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Organspende: Was nach dem Tod kommt


Was heute wichtig ist
Was nach dem Tod kommt

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.01.2020Lesedauer: 7 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Auf dem Hubschrauberlandeplatz des Krankenhauses kamen die Unfallopfer und Ärzte an.Vergrößern des Bildes
Auf dem Hubschrauberlandeplatz des Krankenhauses kamen die Unfallopfer und Ärzte an. (Quelle: F. Harms)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

gestatten Sie mir heute als Erstes ein Bekenntnis: Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Der Haken ist: Ich weiß nicht, was genau da irgendwann auf mich zukommt. Und ich habe bisher auch niemanden gefunden, der es mir verraten konnte. Im Alltag zwischen Licht an, Frühstücksbrot, Familie, Arbeit, Abendbrot, Licht aus macht mir das wenig aus. Da gibt es nur wenig Anlässe, über die große Frage nachzusinnen, was geschieht, wenn das Licht irgendwann für immer ausgeht. Aber zwei, drei gab es in meinem Leben dann doch schon. Von einem kann ich Ihnen berichten. Ist schon eine Weile her.

WAS WAR?

Es war im Herbst 1994. Ich leistete in einem Operationssaal in einer ostdeutschen Großstadt meinen Zivildienst. Patienten vorbereiten, den Ärzten Instrumente anreichen, hinterher saubermachen, so was. Eines Abends großer Alarm: Die Sanitäter zogen ein Unfallopfer aus dem Rettungshubschrauber, brachten es uns im Laufschritt in den Saal. Auf den Tisch, Anästhesie, das ganze Programm. Ich erinnere mich an den geschundenen Leib. Ein junger Mann Anfang zwanzig. Crash auf der Autobahn. Ich erinnere mich auch an die stille Traurigkeit, die uns Pfleger und Helfer überfiel, als der Chefarzt die Diagnose stellte: hirntot. Ein junger Mensch, von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen, bevor die großen Abenteuer überhaupt begonnen hatten, Reisen, Familie, Karriere, Begegnungen, was auch immer. Ich schaute auf die Messgeräte, hörte das Pumpen der Beatmungsmaschine, sah einen Menschen in meinem Alter. Sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Auf seltsame Art fühlte ich mich ihm verbunden. Es fiel mir schwer anzuerkennen, dass in diesem Körper kein Leben mehr stecken sollte.

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Nun musste es schnell gehen. Der Chefarzt sprach mit den Angehörigen, die eilig ins Krankenhaus bestellt worden waren. Ich sah sie nur kurz, aber den Anblick vergesse ich nicht mehr. Nach kurzer Bedenkzeit entschied sich die Familie für eine Organspende. Aus Berlin und Erlangen kamen Herz- und Lungenchirurgen eingeflogen. Sie hatten Kühlkoffer dabei, sagten kurz Hallo und machten sich an die Arbeit. Eine Stunde später nuschelten sie ein knappes Dankeschön und sprangen wieder in die Hubschrauber, wir fanden sie ziemlich arrogant. Aber was sie getan hatten, was wir OP-Schwestern, Pfleger und Helfer getan hatten, was der Anästhesist getan hatte, was die Eltern des Patienten getan hatten, das war ja richtig, hilfreich, verdienstvoll. Der junge Mann war tot, aber andere Menschen konnten nun womöglich dank seiner Organe weiterleben.

War er tot? Ich weiß, auf diese Frage gibt es rational nur eine einzige Antwort. Es gibt keinen triftigen Grund, die Diagnose der Ärzte, die Apparate zur Messung der Hirnströme oder die Medizin insgesamt anzuzweifeln. Aber es gibt eine Welt jenseits der Apparate und der Rationalität, und dort beginnt der Glaube. Sicher, dieser Glaube kann gänzlich losgelöst von der Materie sein, und er kann die Nächstenliebe auch so interpretieren, dass ein lebloser Körper problemlos zum Ersatzteillager umfunktioniert werden kann, während die Persönlichkeit (die Seele? Der Geist? Der Intellekt?) andernorts weiterlebt. Kann alles sein.

