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Corona-Regeln in Berlin | Mediziner verärgert: "Das Unverständnis ist riesig"


Lockerungen trotz dritter Welle
Berlins Corona-Harakiri

  • Annika Leister
Von Annika Leister

31.03.2021Lesedauer: 5 Min.
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Ein Pfleger auf einer Berliner Intensivstation: Die Patienten werden in der dritten Welle noch länger zur Erholung brauchen, befürchten Experten.Vergrößern des Bildes
Ein Pfleger auf einer Berliner Intensivstation: Die Patienten werden in der dritten Welle noch länger zur Erholung brauchen, befürchten Experten. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa-bilder)

Deutschlands Hauptstadt liegt bei einer Inzidenz über 140. Trotzdem sollen Millionen Bürger mit Tests weiter shoppen dürfen. Intensivmediziner sind fassungslos, sie fordern den sofortigen Lockdown.

Deutschland ist zerrissen zwischen Lockern und Lockdown, zwischen Bundeskanzleramt und Ministerpräsidenten, zwischen dem Wunsch nach alter Normalität durch neue Instrumente und dem Wunsch, die Neuinfektionen weiter mit allen Mitteln zu senken. Nach der letzten Corona-Schalte von Bund und Ländern und der Verabredung einer Notbremse brechen trotz hoher Inzidenzwerte mehrere Ministerpräsidenten mit Plänen aus, die sie anders nennen, die aber oft im Grunde Lockerungen, begleitet von Tests, sind.

Deutlich zeigt sich der Drang, Erleichterungen für Wirtschaft und Alltag entgegen der Infektionszahlen zu schaffen und zu halten, zurzeit in der Millionenmetropole Berlin. Denn Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), der bisher stets darauf beharrte, eng und gut mit dem Kanzleramt zusammenzuarbeiten, bildet neuerdings eine trotzige Front mit CDU-Ministerpräsidenten gegen Bundeskanzlerin Merkel.

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Die mit dem Bund vereinbarte Notbremse beim Überschreiten der Inzidenz von 100 – Müller will sie nicht ziehen, will nicht zurück in den harten Lockdown. Inzwischen liegt die Hauptstadt bei einer Inzidenz von über 140, die Intensivbetten sind zu 18,9 Prozent mit Covid-Patienten belegt, der R-Wert liegt über 1. Keiner der zwölf Bezirke verzeichnet eine Inzidenz unter 110. Rote und gelbe Ampeln leuchten im senatseigenen Frühwarnsystem.

Zum Vergleich: Vor nicht allzu langer Zeit galt dem Senat eine stadtweite Inzidenz von 30 als Startschuss für Lockerungen.

"Test and Meet" im Einzelhandel bei Inzidenz über 140

Statt Notbremse hat der rot-rot-grüne Senat neben mehr Test- und Homeoffice-Pflichten für Arbeitgeber beschlossen: Die Berliner dürfen weiter shoppen, ab diesem Mittwoch sogar ohne Termin, dann aber mit Test. Sie brauchen dazu einen Negativtest aus einem Testzentrum, der nicht älter als 24 Stunden ist. Öffnungen in Zukunft an Tests binden – das soll die Lösung sein, Freiheiten ermöglichen für mehr als 3,5 Millionen Bürger in der Hauptstadt, trotz eigentlich zu hoher Inzidenz. Ähnliche Pläne verfolgen das Saarland und Dutzende Modellstädte deutschlandweit.

"Testen und bummeln" wie in Berlin, kommentierte die Kanzlerin spitz bei "Anne Will", sie wisse ja nicht, ob das jetzt die richtige Antwort sei. Sonst passierte nichts.

Berliner Intensivmediziner: "Das Unverständnis ist riesig"

Das medizinische Personal in Berlin, das seit Monaten die Hauptlast der Krise trägt, macht das fassungslos. "In unserem Klinik-Netzwerk in Berlin ist das Unverständnis riesig", sagte Professor Steffen Weber-Carstens t-online. Er ist leitender Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Charité und medizinisch-wissenschaftlicher Leiter des bundesweiten DIVI-Intensivregisters. "Es ist für uns Intensivmediziner nicht nachzuvollziehen, warum jetzt nicht eingeschritten wird."

Die Charité betreut die meisten und die härtesten Covid-Intensivfälle in Berlin und koordiniert die Verteilung leichterer Fälle auf Krankenhäuser in der ganzen Stadt. Weber-Carstens sitzt außerdem in dem Gremium, das grenzüberschreitende Patientenverlegungen zwischen fünf Bundesländern koordiniert. Thüringen ist da zurzeit mahnendes Beispiel – dort sind mehr als 170 Betten auf Intensivstationen mit Covid-Patienten belegt, das macht 30 Prozent aus. Schon ab einer Belegung ab 20 Prozent wird die Versorgung nach Einschätzung von Thüringer Experten kritisch.

In Berlin war die Situation auf den Intensivstationen zuletzt erst Anfang des Jahres ähnlich angespannt, weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit, erzählt Weber-Carstens. Auf keinen Fall wollen er und seine Kollegen zurück zum Ausnahmezustand, den Weber-Carstens "Spitzenbelastung" nennt. Erst recht nicht so bald.

Intensivmediziner fordern sofortigen Lockdown

Müller trifft die Kritik der Intensivmediziner direkter als andere Ministerpräsidenten. Denn der 56-Jährige ist neben dem Amt als Regierender Bürgermeister auch Wissenschaftssenator. In der Krise hat er die Rolle der Wissenschaften in der Hauptstadt betont und sich bei unzähligen Gelegenheiten besonders mit der Charité, dem deutschen Harvard, der Klinik Drostens, dem Technik-Vorreiter, geschmückt.

