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Koalitionspoker nach Bundestagswahl: So blicken Sie durch


Tagesanbruch
Die große Verwirrung

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 02.10.2021Lesedauer: 6 Min.
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Derzeit steht vor allem die CDU Kopf: Abbau von Wahlplakaten in dieser Woche.Vergrößern des Bildes
Derzeit steht vor allem die CDU Kopf: Abbau von Wahlplakaten in dieser Woche. (Quelle: dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

wir leben in verwirrenden Zeiten, zumindest für deutsche Verhältnisse: Die Bundestagswahl ist fast eine Woche her, aber es ist noch immer unklar, welche Koalition künftig das Land regiert und wer Kanzler wird. Olaf Scholz und ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP haben derzeit zwar die besseren Karten. Aber das Spiel kann sich auch noch drehen. Und nicht nur einmal.

Wie es voraussichtlich weitergeht – auch darüber haben meine Kollegen Florian Harms, Moritz Bailly und ich in der letzten Ausgabe unseres Wahl-Spezials diskutiert. Hören Sie doch einmal hinein:

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Bis feststeht, welche Parteien künftig das Sagen haben, werden allerlei Begriffe herumschwirren, mit denen die Koalitionsmöglichkeiten in ein schönes Licht gerückt werden sollen. Damit Sie (und auch ich) im kollektiven Einlullen nicht völlig die Orientierung verlieren, habe ich versucht, die wichtigsten davon ein wenig einzuordnen.

Ampelkoalition, die

"Koalition aus SPD, FDP und Grünen" (Duden)

In der politischen Diskussion wird der Begriff Ampelkoalition zumeist als Synonym für eine Regierung aus SPD, FDP und Grünen benutzt, weil eine Ampel auf Rot, Grün und Gelb schalten kann. Allerdings hat diese Bezeichnung vor allem aus Sicht von FDP und Grünen ihre Tücken. So lehrt die Erfahrung vieler Bürger, dass eine Ampel meistens – und gefühlt sogar immer – auf Rot steht.

Die Liberalen mögen den Ausdruck aber auch deshalb nicht so sehr, weil ihnen neben den Rot- auch die Grünphasen viel zu dominant sind. Christian Lindner will partout den Eindruck verhindern, in einer solchen Koalition blinke die FDP nur mal dazwischen, wenn Rot und Grün gerade wieder etwas aushecken. Es ist deshalb ein durchaus geschickter Schachzug von SPD und Grünen, dass sie statt von einer Ampelkoalition neuerdings eher von einer Fortschrittskoalition oder einer progressiven Regierung sprechen.


Fortschrittskoalition, die

(kein Eintrag im Duden)

Als Fortschrittskoalition bezeichnet die SPD inzwischen ein Bündnis mit Grünen und FDP. Manch ein Sozialdemokrat benutzt dafür aber auch den Begriff "Koalition der Gewinner". Die Sozialdemokraten versuchen also, eine von ihr geführte Regierung mit positiv besetzten Begriffen wie "Fortschritt" und "Gewinner" zu verbinden. Das ist ein wenig perfide, weil es im Umkehrschluss natürlich den Eindruck erwecken soll, dass es bei einer unionsgeführten Regierung eher um einen Rückschritt und um Verlierer gehe.

Verwirrend ist allerdings, dass die SPD noch im Frühjahr nicht ein Fortschritts- oder Gewinner-, sondern ein Zukunftsprogramm vorgelegt hat, mit dem sie Deutschland nach der Wahl gestalten wollte. Noch verwirrender: Von einer Zukunftskoalition spricht inzwischen Armin Laschet, wenn er ein von ihm geführtes Bündnis meint. In den Wahlkampf zog der CDU-Kanzlerkandidat jedoch wiederum mit einem Programm für "Stabilität und Erneuerung", was eher nach einer Mischung aus Vergangenheit/Gegenwart und Zukunft klang.

Vielleicht zeigen die aktuelle Zukunftskoalition von Armin Laschet und das Zukunftsprogramm von Olaf Scholz aus dem Frühjahr aber auch nur, dass es am Ende doch wieder eine Große Koalition geben wird. Ob die dann allerdings eine Zukunftskoalition ist, die ein Zukunftsprogramm umsetzt? Um das zu beurteilen, ist es leider wirklich noch zu früh.


Große Koalition, die

"Regierungsbündnis, das aus den beiden zahlenmäßig stärksten Parteien in einem Parlament besteht" (Duden)

Als Große Koalition gilt in Deutschland ein Bündnis aus den ehemaligen Volksparteien Union und SPD. Allerdings hat sich die Bedeutung des Adjektivs "groß" über die Jahrzehnte relativiert.

In der ersten Großen Koalition auf Bundesebene zwischen 1966 und 1969 vereinten beide Fraktionen noch mehr als 90 Prozent der Bundestagsmandate auf sich. Nach der jüngsten Wahl würde nur noch gut die Hälfte der Abgeordneten eine solche Regierung stützen, es wäre die kleinste Große Koalition, die es auf Bundesebene jemals gab. Sie hat sich unter Angela Merkel also ziemlich erfolgreich runterregiert. Immerhin konnte die Große Koalition vom allgemeinen Verkürzungs- und Verniedlichungstrend profitieren und wurde zuletzt fast nur noch als Groko bezeichnet. Das klingt irgendwie halbwegs sympathisch.


