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Mittelalter und Putins Krieg: “Uns erwarten brutalere und aggressivere Zeiten”


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Historiker Dan Jones
"Plündernd und mordend" – wie vor Jahrhunderten

InterviewVon Marc von Lüpke

15.02.2024Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin: Russland führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russland führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. (Quelle: Mikhail Metzel/dpa)

Russland bekriegt die Ukraine – brutal und rücksichtslos. Warum sich das Wesen des Kriegs seit dem Mittelalter kaum geändert hat, erklärt Historiker Dan Jones. Und warum er trotzdem zuversichtlich für die Zukunft ist.

Das Mittelalter gilt als wahrhaft finster: Grausame Kriege und furchterregende Seuchen haben die Menschen damals heimgesucht. Zivilisierter geht es in unserer Gegenwart nicht zwangsläufig zu, sagt Historiker Dan Jones. Und verweist auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gerade hat der britische Mittelalterexperte mit "Essex Dogs" seinen ersten historischen Roman in Deutschland veröffentlicht.

Weshalb Wladimir Putins Treiben historisch gesehen keineswegs neu sei, die Zukunft noch Schlimmeres bereithalten könnte und wir bis vor Kurzem in einer historischen Anomalie gelebt hätten, erklärt Jones im Interview.

t-online: Herr Jones, Sie sind Experte für das Mittelalter und seine zahlreichen Kriege. Machen Sie Ähnlichkeiten zwischen den kriegerischen Konflikten unserer Gegenwart und damals aus?

Dan Jones: Das Wesen des Krieges hat sich seit Jahrtausenden nicht wesentlich geändert – nur die zur Verfügung stehenden Mittel und Waffen. Nehmen wir die Anfangsphase der russischen Invasion der Ukraine 2022. Putin entfachte einen Krieg des Terrors: Russische Soldaten zogen plündernd und mordend durchs Land, sie zerstörten und vergewaltigten, genau wie es andere Krieger Jahrhunderte zuvor getan hatten. Statt mit Schwertern, Lanzen und Bögen sind moderne Soldaten nun aber mit Maschinengewehren, Panzern und Artillerie ausgestattet.

Zunehmend auch mit Drohnen und anderen Erzeugnissen der Hochtechnologie.

So ist es. Wir leben etwa durch die Fortschritte von Künstlicher Intelligenz und synthetischer Biologie in einer Zeit revolutionärer Veränderungen – wie es vor Jahrtausenden mit der Sesshaftwerdung der Menschheit und der Entwicklung der Landwirtschaft der Fall gewesen ist. Oder mit den Anfängen der Industriellen Revolution seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Über allem steht schließlich noch die Existenz der Atombombe: Wir sind imstande, das menschliche Leben auszulöschen. Buchstäblich jeden Mann, jede Frau, jedes Kind auf diesem Planeten. Die größte Bedrohung für die Menschen in Mittelalter und Früher Neuzeit hingegen waren Kriege und Seuchen.

Beides hielten zumindest die Europäer für Relikte der Vergangenheit – bis das Coronavirus und Russlands Aggression uns eines Besseren belehrten. Waren wir naiv?

Naiv ist ein zu hartes Wort. Für die meisten Generationen in der Geschichte waren Krieg und Instabilität eine Art Norm menschlicher Existenz. Wir lebten in einer historischen Anomalie – zumindest in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis vor wenigen Jahren. Es war eine Zeit von allgemeinem Frieden und wachsendem Wohlstand, deren Ende uns nun wahrscheinlich endgültig bevorsteht. Uns erwarten brutalere und aggressivere Zeiten, denen wir uns stellen müssen.

Zur Person

Dan Jones, Jahrgang 1981, ist britischer Historiker und Journalist. Jones hat zahlreiche Bestseller zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit veröffentlicht, auch durch Podcasts und Fernsehdokumentationen erlangte der Cambridge-Absolvent Popularität in Großbritannien und den USA. 2023 erschien sein Sachbuch "Mächte und Throne. Eine neue Geschichte des Mittelalters", am 15. Februar 2024 kommt mit "Essex Dogs" bei C.H. Beck Jones' erster historischer Roman in Deutschland heraus. Es ist der Beginn einer Trilogie.

Keine sonderlich angenehme Vorstellung …

Die großen Religionen versuchen, dies mit einer Art spirituellem Überbau in Einklang zu bringen und in einem kosmischen Sinne zu rationalisieren. Für uns ist es nun eine traumatische Erfahrung, Putins Krieg hat unsere Welt erschüttert. Hoffen wir, dass er nicht noch viele Jahre herrschen wird. Und dass die wertebasierte globale Ordnung standhalten wird. Denn sie ist ein großer Fortschritt unserer Moderne gegenüber dem Mittelalter.

Bleiben wir im Mittelalter. Sie haben Sachbücher zu diesem Thema veröffentlicht, nun kommt mit "Essex Dogs" Ihr erster historischer Roman in Deutschland heraus: Warum haben Sie das Genre gewechselt?

Im Laufe der Jahre wurde ich immer gefragt, ob ich nicht auch einmal Belletristik schreiben wolle. Die Frage war naheliegend, weil in meinen bisherigen Büchern so viele farbenfrohe Szenen und Charaktere vorgekommen sind, die besten Stoff für einen Roman darstellen. Ich war mir unsicher – und habe immer verneint. Zumal ich auch noch reichlich Ideen für Sachbücher hatte.

Wie kam es dann trotzdem zu "Essex Dogs"?

