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Taliban-Terror in Afghanistan: Die größte Tragödie des Landes geht weiter


Sechs Monate Fall von Kabul
Afghanistans größte Tragödie geht täglich weiter

MeinungEin Gastbeitrag von Ellinor Zeino, Taschkent

14.02.2022Lesedauer: 8 Min.
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Flucht aus Kabul: Am 15. August 2021 fiel die afghanische Hauptstadt an die Taliban.Vergrößern des Bildes
Flucht aus Kabul: Am 15. August 2021 fiel die afghanische Hauptstadt an die Taliban. (Quelle: Hassan Majeed/UPI Photo)

Der Westen hatte den Afghanen Frieden versprochen, dann marschierten die Taliban in Kabul ein. Werden sich die "Gotteskämpfer" halten? Oder kommt es noch schlimmer?

Am 15. August 2021 ging alles ganz schnell. Am Morgen trafen sich unsere Mitarbeiter zum Team-Meeting im Büro. Am Mittag standen die Taliban in Kabul. Die reguläre Polizei war spurlos verschwunden. Panik und Verkehrschaos brachen in den Straßen aus. Dass es in Kabul keine bürgerkriegsähnlichen Kämpfe gab, war unser Glück im Unglück. Die Taliban-Polizei griff schnell und erstaunlich geordnet gegen Plünderer durch.

Zwanzig Jahre nach dem internationalen Versprechen, Afghanistan und seine Gesellschaft in die internationale Gemeinschaft zurückzuholen, Frieden und einen bescheidenen Wohlstand aufzubauen, steht man nun vor einer humanitären Katastrophe. Aufgrund der internationalen Sanktionen und Finanzblockaden steht das Land vor der Zahlungsunfähigkeit. Millionen von Menschen sind von Hunger und Mangelernährung betroffen. Die Mittelschicht in den Städten greift auf ihre letzten Ersparnisse zurück.

Dr. Ellinor Zeino war bis August 2021 Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kabul. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit lag auf vertrauensbildenden Dialogen im afghanischen Friedensprozess.

Aber auch vor dem Machtwechsel herrschte in den letzten Jahren eine Nahrungsmittelkrise in den Provinzen, bedingt durch Dürreperioden, Ernteausfall und anhaltende Kämpfe. In der Hauptstadt Kabul gab es nur ein paar Stunden Strom am Tag. Man war Selbstversorger für Elektrizität, Wasser und die eigene Sicherheit. Insgesamt starben im Afghanistan-Krieg seit 2001 etwa 240.000 Menschen, darunter pro Jahr etwa 3.000 Zivilisten.

Kabul galt mit seinen täglichen Anschlägen nach 2017 wieder als gefährlichste Hauptstadt der Welt. Heute hat sich zwar die Sicherheitslage für die Mehrheit der Menschen verbessert; Anschläge finden vergleichsweise wenig statt, doch die Gefahr dschihadistischer Gruppen bleibt. Die neue Situation verheißt nichts Gutes. Früher hat man Angehörige und Freunde in Anschlägen verloren, heute droht man im Frieden zu verhungern.

Der größte Widerspruch im Entwicklungsversprechen bestand zwischen dem Grundsatz der afghanischen Eigenverantwortung und der Tatsache, dass der damalige Staat und die um ihn herum gebauten Netzwerke aus Zivilgesellschaft und Sicherheitsdienstleistern fast vollständig von ausländischen Geldern abhingen.

Afghanistan war kein unabhängiger, souveräner Staat. Die Verantwortung des Wiederaufbaus lag in internationalen Händen. Die Gehälter und die Ausrüstung der afghanischen Sicherheits- und Polizeikräfte wurden gänzlich durch internationale Gelder, allen voran die USA finanziert. Es entstand das ohnmächtige Selbstbild, dass die Ausländer für Sicherheit und Entwicklung zuständig sind und es "irgendwie schon richten" werden, denn schließlich habe ihr Land eine geostrategische Bedeutung für die Welt.

Es konnte sich keine eigene, verwurzelte politische Kraft gegen die Taliban aufbauen. Dies zeigte sich kläglich in den letzten Monaten der Republik, als die afghanische Armee fast kampflos eine Provinz nach der anderen fallen ließ.

