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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Chef Lars Klingbeil Eigentlich kann er nicht mehr länger warten

Das Russland-Papier der SPD-Linken bringt Lars Klingbeil in eine schwierige Lage. Der SPD-Chef will vor dem Parteitag keine Fehler machen, doch zu warten, könnte seine Autorität langfristig untergraben.
In der SPD kommt die Debatte um das "Friedensmanifest" prominenter SPD-Linker weiter nicht zur Ruhe. Am Montag distanzierte sich die SPD-Betriebsgruppe Bundeswehr, ein Zusammenschluss von Soldaten und Reservisten in der SPD, von dem Dokument. Die Genossen warfen den Unterzeichnern vor, die russische Bedrohung zu verharmlosen und den Frieden in Europa zu gefährden.
Auch Ralf Stegner, neben Ex-Fraktionschef Rolf Mützenich eines der bekannteren Gesichter hinter dem "Manifest", legte am Montag bei "Maischberger" nach und nannte die geplante Steigerung der Nato-Verteidigungsausgaben "glatten Irrsinn".
Fast zeitgleich äußerte sich der SPD-Chef und Bundesfinanzminister Lars Klingbeil. Bei einer Veranstaltung der "Rheinischen Post" in Düsseldorf versicherte Klingbeil, dass die deutschen Rüstungsausgaben im Gleichschritt mit den Nato-Partnern steigen werden. "Und wenn das am Ende heißt, drei Prozent, dann machen wir drei Prozent, wenn das heißt 3,5 Prozent, machen wir 3,5 Prozent."
Die doppelte SPD
Die Tatsache, dass der SPD-Chef Klingbeil eine Linie vorgibt, die der SPD-Abgeordnete Stegner am selben Abend aufkündigt, ist bemerkenswert. Schon vergangene Woche, als das "Manifest" erschien, wirkte Klingbeil überrumpelt. Erst verspätet distanzierte er sich von einigen Aussagen in dem Papier und stellte klar, dass es keine Kehrtwende in der Ukraine-Politik geben werde. Zugleich aber würdigte er das "Manifest" als Debattenbeitrag, was sich durchaus als Ermunterung verstehen ließ, die Diskussion weiter anzufachen.
In den Äußerungen des Parteichefs in den vergangenen Tagen lässt sich ein roter Faden erkennen: Klingbeil zieht seine eigene Position glatt, lässt aber den Raum für konträre Meinungen offen. Das erstaunt nicht nur deswegen, weil die "Manifest"-Autoren um Stegner die offizielle SPD-Politik infrage stellen. Sondern auch, weil sie direkt Klingbeils Kurs angreifen, der für eine neue Russlandpolitik der Sozialdemokraten steht. Und doch scheint der SPD-Chef die direkte Konfrontation mit dem linken Parteiflügel zu scheuen. Warum?
Unruhe vor dem Parteitag
Klar ist: Für den SPD-Chef kommt die Debatte zur Unzeit. In zwei Wochen findet in Berlin der Bundesparteitag der SPD statt, dann wird die komplette Führung neu gewählt. Klingbeil hofft auf ein gutes Ergebnis bei seiner Wiederwahl als Parteichef und will sich zudem ein Mandat holen für seine machtpolitische Neuausrichtung der SPD. Klingbeil hatte die Partei in den vergangenen Monaten personell umgepflügt, altgediente Genossen aus Funktionen gedrängt und mit Vertrauten ersetzt, die Partei insgesamt stärker auf sich zugeschnitten.
Klingbeil hofft daher auf einen möglichst geräuschlosen Parteitag. Angesichts der historischen Wahlschlappe im Februar, die er maßgeblich mitzuverantworten hat, ist das aber alles andere als selbstverständlich.
In der Debatte um das "Manifest" der SPD-Linken will Klingbeil daher, so vermuten es einige in der Partei, den Ball flach halten. Ein allzu offensives Eingreifen in die Debatte könnte den Unmut der prominenten SPD-Linken Stegner und Mützenich weiter anfachen – und schlimmstenfalls in eine offene Konfrontation auf dem Parteitag münden. Andererseits birgt auch Klingbeils Zurückhaltung Risiken. Lässt er seinen Kritikern zu viel Spielraum, könnte seine Autorität als Parteivorsitzender beschädigt werden.
Warum auch Klingbeils Kurs attackiert wurde
Fest steht: Auch wenn der SPD-Chef das "Manifest" nicht als persönlichen Angriff verstehen will, richtet sich der Text an zentralen Stellen auch gegen Klingbeil und dessen außenpolitischen Kurs, der spätestens Ende 2023 offizielle SPD-Linie ist.
