Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr fĂŒr Sie ĂŒber das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Die AufklÀrung ist noch lange nicht abgeschlossen
Der Mörder von Walter LĂŒbcke muss viele Jahre ins GefĂ€ngnis. Doch der Prozess gegen den Neonazi hat vieles nicht aufklĂ€ren können. Die Aufarbeitung von Verbindungen zum NSU steht noch bevor.
Der Neonazi Stephan Ernst hat Walter LĂŒbcke erschossen. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat ihn des Mordes am CDU-Politiker fĂŒr schuldig befunden. Das Urteil: lebenslange Haft bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das schlieĂt eine vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren in der Regel aus. Auch eine Sicherungsverwahrung nach der Haftstrafe kommt in Betracht.
Es gab fĂŒr das Gericht keinen ernstzunehmenden Zweifel: Ernst hatte gestanden, DNA-Spuren am Tatort und die Tatwaffe untermauerten seine Einlassung. Doch das Verfahren konnte den Ablauf des Mordes nicht bis ins letzte Detail aufklĂ€ren. Es bleiben groĂe Leerstellen. Nicht nur aus Sicht der Familie LĂŒbcke, die als NebenklĂ€ger am Prozess teilnahm, dĂŒrften es zu viele sein.
Der zweite Mann
Denn der zweite Angeklagte im Verfahren war Markus H., Bundesanwaltschaft und Nebenklage waren von seiner MittĂ€terschaft ĂŒberzeugt und forderten eine lange Haftstrafe â das Gericht sah es allerdings nicht als zweifelsfrei erwiesen an, dass er tatsĂ€chlich an der Tat beteiligt war. Der Generalbundesanwalt hatte ihm "psychische Beihilfe zum Mord" attestiert und war in der Anklage davon ausgegangen, dass H. durch GesprĂ€che und SchieĂĂŒbungen auf Ernst eingewirkt habe. Es habe "ein stillschweigendes EinverstĂ€ndnis" fĂŒr eine Gewalttat bestanden.
Beweisen lieĂ sich das letztlich nicht. Er wurde wegen des Mordes freigesprochen. Ăbrig blieb eine BewĂ€hrungsstrafe von anderthalb Jahre wegen eines VerstoĂes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Im Prozess schwieg H. zu den MordvorwĂŒrfen. Stattdessen grinste er im Verhandlungssaal, lachte gelegentlich. So beschreiben es Journalisten, die regelmĂ€Ăig vor Ort waren. Möglicherweise war H. sich seiner Sache sicher. Nach Ansicht von Experten war psychische Beihilfe zum Mord "die schwĂ€chste und umstrittenste strafrechtliche Beteiligungsform", wie etwa "Legal Tribune Online" schrieb. Soll heiĂen: Einige sahen die Anklage auf schwachen FĂŒĂen.
Die Indizienkette
H.s Anwalt Björn Clemens, der regelmĂ€Ăig Neonazis in Prozessen vertritt und auch selbst in der Szene verkehrt, kommentierte schon zu Beginn des Verfahrens, psychische Beihilfe werde "oft dann bemĂŒht, wenn man gegen einen Beschuldigten nichts in der Hand hat, aber gerne etwas in der Hand hĂ€tte". Dabei war es mitnichten so, dass es keine belastenden Indizien gegen H. gab. t-online berichtete ĂŒber seine mögliche Rolle bei dem Mord. Allein, es waren nur Indizien.
Ernst und H. kannten sich seit Jahrzehnten und teilten die nationalsozialistische Einstellung, beide waren als GewalttĂ€ter bekannt, sie trainierten gemeinsamen das SchieĂen. H. vermittelte die Tatwaffe, sie besuchten und filmten gemeinsam die BĂŒrgerversammlung mit Walter LĂŒbcke, die Ernst zum Anlass nahm, den Politiker zu erschieĂen. AnschlieĂend verbreiteten sie den Mitschnitt im Netz. Sie waren gemeinsam auf AfD-Demos, kommunizierten verschlĂŒsselt und löschten nach der Tat ihren Chatverlauf. In einem Buch von H. war LĂŒbckes Name farblich markiert. Und schlieĂlich belastete Ernst seinen WeggefĂ€hrten schwer.
