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Corona-Impfung: "Wer dafür nicht erreichbar ist, bei dem hilft nur noch Druck"


Tagesanbruch
Lebensbedrohliche Attacken

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 03.11.2021Lesedauer: 7 Min.
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Auch im Universitätsklinikum Magdeburg werden immer mehr Corona-Patienten behandelt.Vergrößern des Bildes
Auch im Universitätsklinikum Magdeburg werden immer mehr Corona-Patienten behandelt. (Quelle: Ronny Hartmann/dpa-bilder)

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Unbehagen vor der Zukunft

Seit dem Sommer steckt die Pandemie in einer Phase fest, aus der wir voraussichtlich nie wieder herauskommen werden: Corona ist zwar gesundheitlich gefährlich und sozial anstrengend, aber auch intellektuell langweilig geworden. Wir wissen alles, was wir wissen müssen. Man muss auf keine Einsicht, keine Technologie und kein Hilfsmittel mehr warten. Die Impfungen können den Schlamassel beenden. Fertig, Ende, aus die Maus.

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Dass es leider am Impferfolg hapert, führt gegenwärtig zu Hektik. Die scheidende Bundeskanzlerin sah sich gestern veranlasst, schnell noch einmal in ihre alte Rolle zu schlüpfen, und forderte im CDU-Parteivorstand harte Maßnahmen für Ungeimpfte. Regelmäßige Leser des Tagesanbruchs dürften das allenfalls mit einem Gähnen quittieren: Dass der flächendeckende Lockdown künftig dem Lockout weichen dürfte, also dem Ausschluss der Ungeimpften aus Teilen des gesellschaftlichen Lebens, ergab sich aus der veränderten Einschätzung des Virus bereits vor Monaten. Die Politik hat vor lauter Wahlkämpferei nur ein bisschen länger gebraucht.

Nun kann man sich lang und breit darüber echauffieren, dass es noch immer zu viele Menschen gibt, die sich in eine Parallelwelt der Impfverweigerung zurückgezogen haben. Doch das ist ein emotionaler Verschleiß, der zu nichts führt. Einige (aber nicht alle) Argumente der Zauderer und Verweigerer tragen die Züge einer Scheinbegründung. Die soll bloß einen grundsätzlichen Unwillen übertünchen, der für eine rationale Diskussion nicht mehr erreichbar ist. Mit der Widerlegung von Scheinargumenten vertut man seine Zeit. Aufklärung gibt es längst genug. Wer dafür nicht erreichbar ist, bei dem hilft nur noch Druck.

Allerdings muss man deshalb nicht gleich jeden Aspekt der Impfdebatte in Bausch und Bogen verdammen. Manche Menschen schrecken vor der Impfung aus einem diffusen Unbehagen zurück. Es bricht der Mehrheit der Geimpften, zu der auch ich gehöre, keinen Zacken aus der Krone, wenn man die Angst der anderen ernst nimmt. Denn das Gefühl und seine Ursachen sind auch Impfbefürwortern nicht komplett fremd: die Sorge, dass wir die Wissenschaft, die Hochtechnologie, die Risiken und Nebenwirkungen unseres Tuns nicht im Griff haben, ja nicht einmal überblicken. Bei der Weltklimakonferenz in Glasgow sitzen in diesen Tagen Premiers und Präsidenten zusammen und reden über genau das. Unsere Vorfahren glaubten, die Menschheit schreite ruhmreich auf dem Pfad des Fortschritts voran. Aber jetzt haben wir den Salat mit dem Dreck und dem Treibhauseffekt, den Abfallprodukten der Industrialisierung, die wir inzwischen als existenzielle Gefahr für die Menschheit begreifen. Das Verhältnis des Homo sapiens zu seinen Werken hat sich als korrekturbedürftig erwiesen. Erst haben wir die Segnungen des menschlichen Einfallsreichtums gefeiert. Nun tickt auf einmal die Uhr.

