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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD übt Selbstkritik – und will Erneuerung "Der Vertrauensverlust ist tief"

Die SPD geht nach der verlorenen Bundestagswahl hart mit sich selbst ins Gericht – und benennt überraschend ehrlich die eigenen Defizite. In einem internen Papier ist von einem "Wendepunkt" die Rede.
Nach außen hin sah es zuletzt gar nicht schlecht aus für die SPD: sieben Ministerien trotz verlorener Bundestagswahl, eine deutliche sozialdemokratische Handschrift im Koalitionsvertrag mit der Union, eine personelle Erneuerung mit frischen Gesichtern in Partei und Regierung.
Doch unter der Oberfläche einer von Tatkraft nur so strotzenden schwarz-roten Bundesregierung rumort es bei den Genossen weiter. Die desaströse Niederlage bei der Bundestagswahl im Februar (16,4 Prozent) wirkt weiter nach. In der SPD-Spitze, aber auch an der Parteibasis, ist die Erkenntnis gereift: Es muss sich grundlegend etwas ändern.
Zu diesem Zweck hat die Parteiführung nun einen Leitantrag für den Parteitag Ende Juni erarbeitet. Darin rechnet die SPD mit sich selbst ab – und das ungewöhnlich klar und ehrlich: Die Rede ist von einem tiefgreifenden Vertrauensverlust in der Bevölkerung, von alltagsferner Kommunikation und Defiziten in der Parteiorganisation. Die SPD müsse sich grundlegend erneuern und ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten, heißt es in dem Entwurfspapier, das t-online vorliegt und über das unter anderem "Politico" zuvor berichtete. Es soll am Montag von den SPD-Gremien beschlossen werden.
"Schmerzhafte Niederlage"
Das Papier mit dem Titel "Veränderung beginnt mit uns" versucht erst gar nicht, die Lage zu beschönigen. "Die Bundestagswahl 2025 war ein historischer Einschnitt", heißt es dort. Mit nur 16,4 Prozent der Stimmen habe die SPD ihr "schlechtestes Wahlergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland erzielt". Die Niederlage sei aber nicht allein mit "kurzfristigen Versäumnissen" im Wahlkampf zu erklären, sondern sei Ausdruck eines "tiefen Vertrauensverlusts" in der Bevölkerung – "inhaltlich, organisatorisch und kommunikativ".
Gründe für das verlorene Vertrauen sieht die Parteispitze etwa in der "fehlenden strategischen Klarheit" und in "mangelnder Präsenz in den Lebenswelten vieler Menschen". Vor allem Arbeitnehmer und junge Menschen hätten sich von der Partei abgewandt. Es sei entscheidend, die Ursachen zu verstehen, um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein "Weiter-So" dürfe es nicht geben: "Wir begreifen diese Krise als Wendepunkt."
Kritik an eigener Kommunikation
Ein weiteres Problem aus SPD-Sicht: die eigene Kommunikation im Wahlkampf. Olaf Scholz wird namentlich nicht erwähnt, aber es lässt sich zwischen den Zeilen herauslesen, dass der abgewählte SPD-Kanzler Teil des Problems war. Scholz wurde während seiner Amtszeit wiederholt vorgeworfen, seine Politik ungenügend oder gar nicht zu erklären – auch aus den eigenen Reihen.
In dem SPD-Papier heißt es dazu: "Unsere politische Kommunikation war oft zu komplex, hat die Gefühle und Lebenslagen der Menschen nicht erreicht und wurde zu oft als PR verstanden – nicht als Dialog." Um als politische Kraft relevant zu bleiben, müsse die Partei mehr "zuhören" und in den "Dialog auf Augenhöhe" treten – im digitalen Raum ebenso wie im "direkten Gespräch".
Auch die Ansprache an die Bürger soll künftig anders laufen: "Unsere Sprache muss klar und verständlich sein." Man dürfe sich nicht hinter Floskeln verstecken, sondern müsse aufrichtig und transparent kommunizieren. Es gehe um "alltagstaugliche Begriffe" und "emotionale Ansprachen". Auch das Internet als "Katalysator politischer Botschaften" will die SPD künftig stärker nutzen.
Neues Grundsatzprogramm bis 2027
Neben der Kommunikation und dem umfassenden personellen Umbau von Partei und Fraktion will sich die SPD auch inhaltlich neu aufstellen: Ein neues Grundsatzprogramm soll bis 2027 entstehen, als programmatisches Gerüst für den Bundestagswahlkampf 2029. Das Programm soll gemeinsam mit den Mitgliedern entwickelt werden und hat das Ziel, einen "überzeugenden sozialdemokratischen Gesellschaftsentwurf" zu entwickeln, der "Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität im 21. Jahrhundert" neu definiere.
Die Analyse der SPD-Strategen: In zentralen Themenbereichen – Rente, Wohnungsmarkt, Verteilungsgerechtigkeit, Migration – hätten die Menschen den Glauben an die "Problemlösungsfähigkeit der Politik" verloren. Umso wichtiger sei es, inhaltliche Positionen gemeinsam mit Kommunalpolitikern und den Menschen vor Ort zu entwickeln. Man brauche "kollektive, identitätsstiftende Räume", in denen über Politik und die Gestaltung des Gemeinwesens gesprochen werden könne – in Jugendzentren, Schulen und Sportanlagen.
Als weitere Schwerpunkte bei der Programmarbeit sieht die SPD-Führung die Demokratieförderung, eine Reform des Sozialstaats, eine moderne Bildungspolitik, stärkere Verteilungsgerechtigkeit und den Kampf gegen prekäre Löhne. Entwickelt werden soll auch eine sozialdemokratische Strategie für wirtschaftlichen Aufschwung, die den Industriestandort erhält, aber zugleich den Klimaschutz und technischen Fortschritt berücksichtigt.
"Auf dem Weg zu neuer Stärke"
Auch organisatorisch will sich die SPD neu erfinden: Entscheidungsprozesse sollen transparenter und die Mitbestimmung demokratischer gestaltet werden. "Wir wollen eine Partei sein, die glaubwürdig das lebt, was sie nach außen verspricht", so der Leitantrag.
"Die SPD steht vor einer tiefgreifenden Erneuerung", heißt es im Fazit. Wie Parteichef Lars Klingbeil zuvor bereits angedeutet hat, will die SPD künftig die arbeitenden Menschen stärker in den Mittelpunkt stellen. Der Leitantrag sei "der erste Schritt auf dem Weg zu neuer Stärke". Der Parteivorstand wird nun beauftragt, die Entwicklung eines Grundsatzprogramms zu starten, die Parteiorganisation zu reformieren und eine neue Kommunikationsstrategie zu erarbeiten.
Vor allem der letzte Punkt dürfte keine leichte Aufgabe werden: Denn das Papier regt zwar an, weniger PR-Sprache zu verwenden, steckt aber selbst voller Floskeln. Ob die Partei es wirklich schafft, alltagstauglicher und authentischer zu kommunizieren, wie sie es jetzt fordert, muss sie noch zeigen.
- Eigene Recherchen
- Mit Material von Reuters