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Ex-Wehrbeauftragter Bartels zu Wehrpflicht: "Pistorius backt lieber kleine Brötchen"


Ex-Wehrbeauftragter zu Pistorius-Plan
"Das wäre der Gamechanger"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel

13.06.2024Lesedauer: 5 Min.
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Boris PistoriusVergrößern des Bildes
Verteidigungsminister Boris Pistorius: Wie tragfähig ist sein Wehrmodell? (Quelle: Kay Nietfeld/dpa/dpa-bilder)

Boris Pistorius will die Bundeswehr kriegstüchtig machen und braucht dafür mehr Soldaten. Kann sein neuer "Auswahl-Wehrdienst" Abhilfe schaffen? Der frühere Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels ist skeptisch – und wirft dem Minister vor, "lieber kleine Brötchen zu backen".

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat am Mittwoch seine Wehrdienstpläne vorgestellt. Das Modell basiert im Kern auf einem Online-Fragebogen, den künftig alle 18-Jährigen erhalten sollen. Darin sollen sie Fragen zu ihren Fähigkeiten und ihrem Interesse an der Bundeswehr beantworten. Aus dem Pool der Interessierten sollen am Ende rund 5.000 Wehrdienstleistende jährlich herausgefiltert werden. Dieser "Auswahl-Wehrdienst" betont vor allem die Freiwilligkeit und enthält nur wenige Pflichtelemente (hier erfahren Sie mehr über Pistorius' Pläne).

Der Vorstoß war mit Spannung erwartet worden. Immer wieder wurde die Ankündigung verschoben, immer wieder versuchten Kritiker in eigenen Ampel-Reihen Pistorius' Pläne durch öffentliche Äußerungen zu beeinflussen. Und nun, ist es der große Wurf? Der ehemalige Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Hans-Peter Bartels, ist skeptisch. Im Interview mit t-online nennt Bartels mehrere Schwachstellen des Modells – und kritisiert auch den Minister selbst.

t-online: Herr Bartels, Verteidigungsminister Boris Pistorius will einen Wehrdienst einführen, der weitgehend auf Freiwilligkeit basiert. Das richtige Modell zur richtigen Zeit?

Hans-Peter Bartels: Die Zeit wäre jetzt reif, sogar überreif für eine große Lösung des riesigen Personalproblems der Bundeswehr. Aber Pistorius sagt selbst, dass sein vorgeschlagener Pflichtfragebogen erstmal nicht mehr ist als ein erster Schritt. Die Widerstände in der eigenen Regierungskoalition scheinen ihn ziemlich lahmzulegen. Das betrifft übrigens auch das Thema Geld, nicht nur die Wehrpflicht. Freiwilligkeit klingt nett, aber das Grundproblem bleibt so ungelöst.

Was ist das Grundproblem?

Unsere Bundeswehr ist heute zu klein, sie ist kleiner als nach der letzten Schrumpfreform von 2011, als es 185.000 aktive Soldatinnen und Soldaten geben sollte. Und das waren noch ganz andere Zeiten. Damals wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Da bedeutete im "Ernstfall", ein paar tausend Männer und Frauen nach Afghanistan oder Mali zu schicken. Heute beträgt die Iststärke 181.000. Aber inzwischen geht es um die Abschreckung eines hochgerüsteten Gegners in Europa, es geht um Bündnisverteidigung mit der ganzen Bundeswehr.

Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels.
Der Wehrbeauftragte des Bundestages, Hans-Peter Bartels. (Quelle: Wolfgang Kumm/dpa/Archiv./dpa)

Hans-Peter Bartels

Hans-Peter Bartels war von 1998 bis 2015 SPD-Bundestagsabgeordneter. Dann wurde er zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages ernannt und behielt dieses Amt bis 2020. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik.

Ist der Pistorius-Plan eine angemessene Antwort darauf?

Ob nach der Fragebogenreform mit ihrem Minimalziel, zusätzliche 5.000 Grundwehrdienstleistende zu gewinnen, nun 181.000 oder 186.000 Soldaten Dienst tun, ändert wenig an den hohlen Strukturen, die sich durch unsere Streitkräfte ziehen. Die offizielle Sollstärke liegt mittlerweile bei 203.000, der tatsächliche Personalbedarf aber nach unseren Zusagen an die Nato bei mindestens 240.000. Wir gewinnen dramatisch zu wenig Personal.

Der Verteidigungsminister hat eine interessante Zahl gesagt: 460.000. So viele Soldaten bräuchte die Bundeswehr im Verteidigungsfall. Der könnte laut Schätzungen seines Hauses schon im Jahr 2029 eintreten, sollte Russland die Nato militärisch testen. Hilft der neue Wehrdienst, Deutschland verteidigungsfähiger zu machen?

Von "Kriegstüchtigkeit" sind und bleiben wir meilenweit entfernt. Wenn das Verteidigungsministerium aktuell mit 200.000 aktiven Soldaten und 260.000 Reservisten kalkuliert, dann bräuchte es jetzt eine große Reform, kein "Weiter so" im üblichen Klein-Klein.

Pistorius hat selbst gesagt, dass er sich eigentlich mehr wünscht, mindestens 20.000 Wehrdienstleistende pro Jahr.