Wir greifen massiv in unsere Umwelt ein, spalten Atome, bearbeiten Gene, betonieren die Erdoberfläche, fischen Meere leer, verändern nebenbei und unversehens die Zusammensetzung der Atmosphäre. Die Komplexität der Wechselwirkungen ist nicht einfach zu überblicken. Der Mensch ist in seinem Oberstübchen jedoch praxisnah verdrahtet und in der Lage, bei Überforderung auf geistige Abkürzungen zurückzugreifen und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Eine solche Abkürzung ist das Bauchgefühl, also das, worauf man sich verlässt, wenn man nicht weiter weiß und ins Schwimmen gerät. "Irgendwie gefällt mir das nicht": Das ist keine besonders belastbare Position, dennoch schwören viele von uns – auch Menschen, die sich ansonsten als rational bezeichnen würden – auf ihren Instinkt. Bei Entscheidungen unter Zeitdruck ist das manchmal unerlässlich, und ebenso dann, wenn selbst bei bestem Bemühen nicht genug Informationen für ein fundiertes Urteil zu bekommen sind. Das Bauchgefühl ist auch der einzige Anker, der einem noch bleibt, wenn man der Wissenschaft, den zivilisatorischen Errungenschaften, vielleicht auch den Medien grundsätzlich misstraut.

Was also ist drin im Bauch? Die Impressionen von Jahrzehnten. Angesichts qualmender Schlote in den Fabriken, toter Fische in den Flüssen und krasser Umweltskandale – die Älteren erinnern sich noch an verschiedene Dioxinunfälle oder die Giftgaskatastrophe von Bhopal – ist der Fortschrittsoptimismus vergangener Generationen nach und nach einem gefühlten Gegensatz gewichen, der die menschengemachte Zerstörung einer guten, reinen Natur gegenüberstellt. Bei Lichte besehen ist das allerdings nicht haltbar. Lässt man die unberührte Umwelt nämlich einfach mal machen, kann auch die ganz fix tödlich sein. Die Pest und der Milzbranderreger sind unverfälschte Natur. Antibiotika nicht, dennoch fällt die Wahl nicht schwer. Auch die Geschichtsschreiber vergangener Tage haben zu unserer Naturverbundenheit ein paar Takte zu sagen: Die natürlichen, nicht menschengemachten Schwankungen des Klimas – wie zum Beispiel die "kleine Eiszeit" im 14. Jahrhundert – sind mit Fluten, Eiseskälte und Hungersnöten als erbarmungsloser Killer durch die Menschheit gefegt. Die Natur kann man erst dann verklären, wenn man sie mit viel Technik domestiziert und aus dem Alltag weitgehend verbannt hat.

Dieser Verlust an Bodenhaftung erhöht die Schleudergefahr. Naturromantik hier, Bauchgefühl dort und eine gehörige Portion Verunsicherung angesichts der Pandemie noch obendrauf: Wer sich mit diesem Emotionsmix im Gepäck zwischen einem Impfstoff und einem Virus entscheiden soll, der wählt das Virus. Der Impfstoff ist das neueste Produkt einer scheinbar undurchschaubaren Hochtechnologie, er entstammt Laboren, in denen sich Menschen in Schutzkleidung über Reagenzgläser beugen. Der Erreger hingegen ist Teil der Natur, so etwas gab es schon immer, es gehört zum Kreislauf des Lebens und zu einer Welt, in der das milde Licht der Sonne durch die herbstlich gefärbten Blätter scheint. Apropos gefärbt: Es sind solche simplen Bilder, die im Hinterstübchen herumwabern und dem Bauchgefühl eine gefährliche Schlagseite geben. Das, was diverse Viren ganz natürlich bewirken – Durchfall und Erbrechen, das Zersetzen von Eingeweiden, multiples Organversagen, Verlust der Denkfähigkeit, Delirium, tödliche Krämpfe, Ersticken – geht im goldenen Licht der Naturverklärung unter.

