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Libyen-Krisengipfel in Berlin: Worum es in Wahrheit geht


Was heute wichtig ist
Jedem Stamm seine Wahrheit

MeinungVon Florian Harms

17.01.2020Lesedauer: 8 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Reportagereise in die libysche Sahara im Jahr 2005.Vergrößern des Bildes
Reportagereise in die libysche Sahara im Jahr 2005. (Quelle: Lutz Jäkel, HARMS/JÄKEL)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Ein herausragender Schauspieler kann einen ganzen Theaterabend allein füllen. Während andere rufen, rasen, mit den Armen rudern, genügen ihm schon kleine Gesten, um eine Geschichte zu erzählen. Eine hochgezogene Augenbraue, ein Fingerschnipsen, ein Räuspern. Passend zur jeweiligen Rolle vermag er sie im richtigen Moment einzusetzen, um das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Wovon das Stück handelt, ist da fast schon egal.

August Diehl ist so ein herausragender Schauspieler, und seit gestern Abend ist seine Kunst am Berliner Ensemble zu bewundern, dem ehrwürdigen Brecht-Theater am Schiffbauer Damm. Nach langen Jahren am Wiener Burgtheater, nach Filmen mit Quentin Tarantino, Terrence Malick und vielen anderen Regisseuren und zwei Wochen vor dem Kinostart des Hollywood-Streifens "Ein verborgenes Leben", in dem er einen österreichischen Kriegsdienstverweigerer während der Nazizeit spielt, ist Diehl in seine Geburtsstadt zurückgekehrt und steht dort endlich auf den Brettern. Auch seine drei Kollegen Constanze Becker, Nico Holonics und Judith Engel lieferten solide Arbeit ab, aber was so ein Diehl auf der Bühne macht, das ist schon eine eigene Liga. Wie er als selbstgefälliger Star-Wissenschaftler im Stück "Drei Mal Leben" einen erfolglosen Kollegen heimsucht, mal eben dessen Frau verführt und dabei auch noch seiner eigenen Gattin Schuldgefühle bereitet, das ist so durchtrieben und raffiniert gespielt, dass man im Publikum erschaudert. Dann dieselbe Episode noch einmal, aber diesmal ist der Star-Wissenschaftler ein Sadist, der sich an der Angst seiner Mitmenschen ergötzt. Und dann noch einmal, aber diesmal bekommt der Star-Wissenschaftler seine eigenen Grenzen aufgezeigt. All das ist in Yasmina Rezas Kammerspiel angelegt, aber es ist erst die Kunst großer Schauspieler, die aus diesem launig arrangierten, bisweilen aber auch etwas seichten Text ein großes Erlebnis macht. Deshalb war der lange Applaus nach der Premiere gestern Abend verdient. Falls Sie also in Berlin leben oder demnächst einmal herkommen mögen: Ein Besuch im BE lohnt sich sehr.


WAS STEHT AN?

"Diese Verbrecher reißen sich alles unter den Nagel, dabei ist es unser Land!" Der junge Mann sprach nicht, er spuckte Worte aus. "Schau sie dir doch an: keine Moral, keinen Anstand – aber wollen alles haben! Mit denen werden wir uns niemals vertragen, in ihren Adern fließt anderes Blut, sie sind nicht von unserem Stamm!"

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Es war eine denkwürdige Begegnung, die ich vor 14 Jahren am Rande eines Marktes in Bengasi hatte. Ein freundlicher Mann, der mir Tee anbot und mich in ein Gespräch verwickelte, aber in Rage geriet, als wir auf seine Landsleute im Westen zu sprechen kamen. Kein gutes Haar ließ er an ihnen. Er war nicht der Einzige, der so sprach – in einem Land, in dem ich zugleich so viel Herzlichkeit, Gastfreundschaft und Humor erlebt habe wie in keinem anderen. Die Leute in Bengasi schimpften auf die Leute in Tripolitanien, die Leute in Tripolitanien rümpften die Nase über die Leute in Sirt, und alle gemeinsam verachteten sie die Hinterwäldler in den Sahara-Dörfern im Süden. Mein Stamm, meine Wahrheit – dein Stamm, deine Wahrheit.

