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Balkankriege | Mladić: Historisches Urteil gegen den Verbrecher Nummer 1


Tagesanbruch
Verbrecher Nummer 1

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 08.06.2021Lesedauer: 6 Min.
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Ratko Mladic wird angeklagt, den Mord an Tausenden Menschen befohlen zu haben (Archivbild).Vergrößern des Bildes
Ratko Mladić wird angeklagt, den Mord an Tausenden Menschen befohlen zu haben (Archivbild). (Quelle: Martin Meissner/ap-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

okay, es war nur Lettland, in der Fußballwelt ein kleines Licht. Trotzdem: Was Jogi Löws Kicker gestern Abend beim 7:1-Sieg gezeigt haben, war so flott, dass wir uns nun doch noch auf den Beginn der Europameisterschaft freuen dürfen. In drei Tagen geht's los. Vorher geht es im heutigen Tagesanbruch um nichts weniger als Gerechtigkeit – und falls Sie diesen Newsletter noch nicht abonniert haben, können Sie es mit diesem Link nachholen, dann bekommen Sie ihn jeden Morgen um 6 Uhr kostenlos per E-Mail geschickt.

Strafe muss sein

Wenige Versprechen werden so häufig gebrochen wie das der Gerechtigkeit. Gerichte überall in Europa sprechen Recht, täglich führen Politiker die Gerechtigkeit im Munde – trotzdem bleiben zahllose Taten ungesühnt. Zu den größten Verbrechen unserer Zeit gehört das Massaker, das bosnisch-serbische Milizen vor 26 Jahren nahe Srebrenica auf dem Balkan begingen.

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Anfang Juli 1995 marschierten die Männer unter dem Kommando von Ratko Mladić in die Schutzzone ein. Die Soldaten der Vereinten Nationen, die eigentlich die überwiegend muslimische Zivilbevölkerung schützen sollten, leisteten keinen Widerstand und fanden sich kurz darauf als Geiseln wieder. Die Nato erwog einen Luftangriff, machte aber einen Rückzieher, als Mladićs Leute drohten, die Blauhelme umzubringen. Der General ließ an die verängstigten Flüchtlinge Süßigkeiten verteilen und gaukelte ihnen vor, sie bräuchten keine Angst zu haben. Dann gab er den Befehl, die Männer und Jungs von den Frauen und Kindern zu trennen. Da ahnten viele, dass sie das Folgende nicht überleben würden. Später berichteten die wenigen Überlebenden, wie Väter ihre Kinder ein letztes Mal herzten und Ehemänner ihren Frauen zuredeten, schnell in die Busse zu steigen, die sie wegbringen sollten.

Dann begann das Grauen. Manche ihrer Opfer ermordeten Mladićs Schergen noch in der folgenden Nacht, andere sperrten sie in leer stehende Schulen, Turnhallen und Fabriken, später karrten sie sie an Flussufer und mähten sie dort nieder. Manchen gelang die Flucht in den Wald – tagelang wurden sie gejagt, gehetzt, erschossen. Bulldozer verscharrten die Leichen in Massengräbern. Am Ende waren mehr als 8.000 bosnische Männer und Jugendliche tot, es war das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist akribisch dokumentiert worden, man kann erschütternde Bücher darüber lesen oder diesen Podcast des Schweizer Radios hören.

Doch obwohl so viel geschrieben und gesendet worden ist, sind die Verbrechen der Balkankriege bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Viele Mörder laufen noch immer frei herum. Das gilt für das Massaker von Srebrenica, aber auch für viele andere Taten. Bis heute weigern sich die serbische und die kroatische Regierung, Tausende mutmaßliche Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Das Staatsoberhaupt von Bosnien-Herzegowina, ein Mann namens Milorad Dodik, behauptete kürzlich, das Morden in Srebrenica habe gar nicht stattgefunden. "Offene Geschichtsklitterung" nennt das der UN-Jurist Serge Brammertz in der "Süddeutschen Zeitung". "Der Geschichtsrevisionismus klingt nicht mit den Jahren ab." Im Gegenteil: "Er wird schamloser."

Nicht nur auf dem Balkan. Vielerorts auf der Welt ist der Nationalchauvinismus auf dem Vormarsch und richtet Grausames an. Und bis heute haben die Vereinten Nationen aus ihrem Versagen auf dem Balkan oder in Ruanda nur wenig gelernt; siehe etwa die Rohingya in Myanmar. Umso gebannter schauen wir heute nach Den Haag, wo das UN-Kriegsverbrechertribunal sein endgültiges Urteil über Ratko Mladić fällt – den viele noch vor dem verstorbenen Slobodan Milošević und dem zu lebenslanger Haft verurteilten Radovan Karadžić als schlimmsten Verbrecher der Balkankriege ansehen. In erster Instanz war auch er bereits zu lebenslanger Haft verurteilt worden – aber erst heute entscheidet sich, ob es wirklich dabei bleibt. Es ist zu hoffen. So würde die Weltjustiz beweisen, dass ihre Mühlen zwar langsam mahlen, aber wenigstens manche Kriegsverbrechen ahnden. Gerecht wäre die Strafe allemal.


Ein historischer Schritt

Gerechtigkeit gibt es aber nicht nur im Strafrecht: Was die Finanzminister der G7-Staaten am vergangenen Wochenende ausgeheckt haben, ist wahrlich ein historischer Schritt. Falls Sie von dem epochalen Ereignis nichts mitbekommen haben, erledigen Sie den Papierkram für Ihre Steuererklärung vermutlich ebenso zähneknirschend wie ich. Denn um die Steuern geht es bei den großen Plänen, um Gewinnmargen, Schlupflöcher, Besteuerungsgrundlagen und Ähnliches, worüber Finanzminister eben sprechen, was bei uns Normalsterblichen aber eher Fluchtreflexe auslöst.

