Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Migrationswende Nur das würde an die Wurzel gehen

Ein Gericht hat die Migrationspolitik der neuen Bundesregierung für rechtswidrig erklärt. Uns egal, sagen unverfroren Kanzler und Innenminister. Damit werden sie nicht durchkommen. Einen gangbaren Weg weisen eine Dänin und eine Italienerin.
Löwenzahn im Garten, so schön er blüht, ist eine echte Herausforderung. Er hat eine lange und tiefe Pfahlwurzel. Rupft der Hobbygärtner nur an den Blättern herum, schaut er auf den Stumpf der Pflanze, aus dem diese löwenzahntypische weiße Milch quillt. Und kurz darauf wieder Blätter und Blüten sprießen.
Bei politischen Problemen ist es oft wie bei Löwenzahn. Geht man nicht an die Wurzel der Sache, bleibt alles Handeln Kosmetik. Genau das erlebt gerade die neue Bundesregierung, insbesondere ihr CDU/CSU-Part, beim Versuch ihrer Migrationswende, konkret: den Zurückweisungen an den Binnengrenzen zu europäischen Partnerländern. Das wurde einfach so dekretiert vom ersten Tag an, an dem Innenminister Alexander Dobrindt das Amt übernahm. So macht man das – diese Botschaft verströmte er mit fester Miene in alle Kameras, neben ihm am Schlagbaum mit ebenso fester Miene der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann. Die Botschaft: Wir schaffen das.

Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".
Als so fest wie die Mienen erwies sich aber die rechtliche Grundlage für dieses Vorgehen nicht. Es dauerte nicht lange, und das erste Verwaltungsgericht beschied der Exekutive in einer Eilentscheidung: Das geht so nicht. Diese Zurückweisungen an einer EU-Binnengrenze sind rechtswidrig. Ein Fall dreier Somalier, die aus Polen kamen, hatte diese Entscheidung ausgelöst.
Sie hat fundamentale Bedeutung. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass offensichtlich Asyl-Lobbygruppen diese Situation gezielt herbeigeführt haben. In einem intakten Rechtsstaat, der Deutschland im Unterschied zu anderen westlichen Demokratien zweifelsfrei ist, ist diese Entscheidung bindend und gilt als Präzedenzfall generell. Die Versuche der Bundesregierung bis hin zu Bundeskanzler Friedrich Merz, das herunterzuspielen, sind unanständig. Vor vielen Jahren hatte sich der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer in Wort und Ton vergriffen, als er die Folgen der Migrationspolitik von 2015 als "Herrschaft des Unrechts" bezeichnet hatte. Auf das Vorgehen der jetzigen Regierung trifft der Begriff schon eher zu. Die Exekutive kann sich nicht über die Gerichtsbarkeit, die Judikative, hinwegsetzen. Diese Übereinkunft gehört konstitutiv zu einer regelbasierten Ordnung.
Es geht um ein Signal, um Abschreckung
Die Taktik von Merz und Dobrindt ist dabei leicht durchschaubar. Sie setzen auf die Signalwirkung, konkreter gesagt: die Abschreckung. Es lohnt sich nicht, sich auf den gefährlichen Weg zu machen. Bis sie sich politisch nicht mehr gegen die rechtlichen Verbote ihres Vorgehens stemmen können, soll die normative Kraft des Faktischen wirken. Das tut sie nach neuesten Zahlen offenbar auch schon etwas. Insofern könnte ihr Kalkül vorläufig sogar aufgehen.
Dennoch bleibt das Problem bei diesem Vorgehen auf der Tagesordnung. Es wird weiter Wahlergebnisse geben wie in Polen oder zerrüttete Regierungen wie in den Niederlanden, wenn nicht an die Pfahlwurzeln herangegangen wird. Bei der Migration nach Europa sind es zwei: das Asylrecht, vor allem das deutsche. Und die Europäische Menschenrechtskonvention.
