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Bürgergeld: Wie gefährlich ist die Hartz-IV-Reform?


Jobcenter-Chef spricht Klartext
"Die wollten mehr über unser erfolgreiches Hartz IV wissen"


Aktualisiert am 10.11.2022Lesedauer: 5 Min.
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Eine Frau vor einem Jobcenter: Um das neue Bürgergeld, das ab 1. Januar Hartz IV ablösen soll, wird heftig gestritten. (Quelle: IMAGO/Rolf Poss)

Ab Januar soll das neue Bürgergeld kommen. Hält es Menschen vom Arbeiten ab? Ein Jobcenter-Chef spricht am Telefon Klartext.

"Ein gängiges Klischee lautet: Hartz-IV-Bezieher sind faul und deshalb im Leistungsbezug. Das stimmt nicht. Ich bin seit 2005 Geschäftsführer des Jobcenters in der Städteregion Aachen mit derzeit rund 49.000 Kundinnen und Kunden. Und ich kann nur sagen: Die Unmotivierten sind Einzelfälle, nicht die Mehrzahl. Aber wir erkennen, dass unter anderem die Corona-Pandemie nachhaltig negative gesundheitliche Auswirkungen auf eine Vielzahl der von uns betreuten Menschen hinterlassen hat. Intensive persönliche Hilfe ist wichtiger denn je. Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie stehen, was jedoch oft komplex und sehr aufwendig ist.

Stefan Graaf
Stefan Graaf (Quelle: Jobcenter Aachen)

Der Experte aus der Praxis

Stefan Graaf, ist seit 2005 Geschäftsführer des Jobcenters Städteregion Aachen und Sprecher des Bundesnetzwerks der Jobcenter.

Ich habe die Hartz-IV-Reform 2005 hautnah mitbekommen. Und ich finde, die Grundsicherung war besser als ihr Ruf. Dank Hartz IV haben wir zum Beispiel die Flüchtlingskrise gut überstanden, wir konnten in der Pandemie die Existenzen vieler Soloselbstständigen absichern und haben es geschafft, viele Menschen für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren. Mein Jobcenter ist im Dreiländereck und zu mir kamen unsere Nachbarn aus den Niederlanden, weil sie mehr über unser erfolgreiches Hartz-IV-System wissen wollten.

Trotzdem war eine Reform im Sinne einer Fortentwicklung dringend notwendig. Hartz IV stammt aus der Zeit der Massenarbeitslosigkeit und einem sehr unzugänglichen Arbeitsmarkt. Heute haben wir einen Arbeitnehmerarbeitsmarkt mit einer sehr großen Nachfrage, insbesondere nach Fachkräften. Viele Menschen können sich die Arbeit aussuchen, sind nicht mehr auf das erstbeste Angebot angewiesen. Die, die keine Arbeit finden, haben meist andere Probleme.

Zwei Drittel aller arbeitslosen Menschen in der Grundsicherung haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. Bei uns sind es sogar 80 Prozent. Wir brauchen aber jeden auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb stellt das Bürgergeld die Aus- und Weiterbildung in den Mittelpunkt. Das finde ich richtig.

"449 Euro reichen bei vielen vorne und hinten nicht mehr"

Hinzu kommt, dass die Energie- und Lebensmittelpreise stark angestiegen sind. Da reicht der bisherige Regelsatz von 449 Euro pro Monat bei vielen vorne und hinten nicht mehr. Auch deshalb ist es wichtig, Hartz IV weiterzuentwickeln und den Regelbedarf anzupassen. Täglich erreichen uns die Alarmrufe der Tafeln, die einen Zustrom von Menschen erleben wie nie zuvor. Hinzu kommen die vielen ukrainischen Flüchtlinge, die seit Juni in der Grundsicherung sind.

Das Bürgergeld ist in vielen Punkten sinnvoll: Der soziale Arbeitsmarkt wird entfristet, was heißt, dass wir Langzeitarbeitslose längerfristig mit einem Lohnkostenzuschuss unterstützen können. Und sie bekommen ein berufsbegleitendes Coaching. Das ist sowohl für sie als auch die Arbeitgeber enorm hilfreich. Denn wir haben viele Kunden mit massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen, körperlich, aber auch psychosozial.

Auch die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs, der darauf abzielt, die Arbeitslose schnellstmöglich in Arbeit zu bringen (statt ihnen etwa eine Weiterbildung zu ermöglichen), halte ich für eine gute Sache. Ebenso wie die Tatsache, dass man versucht, positive Anreize zu schaffen. Etwa mit der Weiterbildungsprämie. Wer eine Weiterbildung startet, bekommt beim Bürgergeld künftig 150 Euro zusätzlich pro Monat.

"Die, die das System ausnutzen, sind Einzelfälle"

Wir müssen uns doch einmal grundsätzlich fragen: Welches Menschenbild streben wir an? Die gesellschaftliche und berufliche Integration bekommen wir nur mit den Menschen hin, nicht gegen sie. Das gilt auch für die Bezieher von Grundsicherung.

