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Sahra Wagenknecht: Lifestyle-Linke leben in einer anderen Welt


Der Lifestyle-Linke lebt in einer anderen Welt

Ein Gastbeitrag von Sahra Wagenknecht, Die Linke

Aktualisiert am 12.04.2021Lesedauer: 8 Min.
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Sahra Wagenknecht am Marx-Engels-Denkmal in Berlin: Für ihr neues Buch wird sie in ihrer Partei heftig kritisiert. Hier ist ein Auszug daraus.Vergrößern des Bildes
Sahra Wagenknecht am Marx-Engels-Denkmal in Berlin: Für ihr neues Buch wird sie in ihrer Partei heftig kritisiert. Hier ist ein Auszug daraus. (Quelle: imagebroker/imago-images-bilder)

Sie halten den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für Weltbürger, Fleiß und Anstrengung finden sie uncool: die Linksliberalen. Eine Abrechnung.

Was ist heute noch links? Was rechts? Viele Menschen wissen es nicht mehr. Sie halten die alten Kategorien für überholt. Nur in einem sind sie sich sicher: Das, was sie an öffentlichen Äußerungen unter dem Label links vernehmen, ist ihnen oft unsympathisch. Und dem Milieu, das sie damit verbinden, misstrauen sie zutiefst.

Das war über viele Jahre anders. Links, das stand einmal für das Streben nach mehr Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit, es stand für Widerständigkeit, für das Aufbegehren gegen die oberen Zehntausend und das Engagement für all diejenigen, die in keiner wohlhabenden Familie aufgewachsen waren und sich mit harter, oft wenig inspirierender Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mussten.

Sahra Wagenknecht, geboren 1969, ist Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, für die sie auch im Europäischen Parlament saß. Von 2010 bis 2014 war sie stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis 2019 Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Außerdem ist sie promovierte Volkswirtin und hat mehrere Bücher veröffentlicht. Ihr neues Buch "Die Selbstgerechten" erscheint am 14. April 2021 im Campus-Verlag. Dieser Text ist ein Auszug daraus.

Als links galt das Ziel, diese Menschen vor Armut, Demütigung und Ausbeutung zu schützen, ihnen Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, ihr Leben einfacher, geordneter und planbarer zu machen. Linke glaubten an politische Gestaltungsfähigkeit im Rahmen des demokratischen Nationalstaats und daran, dass dieser Staat Marktergebnisse korrigieren kann und muss.

Der Lifestyle-Linke und die Moral

Es gibt diese traditionellen Linken auch heute noch. Vergleichsweise häufig trifft man sie in Gewerkschaften, vor allem auf den unteren Ebenen. In den meisten sozialdemokratischen Parteien sind sie schon in der Minderzahl, zumindest in den Führungsetagen.

Dominiert wird das öffentliche Bild der gesellschaftlichen Linken heute von einem Typus, den wir im Folgenden den Lifestyle-Linken nennen werden, weil für ihn im Mittelpunkt linker Politik nicht mehr soziale und politökonomische Probleme stehen, sondern Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und moralische Haltungsnoten.

In Reinform verkörpern die grünen Parteien dieses Lifestyle-linke Politikangebot, aber auch in den sozialdemokratischen, sozialistischen und anderen linken Parteien ist es in den meisten Ländern zur dominierenden Strömung geworden. Für das politisch-kulturelle Weltbild des Lifestyle-Linken hat sich in jüngerer Zeit der Begriff des Linksliberalismus etabliert.

Der Lifestyle-Linke lebt in einer anderen Welt als der traditionelle und definiert sich anhand anderer Themen. Er ist vor allem weltoffen und selbstverständlich für Europa, auch wenn jeder unter diesen Schlagworten etwas anderes verstehen mag. Er sorgt sich ums Klima und setzt sich für Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten ein.