Der renommierte Historiker Heinrich August Winkler hat sich vor einem Jahr in einem "Spiegel"-Beitrag getraut, das erste der beiden rotglühenden Eisen anzufassen: Ein Recht auf Asyl in einem bestimmten Land sei den Vätern und Müttern des Grundgesetzes "niemals in den Sinn gekommen", argumentiert der Doyen der deutschen Geschichtswissenschaft. "Es wäre in der Praxis auf ein allgemeines Recht auf Einwanderung hinausgelaufen." Vielmehr sei eine "kluge Entscheidung für ein institutionelles Asylrecht, basierend auf bestimmten Regeln des Völkerrechts" getroffen worden.
Der gestrichene, entscheidende Passus
In seinem Beitrag führt Winkler aus, dass dem Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates im September 1948 ein Entwurf vorgelegen habe, in dem es hieß: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts." Den Schöpfern des Grundgesetzes sei es also um ein institutionelles, vom Staat zu gewährendes Asylrecht gegangen, nicht um einen Rechtsanspruch des Einzelnen. Im Verlauf der Sitzung seien auf Antrag des Völkerrechtlers und SPD-Politikers Carlo Schmid die Worte "im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts" gestrichen worden, weil diese Formulierung Ausländer gegenüber Deutschen privilegiert hätte.
Das SPD-Mitglied Winkler benennt damit unerschrocken den Kern. Denn das individuelle Asylrecht ist durch diese Streichung in der Praxis auf ein allgemeines Recht auf Zuwanderung hinausgelaufen. Oder, wie es der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann etwas plakativer formuliert hat: "Man braucht doch kein Asylrecht, wenn jeder kommen und bleiben kann, wie er möchte."
Ob das noch in vielen Mitgliedsländern zu ratifizierende gemeinsame europäische Asylrecht namens GEAS in ein bis zwei Jahren dieser Praxis entgegenwirkt, kann man erst sehen, wenn es in Kraft ist. Merz und Dobrindt wollen sich jedenfalls bis dahin mit ihrer burschikosen Methode über die Runden retten.
Was ist der Wille der Bevölkerungen?
An der zweiten Wurzel der Migrationssituation in Europa setzen die beiden Regierungschefinnen Giorgia Meloni und Mette Frederiksen an. Die Italienerin und die Dänin könnten aus unterschiedlicheren politischen Lagern nicht kommen: die eine Postfaschistin, die andere Sozialdemokratin. Und doch haben sie einen gemeinsamen offenen Brief verfasst, in dem sie fordern, die Europäische Menschenrechtskonvention zu überarbeiten – aus der Erfahrung heraus, dass ansonsten eine restriktivere Migrationspolitik regelmäßig vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheitert. "Blockieren Europas Gerichte den Willen des Volkes?", beschreibt die "Zeit" in der Ausgabe von vergangener Woche in ihrer Überschrift den Kern des Vorstoßes. "Wir müssen prüfen", sagt Meloni, "ob die Konventionen, zu denen wir uns verpflichtet haben, noch den Anforderungen der Zeit genügen."
Sieben weitere EU-Regierungen haben den dänisch-italienischen Brief unterzeichnet: Polen, Belgien, Österreich, Estland, Lettland, Litauen und die Tschechische Republik. Die deutsche Regierung hat sich dazu noch nicht verhalten. Sie wird aber in den kommenden Wochen ähnliche Erfahrungen vor Gericht machen wie etwa die Italienerin mit ihrem Abschiebezentrum in Albanien. Das steht leer, weil Gerichte dorthin gebrachte Migranten bisher immer wieder herausurteilen.
Individuelles Asylrecht und Menschenrechtskonvention – viele sehen beides als sakrosankt an, weil Änderungen an den Grundfesten unserer Demokratie rührten. Das ist ein berechtigter Einwand, es wären schwerwiegende Eingriffe. Aber ist es nicht möglicherweise die größere Gefahr für eine liberale Demokratie, wenn der Mehrheitswille über einen so langen Zeitraum hinweg nicht mehr dem Handeln der gewählten Regierungen entspricht?
PS: Vergangene Woche hatte ich an dieser Stelle gesagt, dass ich eigentlich vorläufig nicht mehr zu diesem Thema schreiben möchte. Die aktuellen Ereignisse und die Dimension ihrer Bedeutung haben nun ein anderes Drehbuch geschrieben. Ich bitte um Verständnis und Nachsicht.
- Eigene Überlegungen
- spiegel.de: Die deutsche Asyllegende (Bezahlinhalt)