Doch diese Experten warnen jetzt, fordern zum Handeln auf. "Wir sehen jetzt wieder eine deutliche Steigerung an Patienten, die auf die Intensivstation drängen", sagt Weber-Carstens. Und: "Wir bereiten uns auf eine deutliche Zunahme von Patientenzahlen auf den Berliner Intensivstationen vor." Die vorläufige Talsohle der letzten Wochen war mit 184 Patienten am 18. März auf den Berliner Intensivstationen erreicht. Mit Stand von diesem Dienstag wurden 234 Intensivpatienten in Berlin gemeldet.

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"Aus unserer Sicht brauchen wir jetzt einen klaren Shutdown, einen Lockdown mit rigiden Kontaktbeschränkungen, so wie im Dezember und Januar", fordert Weber-Carstens. Er will kein Risiko eingehen. Der Lockdown sei das einzige erprobte Instrument, um zumindest das exponentielle Wachstum bei den Neuinfektionen zu stoppen.

"Jetzt, in der heißesten Phase, kommt das zur Unzeit"

Müller argumentiert, ebenso wie der saarländische Ministerpräsident Hans, für das neue "Test and Meet"-Konzept im Einzelhandel auch als neues Instrument der Kontrolle in der Pandemie. Mehr Tests, mehr erkannte Infektionen. Hans verweist außerdem auf den Fortschritt bei den Impfungen.

Weber-Carstens genügt das angesichts der aktuellen Infektionszahlen nicht. "Der jetzige Anstieg in der Infektionsdynamik ist durch Impfen und Teststrategien nicht mehr zu kontrollieren", sagt er. Beim so wichtigen Impfen komme Deutschland zu langsam voran, um die Krankenhäuser zeitnah zu entlasten. Das "Test and Meet"-Konzept? Aus Sicht des Oberarztes ein "Fehler". Deutschland habe es in den letzten Monaten nicht geschafft, diese Konzepte zu etablieren. "Jetzt, in der heißesten Phase, kommt das zur Unzeit."

Auf den Intensivstationen steigt derzeit nicht nur die Zahl der Patienten, sondern auch der Aufwand ihrer Behandlung. Manche von Weber-Carstens Patienten werden schon seit November versorgt. Etwa die Hälfte stamme noch aus der zweiten Welle, schätzt der Oberarzt, der Rest komme aus der neuen, dritten Welle nun erst hinzu. "Die Mutante B.1.1.7. wirkt sich aus. Die Patienten werden jünger. Wir rechnen außerdem damit, dass sie eine noch längere Liegedauer haben."

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Der Charité-Arzt sieht zurzeit nur noch einen Weg, um Ausnahmesituationen in den Krankenhäusern zu verhindern: Die Politik müsse handeln – und zwar rasch.

Mit ihrer Kritik an dem Kurs der lockernden Bundesländer stehen die Intensivmediziner nicht allein da. Im Netz hat sich ein Bündnis für einen raschen, harten Lockdown formiert. Unter Hashtags wie #harterlockdown werden Forderungen gepostet. Eine Petition, die einen sofortigen, bundesweiten Lockdown von der Bundesregierung verlangt, sammelte gerade innerhalb von kurzer Zeit fast 70.000 Unterschriften online.

Bezirksbürgermeister Benn: "Geltungssucht in 16 + 1 Spielarten"

Verärgert über das Lockern der Länderchefs ist auch Sören Benn (Linke). Er ist Bürgermeister in Pankow, mit circa 400.000 Einwohnern der bevölkerungsreichste Bezirk Berlins. "Ich ringe täglich um Fassung", schreibt Benn t-online auf Nachfrage.

Für Benn ist die Rechnung klar: Mehr Shopping führt auch mit Negativtest zu mehr Personal in den Geschäften, mehr Mobilität, mehr Kontakten, auch zu Schlangen vor den Teststellen. Das sei "keine gute Idee, sondern testbemäntelte Öffnung", findet er. "Es hat sich noch keiner aus einer Pandemie herausgetestet."

Benn vermutet als Gründe für die Entscheidungen des Berliner Senats und der Ministerpräsidenten einen Ansturm von Bürgerpost, den "Einfluss von verschiedenen Interessengruppen", auch der Medien, sowie "Dominanzgebaren und Geltungssucht". Benn: "Und das in 16 +1 Spielarten – sicher kein geeignetes Krisenreaktionsinstrument."

Der Linke ist Verfechter einer strikten Eindämmungsstrategie, auch er fordert den Lockdown mit rigiden Kontaktbeschränkungen wie im Dezember. "Den Beschluss dazu und seine Inhalte braucht es sehr schnell." Um die Infektionskurve wieder zu senken, helfe zurzeit nur maximale Kontaktreduzierung. Für die Zeit danach müsse ein "verbindliches Niedriginzidenzziel" festgelegt werden – Öffnungen soll es nach Benns Vorstellung erst geben, wenn diese Inzidenz sieben Tage am Stück unterschritten wird.

Der Berliner Senat hat am Dienstag getagt. Über mögliche Beschränkungen will er trotz der hohen Inzidenzwerte erst nach Ostern wieder diskutieren. Erst einmal soll am Mittwoch die neue Verordnung in Kraft treten, inklusive "Test and Meet". Eine Anfrage von t-online dazu, wie viele Berliner sich überhaupt schon einmal in einem Zentrum haben testen lassen, beantwortete die Senatsverwaltung für Gesundheit am Dienstag nicht.

Ausgang des Experiments: offen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Steffen Weber-Carstens
  • Anfrage an Sören Benn
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