Zu seinen Überzeugungen gehört, den Nationalstaat für ein Auslaufmodell und sich selbst für einen Weltbürger zu halten, den mit dem eigenen Land eher wenig verbindet. Generell schätzt der Lifestyle-Linke Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Tradition und Gemeinschaft. Überkommene Werte wie Leistung, Fleiß und Anstrengung findet er uncool.

Papas Vermögen und Mamas Beziehungen

Das gilt vor allem für die jüngere Generation, die von umsorgenden, meist gut situierten Helikoptereltern so sanft ins Leben begleitet wurde, dass sie existenzielle soziale Ängste und den aus ihnen erwachsenden Druck nie kennengelernt hat. Papas kleines Vermögen und Mamas Beziehungen geben zumindest so viel Sicherheit, dass sich auch längere unbezahlte Praktika oder berufliche Fehlschläge überbrücken lassen.

Da der Lifestyle-Linke mit der sozialen Frage persönlich kaum in Kontakt geraten ist, interessiert sie ihn auch meist nur am Rande. Also, man wünscht sich schon eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft, aber der Weg zu ihr führt nicht mehr über die drögen alten Themen aus der Sozialökonomie, also Löhne, Renten, Steuern oder Arbeitslosenversicherung, sondern vor allem über Symbolik und Sprache.

Entsprechend wird die Alltagssprache ständig nach Wörtern durchsucht, die irgendjemanden verletzen könnten und die es fortan zu meiden gilt. An ihre Stelle treten dann neue Wortschöpfungen, die zumindest bei den Strenggläubigen unter den Lifestyle-Linken zu einer ganz eigenwilligen Form, sich auszudrücken, führen, die mit der deutschen Sprache nur noch bedingt zu tun hat.

Außenstehenden mag sich oft nicht erschließen, worin bei Begriffen wie "Flüchtling" oder "Rednerpult" oder in der Bezeichnung als "Mutter" oder "Vater" die Diskriminierung besteht beziehungsweise warum sich inmitten linker Texte immer wieder dubiose Sternchen finden, aber wer zum inner circle gehört, der kennt die Regeln und hält sie ein.


Ein anderes Gebot besteht darin, sogenannte Triggerwörter zu umgehen, also Codes, die harmlos klingen, aber angeblich bei bestimmten Gruppen Traumata auslösen oder von Rechten verwandt werden, um ihre menschenverachtende Ideologie zu tarnen. "Heimat" und "Volk" gehören dazu und sind folgerichtig tabu, auch der Begriff "Zuwanderer" ist mindestens heikel, weil doch alle, die nach Europa kommen, geflüchtet sind, und "Fremde" oder "Parallelwelten" gibt es schon gar nicht.

Der typische Lifestyle-Linke wohnt in einer Großstadt oder zumindest einer schicken Unistadt und selten in Orten wie Bitterfeld oder Gelsenkirchen. Er studiert oder hat ein abgeschlossenes Universitätsstudium und gute Fremdsprachenkenntnisse, plädiert für eine Post-Wachstums-Ökonomie und achtet auf biologisch einwandfreie Ernährung. Discounterfleisch-Esser, Dieselauto-Fahrer und Mallorca-Billigflugreisende sind ihm ein Graus.

Das heißt nicht, dass er selbst nicht Auto fährt oder nie ein Flugzeug besteigt. Aber dabei handelt es sich eben nicht um Ballermann-Tourismus, sondern um Bildungsreisen, die dabei helfen, andere Kulturen kennenzulernen, die letztverbliebenen wilden Orang-Utans zu besichtigen oder im Ayurveda-Hotel dem inneren Selbst näherzukommen. Dass im Gegenzug innerstädtische Wege oft mit dem Fahrrad oder dem Elektro-Zweitwagen bewältigt werden, erleichtert das Gewissen.

Was den Lifestyle-Linken in den Augen vieler Menschen und vor allem der weniger Begünstigten so unsympathisch macht, ist seine offensichtliche Neigung, seine Privilegien für persönliche Tugenden zu halten und seine Weltsicht und Lebensweise zum Inbegriff von Progressivität und Verantwortung zu verklären.

