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Lehren aus der Corona-Pandemie: "Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten"


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Lehren aus der Pandemie
Die Corona-Krise hat Deutschland entzaubert

MeinungEin Gastbeitrag von Moritz Schularick

Aktualisiert am 18.07.2021Lesedauer: 5 Min.
Angela Merkel und Olaf Scholz: "Die Probleme bei der politischen Entscheidungsfindung waren unübersehbar", schreibt der Ökonom Moritz Schularick.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel und Olaf Scholz: "Die Probleme bei der politischen Entscheidungsfindung waren unübersehbar", schreibt der Ökonom Moritz Schularick. (Quelle: Future Image/imago-images-bilder)
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Corona war nur der Probelauf für enorme politische und ökonomische Probleme, die auf uns zukommen. Deshalb muss das Land dringend krisenfester werden.

Die Kritik am deutschen Staat und seiner Leistungsfähigkeit war in der Corona-Pandemie außerordentlich scharf. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums diagnostizierte "Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten" und scheute sich nicht, in einem offiziellen Gutachten von "Organisationsversagen" zu sprechen.

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus rief nach 16 Jahren Regierungsverantwortung seiner Partei zur Revolution auf, wobei man davon ausgehen darf, dass er damit keinen Regierungswechsel meinte. Die Virologin Melanie Brinkmann sprach von einer "intellektuellen Beleidigung", die britische "Financial Times" von der "Lachnummer Deutschland". Michael Halleg, Leiter der Intensivmedizin der Uniklinik Köln, brachte seine Kritik an der deutschen Corona-Politik bei Anne Will nüchterner, aber umso wirksamer auf den Punkt: "Viele Menschen leiden und sterben, ohne dass es nötig wäre."

War diese Kritik nur ein (zu) lautes Aufregen, der Angst und Verunsicherung in der Pandemie geschuldet? Ist es einfach so, wie es Minister Jens Spahn ausdrückte, dass ein paar Fehler gemacht worden sind und wir uns am Ende alle viel verzeihen müssen?

Aber selbst wenn wir am Ende im internationalen Vergleich mit relativ niedrigen Opferzahlen durch die Pandemie kommen werden, müssen wir in Zukunft derartige Herausforderungen besser bewältigen. Denn die werden kommen. Die Fußball-Weisheit von Sepp Herberger gilt in abgewandelter Form auch hier: Nach der Krise ist vor der Krise.

Irreversible Eingriffe in den Ökohaushalt des Planeten werden in den kommenden Jahrzehnten nicht nur zu weiteren Pandemien und Naturkatastrophen führen, sondern auch zu Migrationswellen und politischen Konflikten zwischen und innerhalb von Gesellschaften. Enorme politische und ökonomische Herausforderungen kommen auf uns zu, für die Corona nur der Probelauf war. Mehr als jemals zuvor müssen wir krisenfest sein.

Auf gesellschaftlicher Ebene haben sich bereits neue Risse aufgetan. Es ist bisher nicht erkennbar, dass ein gerechter Ausgleich der Lasten zwischen Jung und Alt stattgefunden hat. Das Virus war vor allem eine Gefahr für die Alten, aber die Kosten der Pandemie trugen die jüngeren Generationen in Form von Doppelbelastung, Einkommensverlust, Jobunsicherheit und Schulausfall, während Rentner und Pensionäre finanziell ohne Einbußen durch die Krise gekommen sind.

In der Zukunft werden die Jungen nicht nur zusätzliche finanzielle Belastungen, sondern auch die Kosten des Bildungsausfalls zu tragen haben.

Deutschland stolperte durch die Pandemie

Auch andere gesellschaftliche Konfliktlinien taten sich auf. Dass bei sogenannten "Querdenker"-Demos Neonazis mit Reichskriegsflaggen Seite an Seite mit Regenbogenfahnen schwenkenden Hippies und anthroposophischen Hausfrauen demonstrierten, sagt viel über die politische Unübersichtlichkeit der Situation aus. Auch gesellschaftlich gab uns die Pandemie einen Vorgeschmack auf künftige Ungewissheiten.

Aber insbesondere die Schwächen des staatlichen Krisenmanagements sind in der Pandemie offenbar geworden. Krisen sind ein Lackmustest für die Leistungsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit des Staates. Deutschland tat sich schwer in dieser Situation und stolperte durch die Pandemie.

Das Land hat zwei unterschiedliche Phasen der Pandemien erlebt. Eine erste Phase vom März 2020 bis zum Sommer, in der sich das Land relativ gut und erfolgreich geschlagen hat. Es konnte sich dabei weitgehend auf seine alten sozialstaatlichen Institutionen aus der Nachkriegs-Bundesrepublik verlassen. Im Sommer 2020 schaute die Welt auf Deutschland und seinen Sozialstaat als Erfolgsmodell.

Aber schon ein halbes Jahr später war nur noch wenig Selbstzufriedenheit übrig. Die Untätigkeit des Sommers und Herbstes rächte sich. In der zweiten Phase der Krise ab dem November traten die Defizite deutlich zutage. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Verwaltung, die mangelnde Digitalisierung, vor allem aber die Probleme bei der politischen Entscheidungsfindung waren unübersehbar.

Moritz Schularick ist Professor für Makroökonomie und Direktor des Macrofinance Lab an der Universität Bonn. Während der Corona-Pandemie hielt er sich für mehrere Monate in New York auf, weil er bei der dortigen Federal Reserve arbeitete.