Die fehlende GlaubwĂŒrdigkeit
Nur diese Aussage hĂ€tte H. vermutlich in BedrĂ€ngnis bringen können. Doch der Hauptangeklagte hatte seine GlaubwĂŒrdigkeit da schon lange verspielt. Insgesamt drei GestĂ€ndnisse legte Ernst ab, immer behauptete er einen anderen Tatablauf: ZunĂ€chst war er allein am Tatort, dann sollte es sogar H. gewesen sein, der LĂŒbcke erschoss, dann wieder er selbst, aber in Begleitung von H. â im Prozess nahm die Suche nach dem, was das Gericht Ernst glauben konnte und was nicht, groĂen Raum ein.
Ernst wurde zugleich vom Vorwurf des versuchten Mordes an einem irakischen FlĂŒchtling 2016 freigesprochen, der ebenfalls Teil der Anklage war. Er hatte den Vorwurf stets bestritten, die Bundesanwaltschaft sah ihn als erwiesen an.
Dabei rĂŒckten auch die Szene-AnwĂ€lte des Hauptangeklagten spektakulĂ€r ins Interesse: Zwei ehemalige Verteidiger von Ernst mussten selbst im Zeugenstand aussagen. Der erste, Dirk Waldschmidt, soll Ernst zum ersten GestĂ€ndnis verleitet haben, indem er versprach, finanzielle Hilfe aus der Neonazi-Szene zu organisieren. Im Gegenzug habe er nur H. aus der Sache heraushalten sollen, behauptete Ernst. Der Anwalt rĂ€umte zwar ein, von derlei UnterstĂŒtzernetzwerken zu wissen, ansonsten seien die VorwĂŒrfe aber falsch.
Die mysteriöse E-Mail
Der zweite ehemalige Verteidiger, Frank Hannig, soll Ernst hingegen dazu gedrĂ€ngt haben, das zweite GestĂ€ndnis abzulegen, in dem er H. als SchĂŒtzen belastete. Das habe laut Ernst dazu dienen sollen, H. zu einer Aussage zu bewegen. Mittlerweile lĂ€uft deswegen ein Ermittlungsverfahren gegen Hannig. Vor Gericht machte er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.
Doch kurz vor UrteilsverkĂŒndung war es Hannig, der die NebenklĂ€ger und Ernsts heutigen Verteidiger noch einen letzten Versuch unternehmen lieĂ, die mögliche Tatbeteiligung von H. zu klĂ€ren. Als das Gericht den Mitangeklagten mangels dringenden Tatverdachts aus der Untersuchungshaft entlieĂ, schrieb Hannig eine mysteriöse E-Mail an die Familie LĂŒbcke: Die Haftentlassung sei eine Fehlentscheidung.
Die Verbindungen ins NSU-Umfeld
BeweisantrĂ€ge zielten auf Hannigs Handakte ab, Ernst hatte ihn dafĂŒr von seiner Schweigepflicht entbunden. Nach einigem Hin und Her lieĂ der Staatsschutzsenat die Akte sicherstellen â in der Erwartung, sie enthalte Aussagen von Ernst ĂŒber den Tatablauf. Das Ergebnis war allerdings ernĂŒchternd. Der Richter maĂ den Notizen wenig Beweiskraft bei, schlieĂlich könne man eine solche Akte frisieren. Ernst hingegen blieb zum Schluss dabei: Das Letzte, was Walter LĂŒbcke gesehen habe, sei H.s Gesicht gewesen.
