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Tag der Befreiung: Historiker kritisiert die Bezeichnung


Historiker über Weltkriegsende
"Es war eine Befreiung wider Willen"

InterviewVon John Hufnagel

Aktualisiert am 14.05.2025 - 20:42 UhrLesedauer: 4 Min.
Deutsche Kriegsgefangene 1945 in Berlin: am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa.Vergrößern des Bildes
Deutsche Kriegsgefangene 1945 in Berlin: Damals endete der Zweite Weltkrieg in Europa. (Quelle: akg-images)
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Der Begriff "Befreiung" gehört heute fest zur deutschen Erinnerungskultur. Doch ist er auch für die Deutschen selbst angebracht? Der Historiker Jens-Christian Wagner hat Zweifel.

Vor rund 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa. An Gedenktagen wird regelmäßig der Opfer des Nationalsozialismus gedacht – und der angemessene Umgang mit der Geschichte diskutiert. Umstritten ist etwa, ob der Begriff "Tag der Befreiung" für die Mehrheit der damaligen deutschen Bevölkerung gilt. Einige Historiker sehen in ihm eine entlastende Erzählung, die Deutschen machten es sich mit ihm zu leicht. So auch der Historiker Jens-Christian Wagner, der die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Weimar leitet.

t-online: Herr Wagner, der 8. Mai 1945 wird heute als Tag der Befreiung bezeichnet. Das war nicht immer so, oder?

Jens-Christian Wagner: Nein. Ursprünglich wurde der Begriff "Befreiung" von den Opfern des Nationalsozialismus verwendet – jenen, die aus den Konzentrationslagern befreit wurden. Zudem verwendete man den Begriff in der DDR. Auch die Alliierten trugen zur Prägung dieses Begriffs bei. Deutlich häufiger sprachen diese aber vom Sieg.

Jens-Christian Wagner: Der Historiker warnt vor der geschichtspoliitschen Strategie der AfD.
Jens-Christian Wagner: Der Historiker warnt vor der geschichtspoliitschen Strategie der AfD. (Quelle: Hannes P Albert/dpa)

Zur Person

Jens-Christian Wagner, Jahrgang 1966, ist promovierter Historiker und leitet die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere im Hinblick auf Zwangsarbeit und Konzentrationslager, sowie die deutsche Geschichtspolitik nach 1945. Er zählt zu den profiliertesten Stimmen der deutschen Erinnerungskultur.

Es war dann Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der 1985 in seiner viel beachteten Rede zum Kriegsende von einer Befreiung auch für die Deutschen sprach. Das löste damals Aufsehen aus und war umstritten. Warum?

Als Bundespräsident Weizsäcker den Begriff 1985 gewissermaßen staatstragend in die bundesdeutsche Erinnerungskultur einführte, war das ein emanzipatorischer Akt. Es war ein deutliches Zeichen gegen die Selbstviktimisierung der Deutschen, die sich selbst als die eigentlichen Opfer des Zweiten Weltkrieges fühlten und die NS-Verbrechen mit dem eigenen Leid von Flucht und Vertreibung aufrechneten. Richard von Weizsäckers Rede war übrigens nicht die erste, in der ein Paradigmenwechsel vollzogen wurde. Bereits im April desselben Jahres hatte Helmut Kohl das Konzentrationslager Bergen-Belsen besucht und in seiner Rede anlässlich des 40. Jahrestags der Befreiung in ähnlicher Weise über das Ende des Nationalsozialismus gesprochen.

Trotzdem kritisieren Sie den Begriff "Befreiung". Warum?

Ich kritisiere die rechtfertigende Note, die mittlerweile bei dem Begriff mitklingt. Wenn von der Befreiung der Deutschen gesprochen wird, hat das auch etwas Entschuldigendes und Entlastendes an sich – als seien die Deutschen insgesamt Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Die Nazis scheinen in dieser Perspektive Wesen von einem fremden Stern gewesen zu sein. Dabei hatten sich Millionen Deutsche eigeninitiativ an den NS-Verbrechen beteiligt, davon profitiert und zugestimmt oder zumindest stillschweigend zugesehen. Es waren deutsche Verbrechen, begangen von Deutschen. Viele wurden zu Komplizen und profitierten vom Eigentum der Opfer. Von wem also sollten die Deutschen befreit werden – von sich selbst? Die Deutschen konnten sich nicht selbst befreien – und wollten es vielfach auch gar nicht. In diesem Sinne war es eine "Befreiung wider Willen".

Was heißt das: "Befreiung wider Willen"?

Der Sieg der Alliierten befreite Deutschland vom Nationalsozialismus. Zugleich waren viele Deutsche Nazis und wollten nicht befreit werden. In heutiger kritischer Perspektive muss man feststellen, dass sich die Post-Täter-Gesellschaft später mit der Rede von der Befreiung gewissermaßen in die internationale Gemeinschaft der Opfer des Regimes und der Sieger über den Nationalsozialismus eingemeindet hat – eine Erzählung mit entlastender Wirkung.

Haben Sie das Gefühl, dass es heute ein Bewusstsein dafür gibt, wie stark die Bevölkerung an den NS-Verbrechen beteiligt war?

Zumindest sollte darauf stärker hingewiesen werden: Nur etwa die Hälfte der ermordeten Juden starb in Gaskammern wie denen in Auschwitz. Die andere Hälfte fiel dem sogenannten "Holocaust durch Kugeln" zum Opfer. Neben der SS waren auch Polizisten und Wehrmachtssoldaten an Massenerschießungen beteiligt – ebenso wie zahlreiche Personen, die insgesamt in der Logistik der Vernichtung mitwirkten: von Verwaltungsbeamten bis zu Lokführern. Auch an anderen Verbrechen waren zahlreiche Menschen beteiligt: Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen hatten an der Ermordung von Menschen mit Behinderung mitgewirkt.

Wie groß war die Zustimmung oder das stille Mittragen des NS-Regimes in der deutschen Bevölkerung?

Groß. Sehr viele waren in das nationalsozialistische System eingebunden, sie profitierten etwa auch von der Zwangsarbeit von 13 Millionen ausländischen Arbeitskräften. Aus Angst vor der Rache der Alliierten hielten die meisten bis zum Kriegsende am nationalsozialistischen Regime fest.

Inwiefern kann man dennoch sagen, dass auch die Deutschen vom NS-Regime befreit wurden?

Ja, auch die Deutschen wurden vom Nationalsozialismus befreit, denn immerhin endete mit dem 8. Mai 1945 die brutalste Diktatur der deutschen Geschichte, eine Diktatur, die allerdings zumindest in Teilen eine Zustimmungsdiktatur war.

Welche Verantwortung müssen wir heute für die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten übernehmen?

Wir tragen heute keine persönliche Schuld mehr – doch machen wir uns schuldig, wenn wir nicht die Verantwortung dafür übernehmen, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Erinnerung darf sich nicht im bloßen Trauern erschöpfen.

Wie kann das vermieden werden?

Wir müssen uns stets die Frage stellen, wie es überhaupt so weit kommen konnte, und was die Täter und Profiteure antrieb. Wie konnten damals die Verheißung von Ungleichheit in der Form einer vermeintlichen Volksgemeinschaft, die Kriminalisierung von Minderheiten und andere Mechanismen der Ausgrenzung eine solche Wirkung entfalten? Erinnerungskultur muss immer auf zukünftiges Handeln ausgerichtet sein. Ziel ist die Stärkung eines kritischen Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft. Das ist ein mühsamer, ständiger Prozess, der sich nicht auf einzelne Gedenktage beschränken darf.

Herr Wagner, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Jens-Christian Wagner
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