t-online - Nachrichten fΓΌr Deutschland
Such IconE-Mail IconMenΓΌ Icon

MenΓΌ Icont-online - Nachrichten fΓΌr Deutschland
Such Icon
HomePolitikTagesanbruch

Boykott russischer Bars und Restaurants: Das ist blinder Aktionismus


Das ist blinder Aktionismus

  • Annika Leister
Von Annika Leister

Aktualisiert am 07.03.2022Lesedauer: 5 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung ΓΌbernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Russlands PrΓ€sident Wladimir Putin mit russischem GebΓ€ck im Jahr 2008: Wen von den beiden soll man jetzt boykottieren? FΓΌr manch einen offensichtlich eine schwierige Frage.
Russlands PrΓ€sident Wladimir Putin mit russischem GebΓ€ck im Jahr 2008: Wen von den beiden soll man jetzt boykottieren? FΓΌr manch einen offensichtlich eine schwierige Frage. (Quelle: UPI Photo/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Putins Panzer rollen in der Ukraine, seine Propagandamaschine walzt über Russland. Viele Menschen in Europa solidarisieren sich mit den angegriffenen Ukrainern, aber offensichtlich fârdert der Krieg auch ein gefÀhrliches Schwarz-Weiß-Denken, ein Zurückfallen in stumpfesten Nationalismus, in Rassismus und Diskriminierung. Die Opfer: Russen und russischstÀmmige Deutsche.

Loading...
Symbolbild fΓΌr eingebettete Inhalte

Embed

Russische Bars und Restaurants werden derzeit boykottiert, ihre Besitzer und Mitarbeiter bedroht und angegriffen. 15 Drohanrufe erhielt das russische Restaurant Datscha in Berlin allein am ersten Tag der Invasion. Um rund 30 Prozent sind die Besuche nach SchΓ€tzung des Besitzers zurΓΌckgegangen, es hagelt Negativkommentare auf Google. Anderen wird gedroht, die Etablissements "abzufackeln". Manche Kellnerin spricht nun lieber weniger Russisch – und geht am Abend nicht mehr allein nach Hause.

Das Berliner Restaurant Datscha: Die Besitzer zΓ€hlen zu den wenigen, die Drohungen ΓΆffentlich machen - viele andere wollen anonym bleiben.
Das Berliner Restaurant Datscha: Die Besitzer zΓ€hlen zu den wenigen, die Drohungen ΓΆffentlich machen - viele andere wollen anonym bleiben. (Quelle: Seeliger/imago-images-bilder)

Derweil dΓΌrfen zwei russischstΓ€mmige KΓΌnstlerinnen aus Berlin ihre Arbeit nicht in DΓ€nemark prΓ€sentieren – weil sie russische Namen tragen. Man wisse zwar, dass Maria und Natalia Petschatnikov nichts mit dem Krieg zu tun hΓ€tten, teilte ein dΓ€nischer Lokalpolitiker mit. "Aber wir kΓΆnnen russische Kultur momentan nicht unterstΓΌtzen." Ganz Γ€hnlich agierte eine BΓ€ckerei in Baden-WΓΌrttemberg, als sie den "Russischen Zupfkuchen" umbenennen wollte.

Dieser blinde Aktionismus ist Wahnsinn. Was kann Zupfkuchen, was kΓΆnnen die Petschatnikov-Schwestern, was die Datscha-Inhaber fΓΌr die Situation in der Ukraine? Gar nichts.

Was in der Ukraine passiert, ist Putins Krieg, nicht der des russischen Volks. Man darf aus falsch verstandenem Pazifismus nun weder jeden Russen zum Angreifer und Putin-Versteher erklΓ€ren – noch per se zum unterdrΓΌckten WiderstandskΓ€mpfer. Es gibt "die Russen" schlicht nicht, genauso wenig wie es "die Deutschen" oder "die Ukrainer" gibt.

Dazu genΓΌgt ein Blick auf die Entwicklungen am Wochenende: Da pappte sich ein russischer Athlet beim Turn-Weltcup in Doha ein "Z" auf die Brust und trug es stolz als Zeichen der UnterstΓΌtzung fΓΌr Putins Invasion.

Iwan Kuliak nach seinem Auftritt: Auf der Brust des Russen ist das "Z" zu erkennen.
Iwan Kuliak nach seinem Auftritt: Auf der Brust des Russen ist das "Z" zu erkennen. (Quelle: FIG)

Zugleich gingen in Moskau, St. Petersburg und anderen StΓ€dten Tausende Russen auf die Straße und forderten ein Ende des Krieges – obwohl ihnen nach Inkrafttreten eines neuen Zensurgesetzes 15 Jahre Haft drohen, wenn sie das Wort "Krieg" nur in den Mund nehmen. Weitere Tausende Russen flohen aus ihrer Heimat. Viele fΓΌrchten offenbar, in Putins unrechtmÀßigem Krieg zwangsrekrutiert zu werden. Die finnische Bahn setzt seit dem Wochenende SonderzΓΌge von Moskau nach Helsinki ein, um die Massen zu transportieren.