Die Politik musste vorausschauend agieren und neue Lösungen finden, teilweise musste der Staat wie bei der Impfstoffproduktion und -beschaffung auch selbst ins Risiko gehen und unbekannte Wege beschreiten. Prioritäten mussten definiert, Strategien entwickelt und in einem sich rasch ändernden Pandemie-Umfeld dynamisch umgesetzt werden.

Hier liefen die Dinge im Großen und Ganzen nicht rund. Der Staat war operativ nicht gut aufgestellt, den Verwaltungen und Ämtern fehlte es an Ausstattung und Organisationskraft, es mangelte an Testzentren, Computern und Software. Dem Staat fehlte auch die Wissens-Infrastruktur in Form von Daten, Prozessen und Institutionen, in denen ein produktiver und geordneter Austausch zwischen Politik und Wissenschaft auf der Basis aktueller Informationen stattfinden konnte. Es fehlte auch die Flexibilität im Denken und Handeln, um mit einer Ausnahmesituation umzugehen, für die es keine Betriebsanleitung gab.

Das Risiko-Karussell dreht sich immer weiter

Wenn es sich um Einzelfälle handelte, würde es ausreichen, zu erklären, was jeweils schieflief. Aber es gibt ein Muster, das auf ein tieferliegendes Problem hindeutet. Wir brauchen eine andere organisatorische und intellektuelle Infrastruktur, um mit künftigen Herausforderungen besser umzugehen. Die Ursachen hierfür liegen tiefer.

Vor gut 30 Jahren prägte der vor ein paar Jahren verstorbene Soziologe Ulrich Beck den eingängigen Begriff der "Risikogesellschaft". Im Jahr des Reaktorunfalls von Tschernobyl argumentierte er in seinem gleichnamigen Buch, dass moderne Gesellschaften im Zuge des ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Fortschritts zunehmend Risiken produzieren: Umweltverschmutzung, Erderwärmung, ein immer komplexeres und störungsanfälligeres globales Wirtschafts- und Finanzsystem. Wenn ein Risiko eintritt, wenn die Pandemie durchs Land zieht, dann sind wir wiederum auf Wissenschaft und Technik angewiesen, um die Auswirkungen zu managen. Wir müssen die Ausbreitung von Radioaktivität oder von Viren verstehen und in den Prozess eingreifen. Das wiederum birgt neue Risiken. So dreht sich das Risiko-Karussell immer weiter.

Das Aufkommen des SARS-CoV-2-Virus in China war zu einem guten Teil auf menschliche Eingriffe in die Natur zurückzuführen und eng mit der Urbanisierung im chinesischen Wirtschaftswunder verbunden. Auch die globale Ausbreitung des Virus durch Interkontinentalflüge und die schnelle Übertragung in dicht besiedelten Großstädten hatte mit dem technischen und ökonomischen Fortschritt zu tun.

Dank der modernen Wissenschaft wurden bereits wenige Monate nach dem Ausbruch der Pandemie die ersten Impfstoffe entwickelt, die das Virus stoppen können. Ohne Zweifel ein Triumph der Wissenschaft. Aber diese Impfstoffe brachten auch wieder neue Risikoabwägungen: Sollte man einen Impfstoff anwenden, der bei zehn von einer Million Menschen zu schweren Komplikationen führt, wenn gleichzeitig der Impfschutz viel mehr Menschen vor der Infektion bewahrt? Und sollte man in der Zwischenzeit die Inzidenz sehr gering halten oder den Versuch machen, mit dem Virus zu leben?

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Wir sind nicht gut vorbereitet

In der Risikogesellschaft findet sich der Staat in einer neuen komplexen Rolle als Risikomanager. Er muss etwa die Risiken für die Gesundheit und jene für die Wirtschaft gegeneinander abwägen. Dafür ist der deutsche Staat bislang schlecht gerüstet. Deutschland, seine Institutionen und seine Politiker sind noch nicht in der Risikogesellschaft angekommen. Im Rückblick waren viele der Entscheidungen nicht optimal, insbesondere die Abwägungen zwischen Wirtschaft und Gesundheit.

Wir sind daher nicht gut auf das vorbereitet, was auf uns zukommt. Das ist vielleicht das größte Problem, das die Krise offenbart hat. Die Enttäuschung und der Vertrauensverlust in die staatliche Leistungsfähigkeit kommen zur Unzeit. Wie soll ein Staat, der es in einem Jahr nicht schafft, Lüfter in den Klassenzimmern seiner Schulen einzubauen, glaubhaft den komplexen ökologischen Umbau der gesamten Volkswirtschaft steuern und neue Konzepte für Mobilität, Wohnen und Energie begleiten und durch Investitionen fördern?

Wirtschaftshistoriker wissen, dass der Aufbau von Staatskapazität, der Fähigkeit des Staates, für Infrastruktur, öffentliche Güter und Planungssicherheit zu sorgen, die zentrale Voraussetzung für den Beginn modernen Wirtschaftswachstums in der industriellen Revolution und ein wichtiger Wettbewerbsfaktor war. Letzteres wird bei der anstehenden zweiten Revolution, der ökologischen Transformation der Volkswirtschaft, nicht anders sein. Mit einem nur "bedingt einsatzbereiten" Staat ist unser künftiger Wohlstand in Gefahr. Wir müssen die Lehren aus der Pandemie ernst nehmen.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch "Der entzauberte Staat. Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss", das im Verlag C.H.Beck erschienen ist.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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