Deshalb haben Menschen vor den Spätfolgen der Impfung Angst anstatt vor den Spätfolgen des Virus – dabei müsste es genau umgekehrt sein. Anders als Medikamente, die man manchmal über Jahre einnimmt, bleiben Impfstoffe nur kurzzeitig im Körper und werden dann vollständig abgebaut. Selbstverständlich können sie Nebenwirkungen haben – aber diejenigen, die von den Inhaltsstoffen selbst ausgelöst werden könnten, treten prinzipbedingt kurzfristig und nicht erst nach Jahren auf. Denn dann sind die Bestandteile des Impfstoffs aus dem Organismus längst verschwunden. Wenn eine Impfung also Spätfolgen haben soll, müsste der Schaden stattdessen von einer verzögerten, unerwünschten Immunreaktion angerichtet werden. Doch wir wissen zu unserem Missvergnügen, dass der Gipfel der Immunreaktion nach wenigen Monaten bereits überschritten ist – nur deshalb müssen wir über Auffrischungsimpfungen überhaupt debattieren. Danach ist auch das Risiko von Nebenwirkungen vorbei. Das Potenzial für gefährliche Spätfolgen, von denen man jetzt noch nichts ahnt, ist deshalb extrem gering.

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Viren dagegen bleiben mitunter lebenslang im Körper, und es ist eine gesicherte Erkenntnis, dass sie nach vielen Jahren zur Reaktivierung und zu lebensbedrohlichen Attacken fähig sind. Bei Masern ist das ein alter Hut, bei Ebola gerade erst entdeckt. Wer Angst vor dem Unvorhersehbaren hat, sollte sein Gefühl deshalb nicht beim Impfstoff abladen, darf es aber zu Recht bei den Viren platzieren. Das Unbehagen vor einer ungewissen Zukunft ist menschlich und normal. Es hat einen Sinn, hält uns im Zaum, lässt uns abwägen. Wenn man das tut, kann man seine Vorsicht in die richtigen Bahnen und auf mögliche Gefahren lenken. Und nicht auf das Heilmittel. Falls Sie es also noch nicht getan haben: Lassen Sie sich bitte impfen.


"M&M" nehmen Abschied

Zum Abschied eine Ehrung: Wenn Angela Merkel heute nach Frankreich reist, um Emmanuel Macron "Au revoir" zu sagen, will der französische Präsident der geschäftsführenden Kanzlerin das Großkreuz der Ehrenlegion überreichen, die höchste Auszeichnung seines Landes. Auch der Ort des Treffens ist symbolisch: In dem von Weinbergen umrankten Burgunderstädtchen Beaune hatten sich 1993 schon Helmut Kohl und François Mitterrand getroffen. So aufrichtig in Frankreich das Bedauern über das Ende des M&M-Duos sein mag, so wenig Grund besteht zu der Annahme, der designierte Merkel-Nachfolger Olaf Scholz könne den deutsch-französischen Beziehungen weniger Wert beimessen: Immerhin hatte er als Kandidat im Wahlkampf die Frage, wohin ihn seine erste Auslandsreise als Kanzler führen werde, klipp und klar beantwortet: "Nach Paris."


Was lesen?

Viele Menschen verspüren beim Abschied von Angela Merkel Wehmut. Warum eigentlich, fragt Niall Ferguson, einer der führenden Historiker der Welt. Die Bilanz der Bundeskanzlerin sei verheerend, ihre 16 Jahre an der Macht seien von Stillstand geprägt gewesen. Warum er Merkel so kritisch sieht und warum er prophezeit, dass ein gewaltiger Flüchtlingsstrom nach Europa kommen wird, lesen Sie in dem Interview, das mein Kollegen Marc von Lüpke und ich mit dem streitbaren Forscher geführt haben.


Im vergangenen Jahr meldeten die Färöer als erstes Land in Europa "Zero Covid". Doch nun explodieren die Zahlen auf der Inselgruppe im Nordatlantik. Die Gründe sind auch für Deutschland interessant, berichtet unser Reporter Alexander Kohne.


Die Ampelregierung kommt wohl schneller als erwartet. Wie hat Olaf Scholz das Koalitionswunder vollbracht? Vor allem mit einer Eigenschaft, die ihm nicht einmal Weggefährten zugetraut hätten, berichtet unser Reporter Johannes Bebermeier.


Jens Spahn rühmt sich, er habe die Arbeitsbedingungen im Pflegesystem endlich verbessert. Meine Kollegin Lisa Becke entlarvt die Pflegelüge des Gesundheitsministers.


Was amüsiert mich?

Die deutsche Sprache ist so wunderbar variabel.

Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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