Mehr als 9.000 Menschen warten hierzulande auf eine Organspende. Zwar stehen mehr als 80 Prozent der Deutschen einer Spende positiv gegenüber, aber es gibt trotzdem viel zu wenig Spender. Nur gut ein Drittel besitzt einen Organspendeausweis, die Zahl der Spenden ist im vergangenen Jahr sogar gesunken. Für viele Kranke ist das ein existenzielles Problem. Deshalb befassen sich die Abgeordneten des Bundestages seit Monaten damit, morgen stehen zwei Gesetzentwürfe zur Debatte:

Erstens die doppelte Widerspruchslösung, für die Gesundheitsminister Jens Spahn wirbt. Demnach gelten künftig alle Bürger als Organspender – es sei denn, sie haben einer Spende ausdrücklich widersprochen. Damit wird die gegenwärtige Regelung umgedreht (wie das konkret funktionieren soll, erklärt Ihnen mein Kollege Tim Blumenstein). Befürworter sagen: Nur so bekommen wir endlich genug Spender, und tot ist doch eh tot. Kritiker sagen: So enteignet der Staat seine Bürger um ihre Körper; das darf nicht sein, denn das Selbstbestimmungsrecht des Menschen reicht über den klinischen Tod hinaus.

Deshalb gibt es einen zweiten Gesetzesentwurf von einer Abgeordnetengruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und die Linke-Vorsitzende Katja Kipping. Sie schlagen vor, sämtliche Bundesbürger mindestens alle zehn Jahre per Brief zu befragen, ob sie Spender werden wollen. Wer ab dem Alter von 16 Jahren einen Personalausweis beantragt, ihn verlängert oder sich einen Pass besorgt, soll auf dem Amt Infomaterial erhalten. Beim Abholen soll man sich in ein Onlineregister eintragen können: mit Ja oder Nein. Befürworter sagen: So bleibt das Selbstbestimmungsrecht der Bürger gewahrt. Kritiker sagen: So wird es auch in Zukunft niemals genügend Spender geben, denn viele Menschen werden mit der Infopost das machen, was viele halt mit Infopost machen: Ab in den Papierkorb.

So oder so: Es ist eine Gewissensentscheidung, weshalb der Fraktionszwang morgen im Parlament aufgehoben wird. Selbst wenn Sie sich sonst nur mäßig für die Debatten im Bundestag interessieren: Hier lohnt es sich auf jeden Fall, den Sender Phoenix einzuschalten und die Diskussionen zu verfolgen. Es geht im wahrsten Sinne um Leben und Tod, und Parlamentarier aller Parteien haben sehr gute Argumente für ihre jeweiligen Überzeugungen. Am Ende wird jede und jeder eine individuelle Entscheidung treffen müssen angesichts der großen Frage: Was kommt nach dem Tod?

Zurück ins Jahr 1994. Als ich den Körper des jungen Mannes damals dort auf dem Operationstisch liegen sah, im Rumpf und Gesicht mehrerer Organe entleert, als der Anästhesist die Beatmungsmaschine ausschaltete und Ruhe einkehrte, da hatte ich plötzlich den sehr starken Eindruck: Dort liegt ein Toter. Ein Toter, dessen Herz, Niere, Leber, Augen bald in einem anderen Menschen weiterleben werden. So wie man eben in ein kaputtes Auto eine neue Kurbelwelle, einen neuen Luftfilter oder eine neue Lichtanlage einbaut. Aber wann hatte das Leben ihn endgültig verlassen? War es der Moment des Unfalls? Der Moment, als die Hirnfunktion aussetzte? Oder der Moment, als die Chirurgen das Herz entnahmen? Oder der Moment, als der Anästhesist die Beatmungsmaschine ausschaltete? Die Wissenschaft gibt uns darauf eine klare Antwort, aber selbst, wenn ich sie dreimal laut ausspreche, ist da etwas in meinem Kopf, das mich zweifeln lässt. Und wenn ich mich umhöre, stelle ich fest, dass ich nicht der Einzige bin, dem es so ergeht. Ich meine: Niemand, der so denkt, tut etwas Ungehöriges oder ist deshalb weniger solidarisch als andere. Jeder muss seine eigene Entscheidung treffen dürfen, und niemand sollte ihn dazu zwingen, auch der Staat nicht.

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So, das ist nun schon mein zweites Bekenntnis heute. Ich stehe dazu. Und ich respektiere jeden, der es ganz anders sieht. Ob in meiner Leserschaft, auf der Arbeit oder im Bundestag.


Während wir hierzulande über das Leben nach dem Tod nachdenken, erschaffen Forscher in den USA selbst Leben. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist es ihnen gelungen, mithilfe von Zellen eines afrikanischen Krallenfroschs einen Roboter zu bauen, der sich aus eigener Kraft fortbewegen kann. "Das sind völlig neue Lebensformen. Sie haben noch nie auf der Erde existiert", sagt einer der Wissenschaftler. "Es sind lebende, programmierbare Organismen."