Festnahme bei einem Anti-Kriegs-Protest im russischen Jekaterinburg am Sonntag: Demonstranten drohen Haft und Schikane.
Festnahme bei einem Anti-Kriegs-Protest im russischen Jekaterinburg am Sonntag: Demonstranten drohen Haft und Schikane. (Quelle: 3TP NARCH/NARCH30/Reuters-bilder)

Das nÀmlich ist die Lage in Russland: Putin hat Oppositionelle wahlweise vergiftet, weggesperrt oder mundtot gemacht. Freie Wahlen gibt es seit Langem nicht mehr. Demonstranten werden festgenommen und niedergeknüppelt. Die Medien werden zensiert, freie Nachrichtenportale verboten, Journalisten werden unter Druck gesetzt und bedroht. Wer seine Meinung frei Àußert, muss mit massiver staatlicher Gewalt rechnen.

Alexej Nawalny: Der beliebte Oppositionelle wurde vergiftet und sitzt nun hinter Gittern.
Alexej Nawalny: Der beliebte Oppositionelle wurde vergiftet und sitzt nun hinter Gittern. (Quelle: ITAR-TASS/imago-images-bilder)

In der seit Jahren von Putin angeheizten Propagandahâlle einen klaren Kopf zu bewahren, kann nicht einfach sein. UnabhÀngige Informationen fernab der Staatspropaganda müssen Russlands Bürger sich mühsam suchen. Das verÀndert einen Staat und seine Bürger. Der russische Philosoph und Aktivist Greg Yudin bezeichnet die russische Bevâlkerung im Interview mit der "taz" zum großen Teil als "vollkommen entpolitisiert". Die meisten Menschen hÀtten Angst und hielten sich kategorisch von Politik fern.

Der Krieg gegen das Nachbarland, in dem viele Verwandte oder Bekannte haben, hat aber auch die russische BevΓΆlkerung in einen Schock versetzt. Junge Aktivisten, KΓΌnstler, Intellektuelle und Wissenschaftler sprechen sich trotz aller Gefahren offen gegen die Invasion aus. Und Experten wie Yudin sehen einen mΓΆglichen Kipppunkt fΓΌr Putins System: Entweder wachse die Antikriegsbewegung rasch und gewinne Einfluss auf die Politik – oder sie werde niedergeschlagen und eine neue politische Γ„ra beginne. Klar ist: Diese Γ„ra wΓ€re noch dΓΌsterer als Russlands Gegenwart.

In Russland einen nachhaltigen Regierungswechsel von außen zu erzwingen, ist nicht realistisch. Der Westen hat das nach vielen gescheiterten Versuchen weltweit, zuletzt in Afghanistan, begriffen. Um einen "Regime Change" von innen zu befΓΆrdern, braucht es jetzt nicht Hass und Hetze aus Europa, sondern SolidaritΓ€t – mit den russischen Aktivisten, Journalisten und MΓ€nnern, die nicht Putins Krieg kΓ€mpfen wollen, sondern fliehen. Mit den Exilanten, die bereits hier leben. Die Diskriminierung muss enden, stattdessen mΓΌssen wir reden, verstehen, unterstΓΌtzen, unbΓΌrokratisch aufnehmen. Canceln sollten wir Putin und seine Getreuen, nicht die russische Kultur und ihre BΓΌrger.

AnkΓΆmmlinge aus Russland in Helsinki am 4. MΓ€rz: Es fliehen so viele aus Moskau, dass Finnland mehr ZΓΌge einsetzt.
AnkΓΆmmlinge aus Russland in Helsinki am 4. MΓ€rz: Es fliehen so viele aus Moskau, dass Finnland mehr ZΓΌge einsetzt. (Quelle: Markku Ulander/imago-images-bilder)

Denn diese Menschen kΓΆnnen einen entscheidenden Unterschied machen. Sie sind Multiplikatoren fΓΌr die Demokratie. Sie halten Kontakt zu Freunden und Verwandten in der Heimat, sie durchbrechen Propaganda auf sehr persΓΆnliche Weise, sie kΓΆnnen berΓΌhren und ΓΌberzeugen, wie es ein Artikel aus der Feder eines deutschen Journalisten niemals kann.

Und schließlich geht es auch uns um Treue zu unseren demokratischen Werten. Nur wenn wir differenzieren, wenn wir zwischen der russischen Regierung und russischen BΓΌrgern unterscheiden, sind wir fair, klar und ehrlich – und strafen so Putins ErzΓ€hlung von einem "antirussischen Krieg des Westens" automatisch LΓΌgen.