Es gibt Konflikte, die selbst mit noch so vielen Waffen nicht zu entscheiden sind. Solange eine Seite sich unterdrückt und ihrer Rechte beraubt sieht, wird sie sich weiter auflehnen, weiter dagegenhalten, weiter kämpfen. Der Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern zählt dazu, aber ein anderer Brandherd gerät gegenwärtig noch stärker in den Fokus der europäischen Staaten: Der Bürgerkrieg in Libyen entwickelt sich zu einem ernsten Sicherheitsrisiko für die EU-Staaten. Zwischen der von Menschenhändlern und Terroristen heimgesuchten Sahelzone und den Gestaden des Mittelmeers ist der libysche Krisenstaat das Schlupfloch, durch das Not, Gewalt und Unsicherheit in den Norden gelangen können. Den Vereinten Nationen zufolge beginnen auch rund 90 Prozent der Migranten, die das Mittelmeer in Richtung Europa überqueren, ihre Überfahrt in Libyen. Zugleich führt das Elend in Libyen uns jeden Tag unsere Doppelmoral vor Augen: Einerseits schwingen europäische Staats- und Regierungschefs große Reden über Menschlichkeit und Solidarität – andererseits paktiert die EU seit Jahren mit der "Libyschen Küstenwache", einer Miliz aus Warlords, Schutzgelderpressern und Mördern, die für die europäischen Grenzschutzbehörden die Drecksarbeit verrichtet. Mit ihren Schnellbooten greifen sie schwarzafrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer auf und zwingen sie zurück in Lager an der Küste, wo Folter, Vergewaltigungen, Zwangsprostitution und Sklavenhandel an der Tagesordnung sind. Das Geschäft läuft blendend für diese brutale Mafia, und die EU gibt ihren Segen und ihre Euros dazu. Kanzlerin Merkel nannte diese barbarische Kooperation kürzlich "verbesserungswürdig". So klingt er, der europäische Zynismus. Nun will sie es besser machen.

Verschärft wird die libysche Krise durch die Fehde zwischen den beiden wichtigsten Kontrahenten: In einem schrumpfenden Gebiet um die Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes residiert die international anerkannte Einheitsregierung von Fajes al-Sarradsch, die von der Türkei, Katar, syrischen Milizionären im Auftrag Ankaras und ein bisschen auch der EU unterstützt wird. In der Regionalhauptstadt Bengasi im Osten des Landes schwingt General Chalifa Haftar das Zepter. Der 76-Jährige gilt als aggressiver Machtmensch und hat in seiner Laufbahn so wechselhafte Posten wie Gaddafi-Kumpel, Gaddafi-Gegner, CIA-Agent und Waffenhändler bekleidet. Seine Gegner teilt er gerne in zwei Gruppen ein: "Terroristen" und "Söldner". Diese Gegner wiederum (die keinesfalls alle Terroristen und Söldner sind) werfen ihm vor, eine neue Militärdiktatur zu planen. Gegenwärtig wird er von Russland, Ägypten, Jordanien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien und ein bisschen auch dem EU-Land Frankreich unterstützt. In den vergangenen Monaten haben seine Truppen dank der ausländischen Unterstützung große Teile des Landes erobert. Deshalb konnte er sich lange Zeit Verhandlungen mit seinem Rivalen Sarradsch verweigern – erst seit Kurzem gilt eine Feuerpause. Und buchstäblich erst gestern konnte Bundesaußenminister Heiko Maas den Generalissimus auf einem Blitzbesuch in Bengasi dazu überreden, zumindest offiziell bei dem Versuch mitzumachen, eine "Friedenslösung" für Libyen zu schmieden.

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Denn um nichts weniger geht es am Sonntag in Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Brisanz des Krisenherds am Südrand der EU erkannt und alle Konfliktparteien zu einer großen Libyen-Konferenz eingeladen. Putin und Erdogan wollen kommen, Macron und Johnson ebenfalls, Trump schickt ebenso einen Vertreter wie die Chinesen, die in Afrika mittlerweile ja überall mitreden. Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen soll ein Prozess zur Befriedung des Landes in Gang gesetzt werden.

Große Pläne, große Hoffnungen. Ob sie sich verwirklichen lassen, steht jedoch in den Sternen. In Libyen geht es nicht nur um viel Erdgas, viel Erdöl und viel Sicherheit, sondern auch um ein Land, das ganz anders funktioniert als, sagen wir, ein europäisches. Eine gemeinsame libysche Identität hat es nie gegeben, die Grenzen umfassen schlicht das Gebiet, das übrig blieb, als die Franzosen und Briten einst Nordafrika unter sich aufteilten und zwischen Algerien/Tunesien im Westen und Ägypten im Osten auch Italien noch was abbekommen sollte. Lange her, aber die Schatten der Kolonialzeit trüben bis heute die Hoffnungen auf dauerhafte Stabilität. Libyen ist eigentlich kein Land, sondern ein künstlich zusammengezimmertes Siedlungsgebiet verschiedener Stämme und Ethnien, die wenig mehr gemein haben als, sagen wir, ein Däne und ein Grieche. Und jeder Stamm hat seine eigene Wahrheit. Das sollte man bedenken, wenn man große Friedenspläne schmiedet.

"Unsere Botschaft ist klar: Dieser Konflikt ist für niemanden militärisch zu gewinnen", sagt Außenminister Heiko Maas. Wer Libyen kennt, der weiß, dass dieser Satz stimmt. Selbst wenn ein Herrscher sich das gesamte Staatsgebiet unter den Nagel reißt: Den Widerstand aller Stämme wird er niemals brechen können. Denn es gibt Konflikte, die selbst mit noch so vielen Waffen nicht zu entscheiden sind. Hoffen wir, dass das auch Herr Haftar und Herr Sarradsch wissen.


Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wir dürfen uns diesen weisen Worten aktuell sehr verbunden fühlen, denn das Zu-spät-Sein kommt heute ganz groß raus. Zum Beispiel, wenn Sie im Stau stehen, weil ein Trecker-Korso die Straße dicht gemacht hat. Bundesweit sind Bauernproteste geplant. In Mainz wollen sie die längste Traktorenkette der Welt bilden. Denn auch die Landwirte auf den Treckern haben allen Grund, über den Spruch vom Zuspätkommen zu sinnieren. Sie sehen sich gezwungen, gegen Maßnahmen zum Schutz der Natur, des Grundwassers, der Gesundheit aller Bürger zu Felde zu ziehen, obwohl der Konsens unserer mehrheitlich städtischen Gesellschaft dort längst angekommen ist. Oder trifft sie gar keine Schuld, und es hat wieder einmal die Politik geschlafen? Es ist gar nicht so einfach. Klar ist nur: Heute geht's rund.

Die Bauern sind in Rage, weil ihnen die Gesetzgebung ans Leder geht. Im Agrarpaket der Bundesregierung wird unter anderem die Nitratbelastung des Bodens behandelt, was technokratisch klingt, aber ein ganz heißes Eisen ist. Nitrat aus Düngemitteln und insbesondere Gülle gelangt, wird zu viel davon auf den Acker gekippt, ins Grundwasser und richtet nicht nur in der Natur Schaden an, sondern kann in verwandelter Form, als Nitrit, bei Menschen Krebs auslösen. Landauf, landab erheben Messstationen deshalb den Grad der Belastung. Dort, wo die Höchstwerte überschritten werden, geht es den Bauern demnächst zwar nicht an den Kragen, aber an den Güllekübel.

Kein Wunder, dass den Landwirten schon beim bloßen Gedanken die Gülle, Pardon, Galle hochkommt: Weniger Düngung heißt weniger Ertrag. Sie sehen sich mit dem Rücken zur Wand. Durch immer neue Auflagen sei ihre wirtschaftliche Existenz gefährdet. Bevor man darüber aus Städterperspektive die Nase rümpft und den vermeintlich dauermeckernden Bauerntölpeln die Bedeutung der Umwelt erklären will, sollte man sich besser erst in ihre Haut versetzen. Denn die Landwirte machen nicht einfach einen Job. Der Betrieb und die Existenz der Familie sind oft eng verzahnt. Die einen sind von Fördermitteln abhängig, andere müssen sich fragen, ob neue Auflagen die längst gebaute, sündhaft teure Stallanlage nicht zur finanziellen Katastrophe werden lassen. Da liegen die Nerven schneller blank als im gesicherten Angestelltenverhältnis.

Was die Bauern besonders erzürnt: Die Nitratwerte seien gar nicht so hoch, es gebe viel zu wenige Messstationen, die obendrein oft an besonders belasteten Orten stünden. Der Schwarze Peter liegt ihrer Auffassung nach bei den Behörden. Allerdings kann man Staat und Politik beim besten Willen nicht vorwerfen, den Bauern vorschnell fingierte Umweltsünden um die Ohren gehauen zu haben. Jahrelang hat die Politik den Konflikt mit den Bauern gescheut. Erst nachdem der Europäische Gerichtshof die Bundesrepublik zur Einhaltung der Grenzwerte verdonnert hat und bei fortgesetzten Verstößen Strafzahlungen in Höhe von ... Moment ... 850.000 Euro pro Tag drohen, muss es jetzt plötzlich schnell gehen. Verträgliche Anpassung? Keine Zeit.

Es stimmt schon: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Aber erst einmal tobt der Streit, wer der Bremser war.


WAS LESEN?

Der Bundestag hat die Organspende reformiert, statt der Widerspruchs- kommt die Einwilligungslösung. Ich find’s vernünftig. Interessant klingt aber auch dieser Text unserer Kolumnistin Lamya Kaddor, die argumentiert: "Gesetze werden an unserer Angst nichts ändern."


Und, wie ist er denn nun, der gerade angelaufene Udo-Lindenberg-Film? Mein Kollege Arno Raffeiner hat ihn gesehen und kommt zum Schluss: Das Werk zeigt nicht nur, wie Udo den Mief der Nachkriegszeit wegrockt und zum Rocker der Nation aufsteigt, sondern erzählt auch viel über uns.


WAS AMÜSIERT MICH?

Toll: Diese Bundesregierung hat einfach für alles eine Lösung.

Ich wünsche Ihnen einen spendablen Tag und dann ein schönes Wochenende. Der Samstags-Podcast pausiert noch bis Ende Januar, am Montag bin ich wieder für Sie da.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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