Auf dem damaligen SPD-Parteitag stimmte die Mehrheit der SPD-Delegierten für einen Antrag des Parteivorstandes, der eine Kehrtwende einleitete: In dem Text nennt die SPD ihre Russlandpolitik der jüngeren Vergangenheit einen "Fehler" und bezeichnet Russland unter Putin als "expansionistische" Macht und Bedrohung. Der Parteitagsbeschluss ging maßgeblich auf den SPD-Chef zurück, es ist Klingbeils Manifest.
Gegenschrift zur Parteilinie
Und genau dieses wurde nun offen herausgefordert. Besonders deutlich wird das an einer Stelle des "Manifests", wo die Autoren die "schrittweise Rückkehr zu einer Zusammenarbeit mit Russland" fordern. Eine direkte Infragestellung des Beschlusses von 2023, der erklärt, dass es keine Normalisierung mit Russland geben könne, solange Moskau "imperialistische Ziele" verfolge.
Auch bei der Wahl der Worte scheint man den Konflikt mit der Parteiführung geradezu zu suchen. So kritisiert der Text an einer Stelle die vorherrschende Sicht in Deutschland: "Frieden und Sicherheit sei nicht mehr mit Russland zu erreichen, sondern müsse gegen Russland erzwungen werden." Der direkte Widerspruch zum SPD-Beschluss 2023 scheint kein Zufall: Dort steht nämlich, die Sicherheit Europas müsse künftig "vor Russland" organisiert werden, also ausdrücklich nicht "mit". Es war der zentrale Satz, der die SPD-Wende markieren sollte, und der nun wieder aufgefädelt wird.
Das Dilemma des Parteichefs
Warum sich Klingbeil dazu entschied, zwar seine Position öffentlich klarzustellen, aber die SPD-interne Debatte nicht zu unterbinden, könnte weitere Gründe haben.
Neben dem Wunsch, den Konflikt vor dem Parteitag nicht unnötig groß zu machen, muss Klingbeil ganz grundsätzlich die Partei und ihre unterschiedlichen Strömungen zusammenhalten. Die Positionen von Stegner und Mützenich gibt es nun mal in der SPD, sie haben Tradition, und noch heute werden sie von vielen Parteimitgliedern geteilt, vor allem von älteren. Dass die SPD in ihrer schwersten Krise seit Jahrzehnten ihre größte Wählergruppe – 60 plus – nicht einfach verprellen kann, ist nachvollziehbar.
Die SPD versteht sich zudem als "Friedenspartei". Redegewandte Genossen wie Stegner und Mützenich haben sich geschickt als Wortführer dieser Parteiströmung etabliert – was dem Parteichef Widerspruch erschwert. Dass Genossen, die sich für "Frieden und Diplomatie" einsetzen, gegen die offizielle SPD-Linie verstoßen sollen, müsste ein SPD-Vorsitzender also erst einmal gut begründen.
Überlegungen in der Parteispitze
Zudem hadert Klingbeil dem Vernehmen nach mit dem öffentlichen Bild, das über ihn entstanden ist, seit er seine Noch-Co-Chefin Saskia Esken und andere altgediente Genossen abservierte. Klingbeil sehe sich weiterhin nicht als rücksichtsloser Machtpolitiker, sondern als Teamplayer, der nach Ausgleich und Dialog zwischen den Parteiströmungen suche, heißt es aus seinem Umfeld.
Doch Klingbeil dürfte bewusst sein, dass sein dialogorientierter Ansatz Grenzen hat – und dass diese Grenzen von aufmüpfigen Genossen getestet werden können.
Nach Informationen von t-online soll sich Klingbeil am Wochenende Zeit genommen haben, um über weitere Schritte nachzudenken. Ein mögliches Szenario, über das demnach in der Parteispitze gesprochen wurde, soll eine stärkere Kommentierung des "Manifests" durch Klingbeil gewesen sein.
Showdown auf dem Parteitag?
Ebenfalls offen ist die Frage, wie die SPD-Führung auf dem Parteitag mit dem Thema umgeht. Es gibt führende Genossen, die in der Auseinandersetzung durchaus eine Chance für Klingbeil sehen, seine Führungsstärke zu beweisen und ein klares Statement zu setzen. Eine andere Idee, die in der Parteispitze kursiert, ist ein Update zu dem Beschluss von 2023 noch im Vorfeld des SPD-Parteitags. Zwar sei die offizielle Frist zum Einbringen von Anträgen bereits abgelaufen, doch habe der Parteivorstand noch die Möglichkeit, einen Initiativantrag zu stellen, heißt es aus SPD-Kreisen.