Der unverkennbare Mangel an Mitgefühl

Es ist die Selbstzufriedenheit des moralisch Überlegenen, die viele Lifestyle-Linke ausstrahlen, die allzu aufdringlich zur Schau gestellte Überzeugung, auf der Seite des Guten, des Rechts und der Vernunft zu stehen. Es ist die Überheblichkeit, mit der sie auf die Lebenswelt, die Nöte, ja sogar auf die Sprache jener Menschen hinabsehen, die nie eine Universität besuchen konnten, eher im kleinstädtischen Umfeld leben und die Zutaten für ihren Grillabend schon deshalb bei Aldi holen, weil das Geld bis zum Monatsende reichen muss.

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Und es ist der unverkennbare Mangel an Mitgefühl mit denen, die um ihr bisschen Wohlstand viel härter kämpfen müssen, so sie überhaupt welchen haben, und die vielleicht auch deshalb zuweilen härter oder grimmiger wirken und schlechter gelaunt sind.

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Auch eine schwer zu leugnende Bigotterie trägt ganz sicher zum geringen öffentlichen Ansehen des Lifestyle-Linken bei. Wer Mühe hat, sich von seinem wenig auskömmlichen Gehalt einmal im Jahr einen Urlaub zu leisten, oder trotz lebenslanger Arbeit von einer schmalen Rente leben muss, der schätzt es nicht, wenn ihm Leute Verzicht predigen, denen es im Leben noch nie an etwas gefehlt hat.

Und über Zuwanderung als große Bereicherung für unsere Gesellschaft möchte man nicht ausgerechnet von Freunden des Multikulturalismus belehrt werden, die genau darauf achten, dass das eigene Kind eine Schule besucht, in der es mit anderen Kulturen nur im Literatur- und Kunstunterricht Bekanntschaft machen muss.

Von Prolls und Covidioten

Es gibt die Lifestyle-Linken, die die Ärmeren und weniger Gebildeten schlicht verachten. In Deutschland sind die alten weißen Männer ein in Lifestyle-linken Kreisen beliebtes Feindbild. Auch der Proll wird gern zur Bezeichnung einer Personengruppe verwendet, über die man sich ungeniert abfällig äußern kann und bei der die sensiblen Rücksichten in puncto verletzender Sprache plötzlich nicht mehr gelten. Ende 2019 kursierte der Name Umweltsau für Menschen, die ihr Fleisch bei Aldi, Lidl und Co. kaufen. In der Coronakrise kamen dann noch die Covidioten hinzu.

Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Lifestyle-Linke, zu deren ehrlichem Anliegen es gehört, sich für die Armen und Entrechteten dieser Welt einzusetzen, was die Armen und weniger Privilegierten im eigenen Land notgedrungen einschließt. Aber anstatt diese Menschen zu respektieren und sich einfach für ihre Interessen stark zu machen, begegnet man ihnen meist in der Attitüde des wohlwollenden Missionars, der die Ungläubigen nicht nur retten, sondern vor allem auch bekehren will.

Wenig sympathisch macht den Lifestyle-Linken natürlich auch, dass er fortwährend eine offene, tolerante Gesellschaft einfordert, selbst aber im Umgang mit abweichenden Sichten oft eine erschreckende Intoleranz an den Tag legt, die sich mit der der äußersten Rechten durchaus messen kann. Diese Ruppigkeit des Umgangs resultiert daraus, dass der Linksliberalismus nach Auffassung seiner Anhänger letztlich keine Meinung ist, sondern eine Frage des Anstands.

Die Mehrheit: Rassisten?