Allerdings muss es eine Balance geben. Diejenigen, die das System ausnutzen, sind Einzelfälle. Aber natürlich müssen wir darauf achten, dass es nicht mehr werden. Deshalb brauchen wir klare Spielregeln, also Mitwirkungspflichten. Sonst besteht die Gefahr, dass staatliche Leistungen auch ausgenutzt werden. Schon jetzt stellen wir fest, dass durch das Aussetzen bei den Sanktionen für einen bestimmten Zeitraum die Menschen schwerer zu erreichen sind und unzuverlässiger in der Rückmeldung und Terminwahrnehmung werden.

Im Bürgergeld ist eine sechsmonatige Vertrauenszeit vorgesehen. Die Ausrichtung, eine Vertrauenskultur zu schaffen, ist richtig, war im Übrigen schon immer der Weg der Jobcenter. Aber wir müssen das eng begleiten, auch wissenschaftlich. Wenn das nicht funktioniert, muss nachgebessert werden. Und man könnte festlegen, dass schon der erste Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht, etwa, wenn jemand einer Einladung ins Jobcenter nicht folgt, Rechtsfolgen hat. Im Bürgergeld ist das aktuell erst ab dem zweiten Verstoß vorgesehen. Allerdings liegt die Sanktionsquote in unserem Jobcenter auch in der Vergangenheit nur bei zwei bis drei Prozent. Bei Jugendlichen ist es ein bisschen mehr, aber so viele Verstöße gibt es nicht.

"Wer arbeitet, hat mehr im Portemonnaie"

Die Debatte um das zu hohe Schonvermögen kann ich nur bedingt nachvollziehen. Die Regelung, dass der Haushaltsvorstand 60.000 Euro behalten darf, zusätzlich zum Leistungsbezug, und jedes weitere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft 30.000 Euro, ist bereits in der Pandemie eingeführt worden. Ich habe aber in der Praxis noch keinen Fall erlebt, wo jemand so viel Vermögen hatte und Grundsicherung beantragt hätte.

Sehr viel häufiger gibt es hingegen die Situation, dass ältere Leistungsbezieher, die durch unglückliche Umstände in die Bedürftigkeit gekommen sind, ihr Häuschen verkaufen müssen. Es ist gut, dass hier die Regelung großzügiger wird. Wir erleben insbesondere diese Menschen, die einen Hausbesitz haben, in Sachen Arbeitsintegration besonders motiviert, um letztlich auch ihr Vermögen behalten zu können. Da ist eine zweijährige Karenzzeit unter Würdigung ihrer Lebensleistung sinnvoll.

Viele fragen sich mit Blick auf das Bürgergeld auch: Lohnt sich Arbeit dann überhaupt noch? Da kann ich nur antworten: Arbeit lohnt sich immer. Wer arbeitet, hat mehr im Portemonnaie, auch weil er noch Zuschläge bekommt wie den Kinderzuschlag und das ab 1. Januar 2023 wesentlich erhöhte Wohngeld. Zudem soll der steuerliche Grundfreibetrag für die Erwerbstätigen erhöht werden, sodass mehr Netto vom Bruttoeinkommen für die arbeitenden Menschen übrig bleibt. Berechnungen, die das anders darstellen, lassen diesen Aspekt weg. Auch wenn trotz Arbeit noch Bedürftigkeit bestehen bleibt, gibt es im Bürgergeldsystem für diese Menschen mehr Geld durch den Freibetrag wegen Erwerbstätigkeit sowie eventuell das Einstiegsgeld vom Jobcenter.

Arbeit lohnt sich aber auch deshalb, weil sie jenseits des Lohnes einen ganz wichtigen eigenen Wert hat und soziale Kontakte, Wertschätzung sowie einen strukturierten Tagesablauf bedeutet. Es ist auch Aufgabe der Jobcenter, die Menschen davon zu überzeugen, dass Arbeit für sie selbst das Beste ist. Dafür ist es gut, dass im Bürgergeld vorgesehen ist, dass wir noch mehr durch aufsuchende Arbeit zu den Menschen gehen. Das wird in vielen Jobcentern schon gemacht, ist aber sicher noch ausbaufähig.

"Darauf sollten wir es nicht ankommen lassen"

Allerdings gibt es dafür eine ganz wichtige Voraussetzung: Wir brauchen für alle aktuellen und neuen Aufgaben die dringend notwendigen Ressourcen Personal und ausreichend Geld. Stattdessen ist der Etat im Bundeshaushalt für die Jobcenter für 2023 um 610 Millionen Euro gekürzt worden. Das passt nicht zu den großen Reformplänen der Bundesregierung.

Ich sage es ganz klar: Wenn die Jobcenter nicht mehr Personal und eine bessere finanzielle Ausstattung erhalten, werden sie die vielen Herausforderungen nicht meistern können. Dann ist auch das Bürgergeld vom Scheitern bedroht. Darauf sollten wir es nicht ankommen lassen."

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Stefan Graaf
  • Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zur Einführung eines Bürgergelds am 7. November 2022: https://www.bundestag.de/mediathek/ausschusssitzungen?videoid=7547660
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