Die Minister aus den sieben wichtigsten westlichen Industriestaaten haben eine Initiative auf den Weg gebracht, die einer Plage unserer Zeit den Garaus machen will: dem Schmarotzertum sensationell profitabler, weltweit agierender Konzerne, die sich der Infrastruktur, des Bildungsstandards und der gesellschaftlich errungenen Produktivität ihrer Wirtsstaaten gerne bedienen – sich aber, sobald es ans Zahlen geht, ins steuergünstige Ausland absetzen. Gigantische Beträge werden so in Steueroasen verschoben, unter der Nase der Finanzbehörden und völlig legal. 200 Milliarden Dollar, die eigentlich der Finanzierung öffentlicher Aufgaben dienen sollten, landen stattdessen auf Konzernkonten – Jahr für Jahr.

Damit soll nun Schluss sein – dank einer globalen Neuordnung der Unternehmensbesteuerung: Mindestens 15 Prozent ihrer Gewinne müssen Großkonzerne in Zukunft abdrücken, egal, wo auf der Welt sie agieren. In der Regel wird dort, wo sich das Firmenhauptquartier befindet, die Rechnung aufgemacht, aber auch in den größten Absatzmärkten müssen die Unternehmen künftig blechen. So werden Firmen wie Facebook, Google oder Apple endlich dazu verdonnert, einen Anteil ihres Geldsegens zum Finanzamt zu karren – nicht nur an ihrem Stammsitz in Kalifornien, sondern auch hier bei uns, wo sie ebenfalls glänzende Geschäfte machen.

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Ja, natürlich gibt es einen Haken: Die neuen Regeln, nach denen US-Konzerne auch in ihren europäischen Absatzmärkten besteuert werden sollen, sind nur für hochprofitable Firmen gedacht, die eine Gewinnmarge von mindestens 10 Prozent einstreichen. Ein Riese wie Amazon, dessen Registrierkasse sich schneller füllt als der Geldspeicher Dagobert Ducks, könnte der Besteuerung trotzdem entgehen. Was in den entscheidenden Klauseln stehen wird, hängt zudem nicht allein vom Willen der G7-Staaten ab. Erst müssen sie in der größeren Runde der G20-Länder Überzeugungsarbeit leisten und anschließend den ganz großen Club der OECD-Staaten auf ihre Seite ziehen. Störfeuer gibt es auch innerhalb der EU zu überwinden – etwa von Irland, das seinen Weg aus der wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit mit läppischen Unternehmenssteuern geglättet hat. Und doch: Der Schwung ist da, das Bedürfnis nach einem Befreiungsschlag gegen den ruinösen Steuerwettbewerb ist groß, und irgendwoher müssen die Finanzminister das Geld ja nehmen, um die Corona-Schuldenlöcher zu stopfen. Aber ist der geplante Steuersatz von "mindestens 15 Prozent" nicht viel zu niedrig, wie Kritiker zu Recht monieren? Ja, stimmt, aber das ist der Preis, um das neue System überhaupt erfolgreich zu verankern. Dafür braucht Präsident Joe Biden in den USA Stimmen seiner republikanischen Gegner, in der EU müssen Irland und Ungarn mit an Bord, Kritiker in Asien ebenso.

Wie das geht? Wir kennen es alle: Beim Billigtarif greift man schneller zu. Und schon hängt man drin in dem Vertrag und wird ihn so schnell nicht wieder los. Ehe man sich versieht, wird die Chose dann teurer, nichts mehr mit 15 Prozent. Normalerweise schimpfen wir über diese Praxis, aber heute begrüßen wir sie feierlich: als historischen Schritt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit.


Harris auf heikler Mission

Apropos Joe Biden: Während der US-Präsident seine Europareise vorbereitet, ist seine Vize Kamala Harris bereits in heikler Mission unterwegs und wird heute in Mexiko erwartet. Dort berät sie darüber, wie sich die Zahl der illegalen Einwanderer verringern lässt, die auf der Flucht vor Armut und Kriminalität zu Zehntausenden über die US-Südgrenze kommen. "Ich glaube, ich habe dir eine schwere Aufgabe gegeben", hat Biden zu Harris gesagt. Er weiß, wovon er spricht: Als Vizepräsident von Barack Obama war er mit demselben Job betraut – und ließ Hunderttausende abschieben.


Was lesen und hören?

G7-Gipfel, Nato-Treffen, USA-EU-Konferenz, Begegnung mit Putin: Was kann Joe Biden auf seiner morgen beginnenden Europareise erreichen, wo lauern Risiken? Ex-Außenminister Sigmar Gabriel hat es meinem Kollegen Bastian Brauns erklärt.


Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock steht wegen Ungenauigkeiten in ihrem Lebenslauf in der Kritik. Nun hat unser Rechercheur Jonas Mueller-Töwe herausgefunden: Auch bei CDU-Chef Armin Laschet gibt es falsche Angaben in der offiziellen Vita.


Hierzulande ist die Impfkampagne in vollem Gange – andernorts ist die Corona-Gefahr noch längst nicht vorbei. Müssen wir unsere Strategie gegen das Virus ändern? Darüber diskutiert unser Moderator Marc Krüger mit dem Investigativjournalisten Georg Mascolo und mir; hier hören Sie die ausführliche Fassung unseres Gesprächs.


Was amüsiert mich?

Um die katholische Kirche steht es wirklich schlimm.

Woran auch immer Sie glauben, ich wünsche Ihnen einen beseelten Tag. Morgen schreibt Peter Schink den Tagesanbruch, von mir lesen Sie ab Donnerstag wieder.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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