Loading...
Loading...
Loading...
Tagesanbruch - Was heute wichtig istWas heute wichtig ist

Erhalten Sie jeden Morgen einen Überblick über die Themen des Tages als Newsletter.


Verhandlungsrunde Nummer 3

Zum dritten Mal sollen an diesem Montag Vertreter Russlands und der Ukraine an einem Tisch zusammenkommen, um miteinander zu verhandeln. Die Aussichten auf Waffenstillstand oder gar dauerhaften Frieden aber sind gering. Schon die bei der zweiten Verhandlungsrunde vereinbarten Feuerpausen, um sichere Fluchtkorridore für Zivilisten in zwei ukrainischen StÀdten zu bilden, wurden nicht eingehalten. Die Ukraine beschuldigt Russland des Wortbruchs, Russland die Ukraine. Experten schÀtzen die russischen Behauptungen als Lüge ein. Zu groß sei Putins Machthunger, zu oft schon habe er auch in Syrien entsprechende Vereinbarungen allein für den eigenen Vorteil genutzt.


Russland vor dem Internationalen Gerichtshof

Russland muss sich erstmals wegen der Invasion in der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof verantworten. Das hΓΆchste Gericht der Vereinten Nationen verhandelt am Montag in Den Haag die Dringlichkeitsklage der Ukraine gegen Russland. Das Gericht ist zustΓ€ndig fΓΌr vier Kernverbrechen: VΓΆlkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Weil Russland wie die Ukraine das Statut des Gerichtshofs unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert hat, kann Putins Angriffskrieg als Verbrechen der Aggression zwar nicht verfolgt werden – sehr wohl aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und VΓΆlkermord. Die Ukraine klagt auf Grundlage der VΓΆlkermordkonvention und bezichtigt Russland des Genozids an Ukrainern. Am Montag wird zunΓ€chst die Ukraine ihre Position darlegen, am Dienstag folgt Russland. Wann ein Urteil erfolgt, steht noch nicht fest.


Bild des Tages

Helfer versorgen den kleinen Jungen bei der Ankunft: Der ElfjΓ€hrige kam ganz alleine ΓΌber die Grenze.
Helfer versorgen den kleinen Jungen bei der Ankunft: Der ElfjΓ€hrige kam ganz alleine ΓΌber die Grenze. (Quelle: PolΓ­cia Slovenskej republiky/Facebook)

Hoffnung im Krieg: Ein elfjΓ€hriger Junge aus der Ukraine hat die Grenze zur Slowakei ganz alleine ΓΌberquert – ausgerΓΌstet nur mit einem kleinen Rucksack, einer PlastiktΓΌte und einer auf seine Hand gekritzelten Telefonnummer. Freiwillige empfingen ihn mit Essen und GetrΓ€nken, die Polizei nannte ihn den "grâßten Helden der letzten Nacht". Mehr dazu lesen Sie hier.


Was lesen?

Gleiche Arbeit, aber unterschiedliches Gehalt: Noch immer gibt es in Deutschland eine LΓΌcke zwischen dem Lohn von Frauen und MΓ€nnern. Weshalb ist das so – und was kann man dagegen tun? Das erklΓ€rt meine Kollegin Christine Holthoff zum heutigen Equal Pay Day hier.


Nationaltorwart Manuel Neuer plant angeblich ein ambitioniertes Bauprojekt in den bayerischen Alpen. Doch die Event-Location stâßt auf Widerstand der Einheimischen. Patrick Mayer erklÀrt in diesem Text, warum.


Viele Unternehmen im Ahrtal wurden von der Flutkatastrophe 2021 schwer getroffen. Große Summen wurden fΓΌr sie gespendet – jetzt aber werden die Gelder nicht ausgezahlt. Mein Kollege Lars Wienand berichtet hier ΓΌber die Wut von Handwerkern und Winzern.


Was amΓΌsiert mich?

Wie Aktivisten in Russland sich mit Umarmungen gegen Putin auflehnen: Das Video sehen Sie hier.

Ich wΓΌnsche Ihnen einen ruhigen Start in die Woche! Morgen begleitet Sie mein Kollege Johannes Bebermeier in den Tag.

Ihre

Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1

Was denken Sie ΓΌber die wichtigsten Themen des Tages? Schreiben Sie es uns per Mail an t-online-newsletter@stroeer.de.

Mit Material von dpa.

Den tΓ€glichen Newsletter von Florian Harms hier abonnieren.

Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier.
Alle Nachrichten lesen Sie hier.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

t-online - Nachrichten fΓΌr Deutschland


TelekomCo2 Neutrale Website