Desertion an der Tagesordnung

Die durchschnittliche Schwundrate in der afghanischen Armee lag bei knapp fünfzig Prozent. Jedes Jahr mussten die Sicherheitskräfte fast die Hälfte ihrer Stellen aufgrund Tod, Verwundung oder Ausscheiden neu besetzen. Gleichzeitig gab es "Geistersoldaten", die nicht an der Front, sondern nur auf Gehaltslisten existierten. Auch bei patriotischen Soldaten entstanden Zweifel, für welche Sache man sein Leben täglich einsetzte.

Eine verbreitete Fehlvorstellung war, mehr Geld führe zu mehr Entwicklung. Nicht wenige Geldsummen versickerten in Netzwerke, die dem Selbsterhalt oder der Selbstbereicherung dienten. Die afghanische Gesellschaft wurde gespalten zwischen denen, die Zugang zu den internationalen Geldern und Früchten hatten, und jenen, denen es verwehrt blieb. Die heutigen Fälle von Gewalt und Bedrohungen zeigen auch Spuren von über Jahrzehnte aufgebautem Neid.

Nicht immer wurde auf die richtigen Reformpartner gesetzt. Ehemalige Warlords wurden der Stabilität zuliebe rehabilitiert; liberale, kosmopolitische Diaspora-Eliten als bequeme Reformpartner gewonnen. In der afghanischen Gesellschaft wurden diese Doppelstaatler in Anlehnung an den englischen Namen "Tom" pauschal als "Tommies" verunglimpft; sie können das Land jederzeit verlassen, wenn es schwierig wird.

Nicht wenige haben ihr in Afghanistan angehäuftes Vermögen ins Ausland gerettet. Dieses strukturelle Problem konnten auch die vielen ehrlich engagierten Diaspora-Afghanen, die nach 2001 hoffnungsvoll und bis zuletzt mit Optimismus in ihr Land zurückkamen, nicht lindern.

Pässe im Safe versteckt

In einem Land, dessen Mehrheit der Bevölkerung in den letzten vierzig Kriegsjahren Zeiten von Flucht und Vertreibung erlebt hat, bestand ein regelrechter Wettstreit darum, wer in Afghanistan am stärksten verwurzelt sei. Für Zweitpässe schämte man sich. Niemand wollte sich nachsagen lassen, er nehme lokalen Afghanen den Job weg und bleibe nur, solange es noch bequem ist.

Eine zweite Staatsangehörigkeit konnte auch politische Karrieren beenden. Für Minister offiziell verboten, musste der ausländische Pass möglichst im Safe verschwinden. Heute gibt es "Taliban-Tommies" mit pakistanischem Pass oder Familienresidenzen in Doha.

Video | Zeitraffer zeigt Siegeszug der Taliban
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Quelle: t-online

Ein wesentliches Hindernis für eine gemeinsame, friedliche Zukunft sind die völlig voneinander abgeschotteten Lebenswelten, oft nur getrennt durch ein paar Meter Mauer zum Schutz gegen Sprengstoff. Kabul beherbergte alle nur denkbaren Mikrokosmen auf engstem Raum. In diesen parallelen Blasen erzählte jeder seine eigene Geschichte zur Realität und Zukunft des Landes. Die Taliban haben begonnen, die Sprengstoffmauern in Kabul zu entfernen. Die Mauern in den Köpfen bleiben.

Lange vor dem Abzug riet ich afghanischen Freunden und Partnern, nicht auf einen externen Retter zu warten. Nach dem Doha-Abkommen zwischen USA und Taliban von Februar 2020, das erstmals den Abzug der Nato-Truppen regelte, wurden Nachfragen zum Truppenabzug von afghanischen Gesprächspartnern oft mit einer Handbewegung abgetan. Die Amerikaner würden niemals gehen, das Land sei geostrategisch viel zu wichtig.

