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Kanzlerin Angela Merkel: "Als zähle das ostdeutsche Leben vor der Einheit nicht"


DDR-Biografie als Ballast?
Angela Merkel bekommt für persönliche Rede stehende Ovationen


Aktualisiert am 03.10.2021Lesedauer: 5 Min.
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"Gibt es zwei Sorten von Bundesdeutschen?": In ihrer Rede am Sonntag ging Kanzlerin Merkel erstmals ausführlicher auf ihre DDR-Biografie ein – und richtet einen Appell an die Deutschen. (Quelle: reuters)

Bei einem Festakt zum Tag der deutschen Einheit

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in Halle bei einem Festakt zum Tag der deutschen Einheit ihre vielleicht persönlichste Rede gehalten. Dabei ging sie auch auf ihre eigene Ost-Vergangenheit ein. Vielfalt und Unterschiede seien keine Gefahr für die Demokratie, sagte Merkel, sondern Ausdruck gelebter Freiheit. Das gelte auch für das wiedervereinigte Deutschland. Doch oft sei die Wahrnehmung eine andere. "Müssen nicht Menschen aus meiner Generation und Herkunft aus der DDR die Zugehörigkeit zu unserem wiedervereinigten Land auch drei Jahrzehnte nach der deutschen Einheit gleichsam immer wieder neu beweisen? So als sei die Vorgeschichte, also das Leben in der DDR, irgendwie eine Art Zumutung?"

Die Kanzlerin zitierte aus einem Buch, das von der Konrad-Adenauer-Stiftung zur CDU-Geschichte veröffentlicht worden ist. Über sie heiße es darin, dass sie als 35-Jährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biografie in den Wendetagen zur CDU gekommen und "natürlich kein von der Pike auf sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung" gewesen sei. Dazu sagte Merkel nun: "Die DDR-Biografie, also eine persönliche Lebensgeschichte von in meinem Fall 35 Jahren in einem Staat der Diktatur und Repression – Ballast?" Der Duden, so Merkel weiter, definiere Ballast als eine "schwere Last", die in der Regel als Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt werde, oder als überflüssige Bürde abgeworfen werden könne.

"Ich erzähle das hier nicht, um mich zu beklagen"

Weiter sagte sie: "Ich erzähle das hier nicht, um mich zu beklagen." Sie sei wirklich die Letzte, die Grund zu klagen habe. Ihr sei im Leben viel Glück widerfahren. "Ich erzähle das auch nicht als Bundeskanzlerin, ich möchte es vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen. Als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben." Es sei so, als zähle dieses Leben vor der deutschen Einheit nicht wirklich, als sei es eben Ballast. "Bestenfalls zum Gewichtsausgleich tauglich, im Grunde aber als unnütze Last abzuwerfen."

Bis heute werde zu wenig gesehen, dass für die meisten Menschen in Westdeutschland die Wiedervereinigung im Wesentlichen bedeutet habe, dass es weitergehe wie zuvor, "während es für die Ostdeutschen fast alles veränderte: Politik, Arbeitsleben, Gesellschaft". Wer vorankommen wollte, habe sich ebenfalls verändern müssen. Nicht wenige hätten sich aber auch in einer Sackgasse wiedergefunden. "Auch solche deprimierenden Erfahrungen sind Teil unserer Geschichte, wie dürfen sie nicht ignorieren oder vergessen", sagte die Bundeskanzlerin. Die Gestaltung unseres Landes und der Einheit sei kein abgeschlossener Prozess.

Die Kanzlerin nahm dann Bezug auf einen weiteren Medienbericht. In einem Text der "Welt am Sonntag" habe über sie gestanden: "Sie distanzierte sich einen Atemzug lang von der Republik, deren zweite Dienerin sie doch war. Sie sagte: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in der Flüchtlingskrise ein freundliches Gesicht gezeigt zu haben, 'dann ist das nicht mein Land.' Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist." Ein von ihr geschätzter Journalist habe diese Zeilen geschrieben.

Merkel fragte mit kritischem Blick ins Publikum: "Keine geborene, sondern angelernte Bundesdeutsche? Keine geborene, sondern angelernte Europäerin? Gibt es zwei Sorten von Bundesdeutschen und Europäern? Das Original und die Angelernten, die ihre Zugehörigkeit jeden Tag aufs Neue beweisen müssen und mit einem Satz wie dem in der Pressekonferenz durch die Prüfung fallen können?" Mit ihrem berühmt gewordenen Satz habe sie damals auf eine Reporterfrage geantwortet und an die im September 2015 um die Welt gegangenen Bilder von Menschen erinnert. Jene, die in München und anderen Orten "Flüchtlinge mit offenem Herzen und ja, mit einem freundlichen Gesicht am Bahnhof empfangen hatten".

