität gemeint war, ist ein Horrortrip. Es ist ungewiss, ob Afghanistans Nachbarländer die Grenzen aufmachen – Tausende Flüchtlinge könnten am Ende in steinigen Berglandschaften vor geschlossenen Grenzen festsitzen. Es droht eine humanitäre Katastrophe.

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Dabei gibt es offenbar Unterschiede, welcher Taliban-Miliz man in die Hände fällt. Viele Menschen werden kontrolliert, können weiterreisen. Doch es gibt auch Mord, Raub und Drohungen gegen Familien. Besonders die Grenzgebiete zu Pakistan sind fest in Taliban-Hand. Die Flüchtlinge sind auf ihrem Todesmarsch von der Gnade der Islamisten abhängig – ähnlich wie die Evakuierungen des Westens.

"Es gibt Leute, die resigniert haben"

Deshalb redete t-online auch mit Jonathan Schmidt-Dominé, der seit Wochen aus Deutschland heraus afghanischen Familien dabei hilft, aus dem Land zu fliehen. Eigentlich ist er Literaturwissenschaftler, arbeitet beruflich nicht in der Flüchtlingshilfe. Doch durch persönliche Kontakte nach Kabul hat er seit Beginn der gegenwärtigen Krise Kontakte geknüpft, sich mit anderen Helfern über die sozialen Netzwerke vernetzt, Listen mit Gefährdeten erstellt und hilfsbedürftigen Familien Ansprechpartner vermittelt.

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Schmidt-Dominé steht in regelmäßigem Kontakt mit den Menschen, die aus Afghanistan evakuiert werden möchten. "Es gibt Leute, die nach dem Ende der Luftbrücke resigniert haben. Andere machen sich nun auf den Weg zur Grenze, teilweise haben sie gar keine Reisedokumente", sagt Schmidt-Dominé t-online. "Sie wissen allgemein nicht, was sie auf der Reise erwartet."

Die Helfer vermitteln die eingehenden Anfragen an internationale Stellen – auch US-Abgeordnete werden direkt angeschrieben. Vom Auswärtigen Amt sind viele Schutzsuchende enttäuscht. "Man kann schon insgesamt sagen, dass die meisten Betroffenen vom Auswärtigen Amt niemals etwas gehört haben", sagt Schmidt-Dominé. "Sie erfahren nicht mal, ob sie von den deutschen Behörden als ‚besonders gefährdet‘ eingestuft werden."

Fehlende Reaktionen des Auswärtigen Amtes sorgten in den vergangenen Wochen für zusätzliche Verunsicherungen. Antworten auf E-Mails blieben aus, die Hotline war rund um die Uhr blockiert. Das ist natürlich auch der chaotischen Lage vor Ort geschuldet. Erst kurz vor dem Ende der Evakuierungen schafften es die deutschen Behörden, eine automatische Antwort auf die zahlreichen E-Mails einzurichten. Bis dahin schrieben die panischen Menschen immer und immer wieder, versuchten es zu jeder Tageszeit bei der Hotline. Kein Durchkommen.

Falsche Versprechungen?

Ähnliches gilt für das Versprechen der westlichen Koalition, dass nun Flüchtlinge aus den Nachbarländern ausreisen könnten. Viele Afghanen machten sich auf den Weg nach Pakistan. Teilweise kannten sie das Land, weil sie schon einmal dorthin geflohen waren. Doch die pakistanische Regierung möchte eigentlich keine Flüchtlinge aufnehmen und wenn, dann nur zur direkten Durchreise zum Flughafen in Islamabad.

Das Land sieht sich durch die Corona-Pandemie wirtschaftlich nicht imstande, viele Flüchtlinge aufzunehmen. Außerdem setzt Pakistan sicherheitspolitisch auf gute Beziehungen zu den Taliban, um nicht zwischen Afghanistan und dem Erzfeind Indien in der Zange zu sitzen. Die westlichen Staaten haben den Menschen in Afghanistan teilweise Versprechungen gemacht, bevor diese überhaupt ausgehandelt waren. Sie drohen nun zu falschen Versprechungen zu werden.

Auch Flüchtlingshelfer fordern von der Politik vor allem eines: verlässliche Ansagen, die auch in der Praxis funktionieren. "Die Menschen sollten nicht vor die Wahl gestellt werden, ob sie ihre Mutter in Afghanistan zurücklassen oder zu bleiben und sich damit in Lebensgefahr zu begeben", meint Schmidt-Dominé. "Deshalb muss die Politik in die Pflicht genommen werden, keine Hürden für die Einreise und für den Familiennachzug zu errichten. Wenn schon das Land im Stich gelassen wird, dürfen wir nicht auch noch diese Leute zurücklassen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräch mit Jonathan Schmidt-Dominé
  • Gespräche mit Ortskräften in Afghanistan
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