Kabul fragte nicht nach

Der Doha-Friedensprozess fand sehr abstrakt statt. Die Vorstellung, dass die Taliban wieder in Kabul sitzen und die republikanische Verfassung von 2004 obsolet würde, war für viele Friedenswillige ein rein abstrakter Gedanke. Auf einem von der Konrad-Adenauer-Stiftung mitorganisierten Friedensdialog Ende 2020 in der Stadt Herat trafen die örtlichen Stammesälteren, Gemeindevorsteher, Mullahs und Imame erstmals auf Regierungsvertreter aus Kabul und – online zugeschaltet – auf Mitglieder des republikanischen Verhandlungsteams in Doha.

Ihre Meinung zum Friedensprozess und zur Entwicklung des Landes war aus Kabul nie abfragt worden. Sie blieben misstrauisch. Und hochgradig wachsam gegenüber der ultrakonservativ-religiösen gesellschaftlichen Meinung in Herat. Fotos mit der von der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgebauten afghanischen Frauengruppe waren für die meisten zu gefährlich.

Gleichzeitig war die damalige, wenn auch zaghafte Friedenseuphorie ansteckend. Sollte Frieden diesmal tatsächlich möglich sein? Musste man nicht jeden Strohhalm ergreifen, sei er noch so dünn, nach Jahrzehnten von Krieg und Gewalt?

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Die Kernkritik der Taliban richtete sich gegen die korrupten Regierungseliten und den mit ihnen verbundenen Apparat. Der Staat war in ihren Augen eine "Marionettenregierung in Kabul", die fallen würde, sobald die Ausländer das Land verlassen hätten. Überraschend für viele Beobachter war, wie schnell der Fall des Landes am Ende eintrat.

Die politischen Ziele und die Ideologie der Taliban haben sich im Kern nicht geändert. Ihre Politik dient in erster Linie der Wahrung der Tugend und Moral in der Gesellschaft. Die Regierenden sind Tugendwächter, keine Dienstleister für das Volk. Das materielle Wohlergehen liege letztendlich in Gottes Hand.

Geld wird bei den Taliban nicht viel bewirken

Die Taliban sind zudem eine anti-elitäre Bewegung. Ihr Erfolg lässt sich mitunter zurückführen auf den seit einem Jahrhundert schwelenden Konflikt zwischen bescheidenen ländlichen Lebenswelten und den städtischen Eliten, die ein vermeintlich unmoralisches und korrumpiertes Leben im "Luxus" führen. Doch auch in den Städten kämpfen Millionen Menschen täglich um ihr Überleben.

Die Taliban sind "Gesinnungstäter". Sie lassen sich nur bedingt politisch oder mit Geld unter Druck setzten. Gleichzeitig handelt die Taliban-Führung pragmatisch. Ihr Hauptziel ist der politische Machterhalt. Um ihren inneren Zusammenhalt zu wahren, muss die Führung ihr Versprechen einlösen, die gesellschaftliche "Moral und Tugend" wiederherzustellen.

Um das Land zu regieren, muss sie staatliche Einnahmen sichern und die Verwaltung wieder zum Laufen bringen. Hierfür braucht sie die internationale Anerkennung oder zumindest die Unterstützung ausländischer Geldgeber. Dass die Taliban dafür von ihren Standpunkten und Werten abrücken werden, ist eher unwahrscheinlich.

Frauen- und Menschenrechte können unter der neuen Regierung daher nur geschützt werden, wenn man sie religiös legitimiert, religiöse Interpretationsgrenzen verschiebt und die Umsetzung von Rechten einfordert, gegen die aus islamischer Sicht nichts spricht. Bestes Beispiel ist die viel diskutierte Mädchenbildung, die von der Taliban-Führung nie offiziell verboten wurde.

Es kann noch schlimmer kommen

Die Möglichkeit für Frauen zu studieren wurde zuletzt noch mal vom Premier Mullah Mohammed Hassan Achund bestätigt, einzige Bedingung ist die Einhaltung der Geschlechtertrennung. Hier besteht Raum, um kleine Pflöcke einzuschlagen und Garantien und Zugeständnisse abzuringen. Diesen Ansatz wählte auch die Konrad-Adenauer-Stiftung in den von ihr vermittelten Dialogen zwischen afghanischen Frauen und religiösen (auch Taliban-nahen) Autoritäten.