Doch ob es dazu kommt, ist fraglich. Die Parteispitze wolle einen "Stellungskrieg" vermeiden und suche stattdessen das Gespräch mit Stegner und Mützenich, heißt es aus SPD-Kreisen.
Die SPD in der Glaubwürdigkeitskrise
Klingbeil müsse sich fragen, ob seine Zurückhaltung nicht ausgenutzt wird, ob die Kritiker seines Russland-Kurses seine Zurückhaltung nicht als Schwäche interpretieren, sagt einer aus der SPD-Fraktion.
Neben machtpolitischen Fragen gibt es auch wahltaktische Argumente dafür, dass die SPD-Führung endlich Klarheit in ihren Reihen schafft. Denn eine SPD, die zugleich für eine Annäherung an Russland ist und dagegen, also in zentralen Fragen gespalten wirkt, wird ihre Glaubwürdigkeitskrise kaum überwinden können.
Was die Parteispitze womöglich unterschätzt: Ihre Linie mag zwar politisch handlungsleitend sein, aber in der Öffentlichkeit scheint die Erzählung von Stegner und Mützenich zu dominieren. Klingbeil mag die SPD-Politik maßgeblich ausgestalten, aber er droht, den Diskurs zu verlieren, fürchten manche Genossen.
"Die Lautesten sind nicht immer die Mehrheit"
Nicht nur die Parteispitze hat es in den vergangenen Jahren zugelassen, dass der Friedensflügel um Stegner und Mützenich eine Art Eigenleben führt. Auch der Teil der SPD-Linken, der sich nicht den SPD-Friedenskreisen zuordnen lässt, hat sich der Debatte meist entzogen. Die Jusos etwa, die zwar ebenfalls mehr Diplomatie fordern, aber in der Ukraine-Politik eher aufseiten der Parteispitze stehen. Oder linke Abgeordnete wie Adis Ahmetović, der neue außenpolitische Sprecher der SPD, der sicherheitspolitisch eher die Linie von Pistorius vertritt.
Dieser Teil der SPD-Linken genießt längst nicht die öffentliche Sichtbarkeit von Genossen wie Stegner und Mützenich. Das mag auch daran liegen, dass man sich in der Vergangenheit oft hinter den prominenten Parteikollegen versteckte.
Das könnte sich nun ändern. Wie "Politico" berichtete, arbeitet eine Gruppe um den SPD-Außenpolitiker Ahmetović an einem Gegenantrag zum "Manifest" für den Parteitag. Und auch von den Jusos kommt stärkerer Gegenwind. Bayerns Juso-Chef Benedict Lang sagte t-online in Bezug auf die starke Medienpräsenz der "Manifest"-Autoren: "Die Lautesten sind nicht immer die Mehrheit." In der Öffentlichkeit würden oft nur die großen Aufreger wahrgenommen. So hätten die Jusos bereits 2022 eine differenzierte Haltung inklusive einer deutlichen Kritik an Putins "faschistischem" Russland eingenommen.
An dem "Manifest" kritisiert Lang vor allem das darin gezeichnete Russlandbild. "Als Jusos sehen wir nicht, wie man mit dem imperialistischen Putin im Moment verhandeln soll, wenn er das offensichtlich verweigert. Solange Putin Krieg führt, um seine Ziele zu erreichen, muss man die Ukraine auch gegen Russland unterstützen." Gleichwohl kämpfe man als Jusos weiter für eine Welt ohne Waffen und Krieg. Verteidigungsfähigkeit sei kurzfristig wichtig, aber langfristig seien Diplomatie und internationale Zusammenarbeit der einzige Weg zu nachhaltigem Frieden.
Ob die SPD-Führung sich noch umentscheidet und vor dem Parteitag in die Debatte eingreift, ist offen. Der SPD-Stratege Matthias Machnig kritisierte nach der verlorenen Bundestagswahl, dass die SPD-Spitze zu reaktiv agiert habe und nicht in der Lage gewesen sei, spannende Debatten anzustoßen. Nun hat die Parteiführung eine Debatte, allerdings eine, die sie sich wohl lieber erspart hätte.
- Eigene Recherchen
- Gespräch mit Benedict Lang