Sie haben Hinweise zu dieser Recherche? VerfĂŒgen Sie ĂŒber Einblicke in Bereiche, die anderen verschlossen sind? Sie möchten MissstĂ€nde mithilfe unserer Reporter aufdecken? Kontaktieren Sie uns unter hinweise@stroeer.de
Die Frage nach H.'s mutmaĂlicher MittĂ€terschaft, die nun vom Gericht verneint wurde, berĂŒhrte auch einen anderen wunden Punkt der AufklĂ€rung: Mit Ernst und H. standen zwei Neonazis vor Gericht, die ĂŒber Verbindungen in jene Kreise verfĂŒgen, die schon in Zusammenhang mit den Terroristen des NSU standen. Gab es personelle Parallelen und KontinuitĂ€ten zwischen der Anschlagsserie damals und dem Mord an LĂŒbcke? DarĂŒber muss zumindest spekuliert werden. Das UnterstĂŒtzer-Netzwerk des NSU wurde nie vollkommen aufgeklĂ€rt. Die Nebenklage warf den Verfassungsschutzbehörden ein "Komplettversagen" vor.
Der Verein, das Netzwerk und der NSU-Mord
Denn Ernst war laut Recherchen der "Welt" bis 2011 Vereinsmitglied der sogenannten "Artgemeinschaft", zu der auch das NSU-Trio und ihre UnterstĂŒtzer Kontakte unterhielten. Nachdem der NSU im November desselben Jahres aufflog, tauchte Ernst nicht mehr öffentlich in der Szene auf. Ein Bild, das ihn angeblich im FrĂŒhjahr 2019 bei einem Treffen des NSU-Ă€hnlichen Neonazi-Netzwerks "Combat 18" zeigt, ist unter Gutachtern umstritten. Gleichwohl unterhielt er Kontakte zu wichtigen RĂ€delsfĂŒhrern der nun verbotenen Gruppe.
Und auch H. tauchte laut mehreren Medienberichten im Zusammenhang mit den NSU-Morden in Ermittlungsakten auf: Demnach kannte er den 2006 in Kassel ermordeten InternetcafĂ©-Betreiber Halit Yozgat und besuchte nach der Tat auffĂ€llig oft die Fahndungsseite des Bundeskriminalamts. Seiner anschlieĂenden Befragung folgten allerdings keine weiteren Schritte. Sein rechtsextremer Hintergrund wurde nicht ĂŒberprĂŒft.
Der VerfassungsschĂŒtzer
Das ist vor allem deswegen brisant, da es eine weitere personelle Verbindung zwischen den beiden Morden gibt: Der VerfassungsschĂŒtzer Andreas Temme, der zur Tatzeit des Mordes an Yozgat vor Ort war, arbeitete zuletzt als Sachbearbeiter im RegierungsprĂ€sidium, war LĂŒbcke unterstellt und kannte auch ihn persönlich. Er wurde von Ermittlern vernommen â womöglich auch, weil er in seiner Zeit als VerfassungsschĂŒtzer mehrfach mit Ernst befasst war.
All diese Leerstellen aufzuklĂ€ren, liegt nun womöglich ausschlieĂlich in den HĂ€nden des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, den der hessische Landtag eingesetzt hat. Ab Ostern etwas sollen Zeugen befragt werden. Bis dahin können die Abgeordneten Einsicht in die Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft und die Verfahrensakten des Gerichts nehmen, inklusive der NSU-Akten. Fast 2.000 Aktenordner sollen es insgesamt sein. ZusĂ€tzlich wurden bereits 40 Personenakten von Neonazis aus dem Umfeld der Angeklagten angefordert. Mehr als 20 weitere sollen hinzukommen.
Es sind diese Unterlagen, die fĂŒr Furore sorgen könnten. Denn laut Recherchen der "Welt" ist in ihnen auch Ernsts NĂ€he zum prominenten Neonazi und NPD-Vize Thorsten Heise dokumentiert, der als Strippenzieher der Szene und zentrale Figur fĂŒr das "Combat 18"-Netzwerk gilt. Vielfach taucht er in den Akten zu den NSU-Morden auf. Ihn habe Ernst noch 2011 zu einer Sonnenwendfeier besucht. Das belegt ein Foto, das auch im Prozess gezeigt wurde. Es soll angeblich der Akte von Markus H. beigefĂŒgt gewesen sein.