Die Taliban-Regierung wird andere Narrative und Geschichten zu Recht und Unrecht im Afghanistankrieg erzählen. Geschichten vom Emirat, das ihr 2001 unrechtmäßig genommen wurde, von der Besetzung und kulturellen Kolonisierung des Landes, von ihrem Leid durch Folter und Luftangriffe, von ihrer Wiederherstellung eines "islamischen Rechtstaats" und Souveränität des Landes.

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Für die humanitären Missstände machen die neuen Führer die Vorgängerregierung verantwortlich und drängen auf die Freigabe der internationalen Gelder. Einen kohärenten Plan hat die Taliban-Führung noch nicht und wartet auf Entwicklungen von außen. Eine wesentliche Herausforderung der Taliban wird sein, ihre heterogene Bewegung zusammenzuhalten.

Doch irgendwann wird die Bevölkerung konkrete Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Gesundheit und Ernährung ihrer Familien einfordern, aber auch Bildung und Perspektiven für Afghanistans junge Bevölkerung. Fast die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre. Fraglich ist, inwieweit sich die neue Führung verantwortlich fühlt. Die Taliban geben kein Entwicklungsversprechen, sondern ein Heilsversprechen.

Die politische Wende ist noch nicht abgeschlossen. Das Land kann noch in denkbar schlimmere Richtungen entgleiten. Das beste und wünschenswerteste Szenario wäre natürlich, dass die Afghaninnen und Afghanen ihren eigenen Entwicklungsweg finden, nachdem der Begriff "Entwicklung" die letzten zwei Jahrzehnte maßgeblich von Ausländern definiert und finanziert wurde.

Die Nachbarstaaten sind misstrauisch

Bis es irgendwann so weit kommen kann, wird es wohl noch unruhige Zeiten und möglicherweise gewaltsame Aushandlungsprozesse geben. Frieden und Entwicklung ist eine Generationenaufgabe, kein Ziel, das man in Budgetpläne pressen kann. Ein realistisches Szenario ist, dass die Taliban die politische Repression nach innen erhöhen, um sowohl liberale und andere politische Gegner, aber auch salafistisch-dschihadistische Gruppen, allen voran den IS-Ableger ISKP, in Schach zu halten.

Sollte der Taliban-Führung keine Stabilisierung gelingen, drohen Staatszerfall, bürgerkriegsähnliche Zustände und das Entstehen von Landesteilen, die durch terroristisch-kriminelle Gruppen kontrolliert werden. Auf internationaler Ebene haben heute die Nachbarstaaten das stärkste Interesse an einer stabilen Lage in Afghanistan.

Während sich 2001 der Westen durch die in Afghanistan beherbergte Terrorgruppe al-Qaida unmittelbar bedroht fühlte, sind es heute die regionalen Nachbarstaaten, die von grenzüberschreitenden kriminellen und terroristischen Gruppen, Drogenhandel und Migration an ihren Grenzen unmittelbar betroffen sind.

Die größte Gefahr dürften viele Nachbarn jedoch in der Radikalisierung ihrer eigenen Bevölkerungen sehen. Die Sorge ist, dass sich ihre eigenen muslimischen Bevölkerungen vom Sieg der Taliban beflügeln lassen und sich in ihren Ländern radikalisieren oder mobilisieren könnten. Denn auch hier gehen sich selbstbereichernde Eliten gegen religiöse Tendenzen und politische Opposition vor.

Die langfristig wohl größte Katastrophe für Afghanistan dürfte der massive Braindrain sein. Ein erheblicher Anteil der gebildeten Elite und kreativen Köpfe haben das Land in den letzten Monaten verlassen. Zigtausende warten noch auf ihre Ausreise. Der Fachkräftemangel ist auch der Grund, warum die Taliban weiterhin ehemalige Beamte und Mitarbeiter in den Behörden belassen.

Im Außenministerium treffen sich die ehemaligen Mitarbeiter täglich zum Teetrinken und warten ab. Die Botschaften und Konsulate weltweit stellen weiterhin Visa und Pässe der afghanischen Republik aus. Alle ohne Bezahlung aus Kabul, aber auch ohne Widerstand der neuen Machthaber. Wie lang diese Arbeitsteilung und Koexistenz noch gut geht, ist ungewiss.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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