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Ukraine-Krieg | Botschafter Andrij Melnyk dreht auf


Tagesanbruch
Botschafter Melnyk dreht auf

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 01.09.2022Lesedauer: 6 Min.
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Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat viele Kritiker.Vergrößern des Bildes
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat viele Kritiker. (Quelle: imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

festzustellen, dass Andrij Melnyk polarisiert, wäre eine Untertreibung. Der ukrainische (Noch-)Botschafter in Berlin spaltet die Nation: Die einen bejubeln ihn als Klartexter, der kein Blatt vor den Mund nimmt, um Putins verbrecherischen Krieg ebenso zu geißeln wie das Rumgeeiere deutscher Politiker. Die anderen beschimpfen ihn als Nervensäge, die durch unverschämte Kommentare ihr diplomatisches Gastrecht verletze.

So oder so? Man muss sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite verorten, um zweitens festzustellen, dass es wohl für jeden ukrainischen Funktionär schwer erträglich ist, manche undurchdachten Kommentare, wohlfeilen Forderungen und seichten Debatten zum Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu ertragen, während gleichzeitig daheim Männer, Frauen und Kinder im Raketenhagel sterben, Städte und Dörfer zerschossen und Soldaten zu Tausenden niedergemäht werden.

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Manchen deutschen Politikern und Intellektuellen, die dieser Tage wohlgefällig in Talkshows, Essays und offenen Briefen vor sich hin schwadronieren, wünschte man ja tatsächlich, dass sie den bestialischen Wahnsinn in Cherson, Mykolajiw und Kachowka mal mit eigenen Augen sehen könnten. Auch russische Soldaten leiden und sterben tausendfach, aber die Hauptleidtragenden dieses Angriffskriegs sind die Ukrainer. Und wenn ihre politischen und diplomatischen Amtsträger von EU-Staaten wie Deutschland mehr Unterstützung verlangen, ist das ihr gutes Recht.

Doch der Ton macht die Musik. Und da hat Herr Melnyk durch seinen beißenden Sarkasmus und seine ständigen Beleidigungen seinem eigenen Land einen Bärendienst erwiesen. Viele Leute hierzulande sind es leid, sich von dem ukrainischen Botschafter vorhalten lassen zu müssen, wie hasenfüßig, kurzsichtig und dämlich der deutsche Umgang mit der Ukraine sei – weil man nicht noch mehr schwere Waffen liefere, weil man ein sofortiges Kriegsende herbeisehne oder weil man überhaupt und generell und sowieso von nix Ahnung habe.

Im Oktober kehrt Herr Melnyk nach Kiew zurück. Auch dort scheint man mittlerweile bemerkt zu haben, dass ein derart undiplomatischer Diplomat einer gedeihlichen Beziehung zum mächtigsten EU-Staat nicht zuträglich ist. Aber vorher lässt es der Botschafter noch mal richtig krachen. Weil ihm in jüngster Zeit seltener die Talkshow-Bühne bereitet wird und die Hauptstadtredaktionen sich auch nicht mehr mit Interviewanfragen überschlagen, feuert er eben aus vollen Rohren auf seinem Twitter-Kanal. Dort ist niemand vor ihm sicher, den er verdächtigt, allzu nachsichtig mit dem Despoten im Kreml umzuspringen. Eine kleine Auswahl aus den vergangenen Tagen:

Dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer haute er um die Ohren: "Mit Ihrer absurden Rhetorik über das Einfrieren des russischen Krieges spielen Sie in Putins Hände und befeuern Russlands Aggression. Ich habe Sie in die Ukraine eingeladen. Diese Einladung ist annulliert. Sie sind UNERWÜNSCHT. Punkt."

Den ehemaligen SPD-Außenminister Sigmar Gabriel watschte er ab: "Sie – ganz persönlich – haben einen RIESIGEN Schaden für Deutschland angerichtet, indem SIE das russische Teufelsprojekt Nord Stream 2 initiiert und die deutsche Gas-Abhängigkeit erhöht haben. Die Menschen müssen jetzt die Zeche zahlen. Shame on you."

Gestern attackierte er zum wiederholten Mal den Chef von Ritter Sport, weil die Schokoladenfirma weiterhin ihre Tafeln nach Russland liefert (die Gewinne allerdings spenden will): "Hurra, 'Quadratisch, praktisch, Blut' ist wieder da. Ritter Sport hat die Kritik ausgesessen und liefert brav weiter nach Russland. Das wird nie vergessen werden. Die Ukrainer werden NIE ihre Schokolade berühren, Herr Ronken & Co. Viel Glück für Ihre Geschäfte mit dem Aggressor." Der mit zwei martialischen Fotomontagen versehene Tweet verbreitete sich in Windeseile und initiierte weitere Schreihälse, ihren Hass gegen die Schoko-"Terrorriegel" auszukübeln. Andere ereiferten sich über den absurden Vorwurf.

Nun weiß man ja, dass es den meisten Leuten auf Plattformen wie Twitter eigentlich nur noch darum geht, ihre eigene Großartigkeit zu feiern und andere als Doofmänner hinzustellen. Trotzdem ist es immer wieder bestürzend zu sehen, wie schnell so ein Shitstorm gegen einzelne Personen oder Firmen öffentliche Debatten vergiften und viele Menschen verunsichern kann. Ritter-Sport-Chef Andreas Ronken berichtet sogar von persönlichen Bedrohungen. Um so was auszuhalten, braucht man eine dicke Haut. Wer die nicht hat, duckt sich schnell weg und hält künftig lieber die Klappe. Das wiederum führt dazu, dass die Großmäuler und Giftspritzen noch mehr Raum bekommen – und leider viele Politiker, Journalisten und Unternehmenslenker meinen, was ihnen da aus dem Internet entgegenbrandet, sei die reale Stimmung im Lande.