Selbst wenn es oben anders geklungen haben mag: Ich bin ein Freund des wissenschaftlichen Fortschritts, erst recht, wenn er hilft, Krankheiten zu heilen. Aber ich verstehe auch jeden, dem es angesichts des rasanten Tempos, mit dem Menschen sich zu Göttern aufschwingen, mulmig wird. Und ich erinnere mich an das Interview, das mein Kollege Marc von Lüpke vor einiger Zeit mit dem blitzgescheiten Historiker Yuval Noah Harari geführt hat. Darin erklärt Harari, dass die Erde bald von Mischwesen aus Menschen und Algorithmen bevölkert sein werde – und prophezeit: "Die breite Anwendung der künstlichen Intelligenz wird Hunderte Millionen Menschen aus dem Arbeitsmarkt hinaus in eine neue 'nutzlose Klasse' treiben. Viele Menschen werden ihren 'wirtschaftlichen Wert' und ihre politische Macht verlieren. Gleichzeitig wird die Biotechnologie die Erschaffung einer kleinen Elite von Supermenschen ermöglichen." Mit Verlaub, da wird mir heiß und kalt.


WAS STEHT AN?

Monatelang hat der Handelskonflikt zwischen den USA und China die Weltwirtschaft gelähmt. Die Rivalität der beiden Supermächte wird uns noch lange beschäftigen, aber immerhin einen wichtigen Schritt gehen sie nun aufeinander zu: US-Präsident Donald Trump und Chinas Chefunterhändler Liu He wollen in Washington den ersten Teil eines gemeinsamen Wirtschaftsvertrags unterzeichnen. Die "FAZ" kennt die Details und kommentiert treffend: "Der Deal ist eine Waffenruhe, kein endgültiger Friedensschluss." Herr Trump hat im Wahljahr Ruhe und kann sich damit brüsten, Peking in die Knie gezwungen zu haben. China muss ein paar Kompromisse machen, kann aber den Ausbau seines globalen Handelsnetzes vorantreiben und seine Exporte wieder ankurbeln. Gewinner also: beide. Und auch die deutschen Wirtschaftslenker dürften aufatmen.


Ungemach droht Donald Trump an einer anderen Front: Die Demokraten im Repräsentantenhaus wollen heute ihre Anklagepunkte gegen den Präsidenten an den Senat übermitteln, der nächste große Schritt zum Start des Amtsenthebungsverfahrens. Parallel wird bekannt: Hacker des russischen Militärgeheimdiensts GRU haben angeblich das ukrainische Gasunternehmen Burisma angegriffen, um E-Mail-Zugangsdaten von Beschäftigten zu erbeuten. Die Firma spielt in Trumps Ukraine-Affäre eine zentrale Rolle.


Bundeskanzlerin Merkel empfängt Bosse und Gewerkschafter der Autohersteller. Sie sprechen über die Frage, wie der Wandel der Branche hin zu umweltverträglichen Technologien gestaltet werden kann. Sprich: über Milliardensubventionen.


Innenminister Seehofer (CSU) und Familienministerin Giffey (SPD) stellen ihren Plan zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität vor.


Russlands Präsident Putin hält seine Rede zur Lage der Nation – und wird dabei erklären müssen, was er gegen die wachsende Unzufriedenheit der Menschen tun will. Viele leiden unter der Wirtschaftskrise und dem Reformstau.


WAS LESEN?

Wer mehr Klima- und Umweltschutz anmahnt, hat allen Grund dazu. Auch hier im Tagesanbruch. Aber die Mahner sollten ihre Positionen überdenken, meint unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld: Die CO2-Emissionen in Deutschland sind überraschend stark gesunken, das deutsche Klimaziel für 2020 scheint auf einmal wieder erreichbar zu sein – ohne Extra-Steuer, E-Mobilität und verordneten Fleischverzicht. Es brauche jetzt eine neue, rationale Klimapolitik.


Die neue SPD-Vorsitzende Saskia Esken fordert für Deutschland einen demokratischen Sozialismus. Mit ihrem Linkskurs verprellt sie zahlreiche Genossen, die sich in der Mitte der Gesellschaft positionieren. So auch den Unternehmer Harald Christ, der nach 30 Jahren Mitgliedschaft aus der Partei ausgetreten ist. Meinem Watson.de-Kollegen Lukas Weyell hat er erklärt, warum.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ist halt nicht so leicht, das mit dem Organspenden.

Ich wünsche Ihnen stets wohldurchdachte Entscheidungen. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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