Ja, das wäre der Gamechanger: die Zahl der jährlich gewonnenen Rekruten von heute 20.000 auf 40.000 verdoppeln. So käme Aufwuchsdynamik ins System. Zeitenwende müsste eigentlich heißen: groß denken, schnell sein, fertig werden. Doch das wird wohl in dieser Legislaturperiode nichts mehr.

Können Sie dem Vorstoß auch etwas Gutes abgewinnen?

Schon mal anfangen ist besser als nichts. Pistorius legt die Basis für eine echte Wehrpflicht zu einem möglichen späteren Zeitpunkt: Indem er die Wehrerfassung vorantreibt und ein paar mehr junge Leute jedenfalls schon mal gemustert werden. Der freiwillige Wehrdienst selbst ist nichts Neues: Den gibt es schon jetzt für jährlich bis zu 10.000 Freiwillige, die 6 bis 23 Monate dableiben. Zusätzliche 5.000 sind da ein weiterer Tropfen auf dem heißen Stein.

Der Minister argumentiert, die Bundeswehr wäre aktuell gar nicht in der Lage, mehr Freiwillige unterzubringen.

Wenn das wirklich so wäre, könnte man den Laden dichtmachen. Eine Truppe aus 180.000 Soldatinnen und Soldaten sollte nicht in der Lage sein, 20.000 weitere aufzunehmen? Ein Militär, das nicht fähig ist, um ein Zehntel aufzuwachsen? Auf neun käme ein Zehnter hinzu: Natürlich geht das! Nur eben nicht nach Schema-F. Die Ukraine hatte 200.000 Soldaten und ist jetzt notgedrungen bei knapp einer Million.

Pistorius spricht von "limitierenden Faktoren": Es fehle unter anderem an Ausbildern, Kasernen und Material.

Diese Probleme kann man lösen, wenn man will. Vielleicht nicht im Ein-Mann-Stuben-Standard, den Ministerin von der Leyen damals eingeführt hat. Litauen baut jetzt innerhalb von zwei Jahren die gesamte Infrastruktur für eine deutsche Kampfbrigade, die dann übrigens nicht mehr Kasernen in Deutschland belegen wird.

Kontrovers diskutiert wurde bereits im Vorfeld, wie verpflichtend das Modell sein wird. Die Pflicht beschränkt sich nun darauf, dass junge Männer den Fragebogen abgeben müssen und auch zur Musterung gehen, falls sie vorher ihre Bereitschaft erklärt haben und eingeladen werden. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn sie trotz realer Bedrohungen am liebsten nichts verändern würde?

In unserer Gesellschaft wäre die Wiederbelebung der Wehrpflicht absolut mehrheitsfähig. Deshalb ist jemand wie Boris Pistorius auch so populär. Gegen Widerstände hat er vor allem in der Regierung und den Koalitionsfraktionen zu kämpfen.

Die Bundeswehr hat 20.000 unbesetzte Dienstposten. Ziel des neuen Wehrdienstes ist aber nicht, diese Lücke zu schließen, sondern die Reserve zu stärken. Sollte ein Teil der Wehrdienstleistenden bei der Bundeswehr bleiben wollen, wäre das für Pistorius ein schöner "Nebeneffekt". Wie bewerten Sie das?

Der Minister backt im Moment lieber kleine Brötchen, macht keine zu vollmundigen Ankündigungen. Die hohlen Strukturen werden so erst einmal fortbestehen. Aber das ist nur das eine Personalproblem.

Was ist das andere?

Dass wir zu viele Offiziere und zu wenige Mannschaften haben. Eine kriegstüchtige Armee kann nicht vor allem aus IT-Spezialisten und Stabsoffizieren bestehen, sondern braucht auch die klassischen 'boots on the ground'. Was Sie in der Ukraine in großen Umfang kämpfen sehen, ist Infanterie. Davon haben wir viel zu wenig. Zeit- und Berufssoldaten werden üblicherweise zu Spezialisten, zu Unteroffizieren, Feldwebeln, Offizieren. Aber man braucht auch wieder Kämpfer, Mannschafter, Wehrdienstleistende, die 12 oder 15 Monate ausgebildet werden, bei der Truppe bleiben und dann in die Reserve gehen. Aber eben nicht nur 5.000.

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Was wäre denn eine angemessene Zahl aus Ihrer Sicht?

Eine Zielmarke von 40.000 Wehrdienstleistenden pro Jahr wäre erstrebenswert, also keine ganzen Jahrgänge wie in den alten Zeiten des Kalten Krieges. Das ist eine Zahl, die man von einem bevölkerungsreichen Land wie Deutschland erwarten kann. Darunter würden erfahrungsgemäß auch genug Leute sein, die sich als Zeitsoldaten verpflichten. So könnten wir auch die Personallücke schließen.

Pistorius sagt, sollte er nicht genug Freiwillige bekommen, sollen "im Bedarfsfall" auch Menschen gegen ihren Willen eingezogen werden. Ob das allerdings auch Teil des Gesetzentwurfes wird, der im Herbst kommen soll, ließ der Minister offen.

Wenn er sich jetzt schon nicht sicher ist, wird das höchstwahrscheinlich auch nicht kommen. Es bleibt das Signal: Dies ist der allererste Schritt hin zu einem Ende des Aussetzens der Wehrpflicht.

Herr Bartels, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Hans-Peter Bartels
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