Jamaika-Koalition, die

"Koalition aus den Fraktionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit CDU/CSU" (Duden)

In Deutschland wird eine Jamaika-Koalition derzeit vor allem als Synonym für eine Regierung aus Union, Grünen und FDP benutzt, weil schwarz, grün und gelb die Farben der Nationalflagge des sympathischen Karibikstaates sind. Bei näherer Betrachtung bringt der Begriff allerdings ähnliche Probleme mit wie die Ampelkoalition.

Die Flagge Jamaikas zeigt ein diagonales Kreuz, mit dem das Tuch in zwei schwarze und zwei grüne Dreiecke geteilt wird. Der Anteil der Farben entspricht nicht ganz der tatsächlichen Stärke der Parteien einer möglichen Regierung in Deutschland und dürfte deshalb in deren Berliner Alltag zu entsprechenden Empfindlichkeiten führen.

Noch problematischer ist jedoch, wofür die Farben auf Jamaika zumindest früher einmal standen: Schwarz für die Armut und die Härten der Vergangenheit, Grün für die Hoffnung, Gelb für die Schönheit des Sonnenlichts. Ob sich alle potenziellen Partner bei uns mit dieser Aufgabenteilung identifizieren könnten, ist zumindest fraglich.

Es spricht einiges dafür, dass inzwischen nur deshalb von einer Jamaika-Koalition die Rede ist, weil das besser klingt als der frühere Begriff "Schwampel". Der wiederum war eine Abkürzung für eine schwarze Ampel, also eine mit der Union statt der SPD. Diese Bezeichnung litt nicht nur unter dem Namen, der dahingeworfen klang, und der Tatsache, dass Ampeln in der Realität dann doch eher auf Rot als auf Schwarz umspringen. Sie lud auch zu allerlei Wortspielen ein. So stellte der frühere FDP-Chef Guido Westerwelle einmal klar, die FDP stehe weder für eine Ampel noch eine Schwampel oder "sonstige Hampeleien" zur Verfügung.


Progressive Regierung, die

(kein Eintrag im Duden)

"Wir leiten aus dem Wahlergebnis einen klaren Auftrag zur Bildung einer progressiven Regierung ab", sagte die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in dieser Woche. Sie meint damit ein Ampelbündnis, das bei der SPD gerade unter Fortschrittskoalition firmiert.

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Allerdings klingt "progressiv" natürlich ein wenig akademischer als "fortschrittlich", passt also besser zu den Grünen als zur SPD. Wie viel christdemokratische Zukunftskoalition wiederum in einer progressiv-fortschrittlichen Regierung stecken könnte, ist derzeit noch offen. Und auch, wie viel eine ampelige Fortschrittskoalition mit Zukunftsambitionen vom Laschetschen Modernisierungsjahrzehnt umsetzen würde.


Zukunftskoalition, die

(kein Eintrag im Duden)

"Deutschland braucht jetzt eine Zukunftskoalition, die unser Land modernisiert", sagte Armin Laschet am Wahlsonntag. Die solle für Weltoffenheit und marktwirtschaftliche Lösungen stehen. Ganz streng genommen würde das zwar nur Linke und AfD als Koalitionspartner ausschließen, die Union meint mit ihrer Wortschöpfung aber ein Bündnis mit Grünen und FDP. Also jene Regierung, die gemeinhin noch unter Jamaika-Koalition firmiert.

Dieses Projekt umwehte bereits 2017 für einige Wochen die Aura von Zukunft, bis daraus plötzlich eine Vergangenheitskoalition wurde. Vielleicht lag das auch daran, dass die Union vor vier Jahren noch mehr auf dem Gegenwarts-Trip ("Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben") war, während die FDP schon damals mehr Aufbruch verlangte ("Schauen wir nicht länger zu") und die Grünen sogar übermütig der Meinung waren: "Zukunft wird aus Mut gemacht."

Unklar ist bislang allerdings die personelle und inhaltliche Ausrichtung einer Zukunftskoalition. Etwa, wie progressiv-fortschrittlich sie regieren würde. Und inwieweit Mitglieder des Zukunftsteams der Union (erinnern Sie sich noch?) aufgrund der Namensähnlichkeit Ansprüche auf Ministerposten formulieren könnten. Guckt man sich die Sondierungsteams von CDU und CSU an, wohl eher keine bis gar keine.

Klar ist aber bereits, dass die ausgebootete SPD im Fall der Fälle beleidigt von einer Verliererkoalition sprechen würde.

Hoffentlich habe ich Sie jetzt nicht noch zusätzlich verwirrt. Deshalb möchte ich mit einem allgemeingültigen Satz enden. Er stammt von Dr. Udo Brömme, einem fiktiven Politiker aus der Harald-Schmidt-Show. Sie merken schon: Ich erzähle aus der Vergangenheit. Aber Dr. Brömme hatte einen politischen Slogan für alle Ewigkeit: "Zukunft ist gut für alle."

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende.

Ihr

Sven Böll
Managing Editor t-online
Twitter: @SvenBoell

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Mit Material von dpa.

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