Ist sie nicht. Nicht im Geringsten. Die Mehrheit in diesem schönen Land ist ziemlich vernünftig, höflich und empathisch. Sie hat Besseres zu tun, als bei Twitter, Facebook und Co. andere Leute zu beschimpfen. Ich habe den Eindruck, dass sie es auch eher unverständlich findet, dass jeder Pieps von Leuten wie Herrn Melnyk sofort zu einer Nachricht geadelt und in Talkshows durchgenudelt wird. Vielleicht sollten wir alle, die wir täglich im Web herumturnen, uns mehr Gelassenheit verordnen. Das russische Kriegsverbrechen erfordert harte Gegenwehr, Kiew braucht unsere Unterstützung, alles richtig. Aber niemandem ist geholfen, wenn man sich nur noch gegenseitig ankeift. Auf seine baldige Rückkehr nach Kiew angesprochen, hat Andrij Melnyk übrigens neulich in einem Interview gesagt: "Vielleicht möchten sich die Deutschen – aber vor allem die Ampel – ein bisschen von mir ausruhen!" Das kann man wohl sagen.


Neuer Boss in Wolfsburg

Auf der jüngsten Kanada-Reise des Kanzlers gehörte noch Herbert Diess zur Entourage, er unterzeichnete im Beisein von Olaf Scholz und Justin Trudeau ein Abkommen zur Lieferung von Batterierohstoffen. Doch das war die Abschiedstour des umstrittenen Automanagers, der nun nach rund vier Jahren als VW-Vorstandsvorsitzender gehen musste. Heute übernimmt Porsche-Chef Oliver Blume den Platz an der Konzernspitze in Wolfsburg. Der 54-Jährige soll stärker auf Teamgeist und Zusammenhalt setzen als sein zuweilen erratischer Vorgänger.

Für seinen ersten Arbeitstag hat sich der neue Boss gleich einen standesgemäßen Auftritt organisiert: Auf der Veranstaltung mit dem illustren Namen "Global Top Management Conference" in Lissabon will Blume ein Zehn-Punkte-Programm präsentieren – von Technologie über Qualität der Autos und Software bis zur Kommunikation mit dem Kapitalmarkt. An Herausforderungen herrscht bei Europas größtem Autobauer mit seinen vielen Marken und 670.000 Beschäftigten kein Mangel: Da sind die Transformation zur E-Mobilität, das Problem klimaschädlicher Batterien, das heikle China-Geschäft, die anstehende Vorstandsverkleinerung und nicht zuletzt der milliardenschwere Börsengang von Porsche, der schon kommende Woche beschlossen werden soll. Es gibt leichtere Jobs.

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Manöver als Machtdemonstration

Mitten im Krieg gegen die Ukraine beginnt Kremlchef Putin heute ein riesiges Militärmanöver: Mehr als 50.000 Soldaten nehmen dem russischem Propaganda-Fernsehen zufolge an der Übung "Wostok 2022" teil, die bis zum 7. September in Sibirien, im Fernen Osten, im Ochotskischen und im Japanischen Meer stattfindet. Ebenfalls beteiligt: Streitkräfte aus China, Indien, Belarus, Tadschikistan und der Mongolei.

Dass darauf trotz der heftigen Kämpfe um die ukrainische Stadt Cherson nicht verzichtet wird, darf als bewusste Machtdemonstration nach innen wie nach außen verstanden werden. Gerade die Teilnahme Chinas und der japanische Protest gegen das Manöver werden dem Macker in Moskau gut in den Kram passen.


Mauschelei bei der ARD

Für die ARD kommt es gerade knüppeldick: Die RBB-Affäre ist noch nicht ausgestanden, der NDR sieht sich mit dem Vorwurf politischer Einflussnahme konfrontiert, und nun rückt auch noch der MDR in den Fokus: Heute beginnt vor dem Landgericht Leipzig der Prozess gegen den ehemaligen Unterhaltungschef des Senders, Udo Foht. Zwar sind die Vorwürfe gegen ihn schon seit mehr als zehn Jahren bekannt – es geht um Filz und Geldschiebereien, der heute 71-jährige Angeklagte muss sich wegen Betrugs, Untreue, Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung verantworten. Zum fatalen Gesamteindruck des Senderverbunds trägt aber natürlich auch dieses Puzzleteilchen bei. Es wird Zeit für eine Generalreform.


Wieder ein Streik in der Luftfahrt

Im Tarifstreit zwischen der Vereinigung Cockpit und der Lufthansa verhärten sich die Fronten. Die Gewerkschaft hat für Freitag zum Streik aufgerufen. Lufthansa-Piloten sollen ihre Arbeit niederlegen.


Was lesen?

Internationale Atomexperten dürfen das umkämpfte Atomkraftwerk Saporischschja inspizieren. Doch nun werden Vorwürfe gegen die UN-Organisation laut, berichtet meine Kollegin Sonja Eichert.


Die Entscheidung ist gefallen: Russen dürfen auch weiterhin in die EU-Staaten einreisen. Gut so, findet mein Kollege Lando Derouaux.


Soll es eine Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket geben oder nicht? Unter unseren Lesern ist eine Diskussion entbrannt, mein Kollege Mario Thieme fasst sie zusammen.


Forscher haben herausgefunden, was das Risiko einer Corona-Infektion und eines schweren Krankheitsverlaufs vermindern kann. Meine Kollegin Christiane Braunsdorf klärt Sie auf.


Was amüsiert mich?

Ab heute gibt es also keinen Tankrabatt mehr …

Ich wünsche Ihnen einen unfallfreien Tag.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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