Distanziere sie sich nun durch die Antwort tatsächlich von ihrem Land? Was sei ihr Land? "Ein Land in dem alle miteinander immer neu lernen, in dem wir gemeinsam Zukunft formen, wie es das Motto des diesjährigen Tages der deutschen Einheit sagt. Ein Land, in dem gerade auch die Erfahrungen von Umbrüchen, von familiären Biografien, in dem die Anstrengung aber auch das Glück, das es bedeuten kann, neu anzufangen – zu müssen oder zu dürfen – als eine Erfahrung anerkannt wird, die uns gemeinsam Zuversicht und Stärke gibt", sagte Merkel.

"Das ist wahrhaftiger Mut"

Dieser Tag der deutschen Einheit erinnere an etwas, das "die meisten von uns bewusst miterlebt haben und das heute vor 31 Jahren unser Leben verändert hat." Der 3. Oktober 1990 stehe für die Wiedervereinigung dieses Landes in Frieden und Freiheit. "Diese Freiheit brach nicht einfach über uns herein, sie wurde errungen", sagt die Kanzlerin. Das Land konnte werden, weil es Menschen in der DDR gab, die für ihre Rechte alles riskiert hätten. "Wir stehen in ihrer Schuld.“ Wer damals aufgestanden sei und für die demokratischen Rechte gesprochen habe, habe nicht sicher sein können, dass es sich lohnen würde. "Das ist wahrhaftiger Mut."

"Für mich persönlich, die ich die Erfahrung der Mauer, der SED-Diktatur, die Angst vor dem Bespitzelungsapparat der Staatssicherheit, der Unfreiheit und Enge noch kenne, sind das Ende der Teilung und die Demokratie immer noch und immer wieder etwas Besonderes", fuhr Merkel fort. "Und zwar weil ich weiß, dass sie errungen wurden, und nicht zuletzt weil man die Demokratie auch leben, ausfüllen, schützen muss. Sie braucht uns so, wie wir sie brauchen." Demokratie sei nicht einfach da, sondern man müsse immer wieder für sie arbeiten, jeden Tag. Manchmal, so fürchte sie, werde mit den demokratischen Errungenschaften etwas zu leichtfertig umgegangen.

"Da wird die Demokratie angegriffen"

In dieser Zeit seien zusehends Angriffe auf so hohe Güter wie die Pressefreiheit zu sehen. Zu erleben sei eine Öffentlichkeit, in der mit Lügen und Desinformation Ressentiments und Hass geschürt würden. "Da wird die Demokratie angegriffen", sagte Merkel. Daher stehe nicht weniger als der gesellschaftliche Zusammenhalt auf dem Prüfstand.

Die Kanzlerin verwies auch auf Angriffe auf Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzten – wie Feuerwehrleute und Kommunalpolitiker. "Die verbale Verrohung und Radikalisierung, die da zu erleben sind, dürfen nicht nur von denen beantwortet werden, die ihr zum Opfer fallen, sondern müssen von allen zurückgewiesen werden." Denn allzu schnell mündeten verbale Attacken in Gewalt. Das hätten etwa die Angriffe auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walther Lübcke oder den Tankstellenkassierer in Idar-Oberstein und auch der Anschlag auf die Synagoge in Halle gezeigt. "So weit darf es gar nicht erst kommen."

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Deshalb müsse man sich an einem Tag wie heute auch ehrlich fragen, "wie wir miteinander umgehen und wie viel wechselseitigen Respekt wir vermitteln und wie wir die Demokratie vor denen schützen, die sie missachten, die sie verachten". Vorurteilen und Unwissenheit könne man entgegenwirken durch die Bereitschaft, offen für andere und ihre Ansichten und Erfahrungen zu sein. Das sei das Besondere einer Demokratie: dass sie individuelle Überzeugungen und Lebensentwürfe zulasse und schütze. "Wir dürfen verschieden sein, wir dürfen unsere Vorstellungen vom Glück so entwickeln, wie es uns guttut, solange das auf dem Boden unserer grundgesetzlichen Ordnung geschieht."

Merkel: Hätte auch anders ausgehen können

Merkel erinnerte eindrücklich an den mutigen Einsatz vieler Menschen in der DDR bei der friedlichen Revolution 1989/90. Man dürfe nie vergessen, dass es auch anders hätte ausgehen können. Sie würdigte zudem die Demokratiebewegungen in Osteuropa und die Unterstützung der westlichen Partner auf dem Weg zur deutschen Vereinigung.

Am Ende ihrer Rede erntete sie langanhaltenden Applaus und stehende Ovationen. Die Kanzlerin war davon sichtlich gerührt, signalisierte, dass der Applaus nun verstummen solle. "Wir haben seit der Wiedervereinigung viel erreicht", sagte sie zum Ende ihrer Rede. Das sei nur durch das Engagement der Menschen möglich gewesen. Es gelte nun, das Land weiter zu gestalten. "Es liegt in unseren Händen."

Verwendete Quellen
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
  • Livestream der Rede am 3. Oktober 2021
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