Wer vom Kanon ihrer Denkgebote abweicht, ist für Linksliberale daher auch kein Andersdenkender, sondern mindestens ein schlechter Mensch, wahrscheinlich sogar ein Menschenfeind oder gleich ein Nazi. So lehnen nach Umfragen in allen westlichen Ländern 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung hohe Zuwanderung ab und wünschen sich restriktivere Regeln. Genau das genügt freilich, um nach offizieller linksliberaler Lesart als Rassist zu gelten.

In die gleiche Schublade werden auch Menschen gepackt, die sich unsicher fühlen, wenn sie in einem öffentlichen Verkehrsmittel allein mit einer größeren Gruppe von Männern unterwegs sind, die eine fremde Sprache sprechen. Wegen der offenkundigen Verbreitung solcher "Ressentiments" hat sich in linksliberalen Diskursen dafür der Begriff Alltagsrassismus eingebürgert.

Wer von der eigenen Regierung erwartet, sie solle sich in erster Linie um das Wohl der hiesigen Bevölkerung kümmern und diese vor internationaler Dumpingkonkurrenz und anderen negativen Folgen der Globalisierung schützen – ein Grundsatz, der unter traditionellen Linken selbstverständlich war –, gilt heute als nationalsozial, gern auch mit der Endung -istisch. Und wer es falsch findet, immer mehr Kompetenzen von den gewählten Parlamenten und Regierungen an eine undurchsichtige Brüsseler Lobbykratie zu übertragen, ist auf jeden Fall ein Anti-Europäer.

Insofern ist es auch nicht erstaunlich, dass Lifestyle-Linke fast immer unter sich bleiben, wenn sie auf die Straße gehen. Dass die abstiegsgefährdete untere Mitte und die Ärmeren – auch die meisten Einwanderer und deren Kinder und Enkel gehören zu dieser Gruppe – auf solchen Veranstaltungen selten gesehen werden, hat natürlich damit zu tun, dass die Probleme ihres harten und oft brutalen Alltags hier keine Rolle spielen. Dass sie wütend, Lifestyle-Linke dagegen meist gar nicht so unzufrieden sind.

Statt die Frage zu stellen, ob die Gesellschaft, in der wir leben, als offene Gesellschaft und Demokratie wirklich richtig beschrieben wird, versammelt man sich hinter der Botschaft: Wir müssen unsere offene Gesellschaft und unsere Demokratie gegen die Rechten verteidigen. Menschen, die die "offene Gesellschaft" eher als closed shop erleben, der ihnen trotz eigener Anstrengung Aufstieg und Wohlstand verwehrt, und die von der Demokratie abgrundtief enttäuscht sind, weil ihre Interessen ständig ignoriert werden, dürften sich von solchen Botschaften nicht angesprochen fühlen.

Die große Rolle, die Fragen der Symbolik und der Sprache im Politikverständnis des Lifestyle-Linken spielen, hängt sicher auch damit zusammen, dass sich hier ein riesiges Betätigungsfeld eröffnet, auf dem man ungestört Veränderungen durchsetzen kann, ohne jemals mit einer einflussreichen wirtschaftlichen Interessengruppe in Konflikt zu geraten oder die öffentlichen Kassen relevant zu belasten.

Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögensteuer für die oberen Zehntausend einzuführen, ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten.

Dass ein solches Politikangebot für all jene Menschen wenig attraktiv ist, die einst linke Parteien wählten, weil sie sich von ihnen eine Verbesserung ihrer oft schweren Lebensumstände, mehr Sicherheit und Schutz versprachen, ist nicht überraschend. Tatsächlich bleiben Industriearbeiter, Niedriglohnbeschäftigte, ärmere Selbstständige und Arbeitslose nicht nur den Kundgebungen der Lifestyle-Linken fern. Sie haben sich auch als Mitglieder und Wähler der entsprechenden Parteien mehr und mehr verabschiedet.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autorin wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

Verwendete Quellen
  • Das Buch "Die Selbstgerechten" von Sahra Wagenknecht erscheint am 14. April 2021 im Campus Verlag, ISBN: 9783593513904
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