Mein 40. Geburtstag näherte sich. Ich hatte das Gefühl, dass ich einmal etwas anderes versuchen sollte. So wurden die "Essex Dogs" geboren.

Das Buch beginnt mit einer eindrucksvollen Szene: Die zehnköpfige Söldnertruppe der "Essex Dogs" nähert sich in einem Landungsboot der Küste der Normandie. Nur schreiben wir nicht das Jahr 1944, als die westlichen Alliierten dort die Front gegen Nazi-Deutschland eröffneten, sondern das Jahr 1346. Warum spielt Ihr Roman zu Beginn des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich?

Am Neujahrstag 2019 bin ich über den Omaha-Beach spaziert – den Ort, an dem die amerikanischen Soldaten im Juni 1944 gelandet sind. Idee war es, meine literarische Erfindung der Söldnertruppe "Essex Dogs" als Akteure einer vergleichbaren militärischen Kampagne des Mittelalters zu manchen. Am Ende lief es auf eine Art D-Day des Mittelalters heraus, angesiedelt im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich.

Worum ging es in diesem langwierigen Konflikt?

Es ist ziemlich kompliziert. Der vorgebliche Anlass für den Hundertjährigen Krieg besteht darin, dass die englischen Könige aus dem Hause Plantagenet auch die Krone Frankreichs für sich beanspruchten.

Und was ist der tatsächliche Grund?

Englands Könige glaubten nicht einmal selbst daran, ganz Frankreich beherrschen zu können. Aber der Griff nach der Krone war eine gute Ausrede, um gegen die Franzosen zu kämpfen. Dabei verfolgten die englischen Herrscher zwei Ziele: Einerseits wollten sie ihre historischen Ansprüche in Südwestfrankreich sichern, andererseits ging es um die Kontrolle französischer und flandrischer Häfen. Genau genommen war es also ein Wirtschaftskrieg, der auch mehr als ein Jahrhundert herrschte.

England und Frankreich bekriegten sich von 1337 bis 1453, also 116 Jahre.

Richtig. Der wirtschaftliche Aspekt des Krieges wurde dann im Laufe der Zeit immer wichtiger. Denn womit finanzierte im Mittelalter ein König seinen Krieg? Durch Schulden. Diese Finanzierung der Kriegsführung der englischen Herrscher übernahmen englische Händler, die wiederum ein Interesse an der Kontrolle des Ärmelkanals hatten. So schließt sich der Kreis. Auch Putin muss die Kosten des Krieges wieder hereinholen.

Kommen wir wieder zu den "Helden" Ihres Buches, den "Essex Dogs". Es handelt sich um eine zehnköpfige Söldnertruppe. Warum haben Sie etwa keinen Ritter als Protagonisten ausgewählt?

Ich suchte die Herausforderung. Charaktere aus dem Nichts zu erschaffen, ist sehr komplex. Und dann auch noch gleich zehn davon, ein ganzes Ensemble. In meinen Sachbüchern – etwa über die Tempelritter – sind die Figuren historisch vorgegeben. Andererseits habe ich in beim Verfassen eines Romans mehr Freiheiten. Auch die Freiheit, anhand der fiktionalen Literatur grundlegende Kenntnisse über das Mittelalter zu vermitteln. Wie wurde damals gekämpft? Warum zogen damals Gemeine und Adelige in den Krieg?

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Ja, warum?

Krieg war für König und Adel ein Mittel, Ruhm zu erwerben und Ritterlichkeit zu beweisen. Darüber hinaus dienten Kriege dem Zweck, dynastische Ansprüche durchzusetzen und Land und Geld zu gewinnen. Für einfache Soldaten oder Söldner, wie meine Essex Dogs, war hingegen Geld die Motivation zum Kampf.

Und das eigene Überleben?

Selbstverständlich. Gewöhnliche Menschen wurden immer wieder in Laufe der Jahrhunderte von der Geschichte überwältigt – und verfügten nur über ein geringes Maß an Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Sonderlich viel hat sich seit damals eigentlich nicht geändert. Auch die "Essex Dogs" müssen um ihre Existenz kämpfen.

Anders als manch ältere Geschichtsbücher suggerieren, bestand Krieg nicht nur aus großen Schlachten und Belagerungen. Wie trug es sich tatsächlich zu?

In "Essex Dogs" erstreckt sich die Geschichte von der Landung in der Normandie bis hin zur Schlacht bei Crécy 1346, in der der englische König Eduard III. seinem Rivalen Philipp VI. von Frankreich eine Niederlage zufügte. Aber Sie haben recht. Abseits der Schlachten gab es selbstverständlich Scharmützel und Gefechte, die Soldaten plünderten und brandschatzten. Insgesamt ist der Hundertjährige Krieg spannend, weil es eine Zeit des Übergangs gewesen ist. Das Schießpulver – eine chinesische Erfindung – kam in Europa auf, zugleich befand man sich noch in einer Ära des Kavallerieangriffs.

Sie haben die berittenen und schwer gepanzerten Ritter mit ihren Lanzen einmal als eine Art mittelalterliche Cruise-Missile bezeichnet.

Das waren die Cruise-Missiles des Mittelalters! Wenn ein halbes Dutzend dieser Ritter in Formation auf offenem Feld angriff, konnte nichts sie aufhalten. Zumindest eine Zeit lang.

Warum beschäftigen Sie sich so intensiv mit dem Mittelalter?

Ehrlich? Ich habe mir zuerst keine großen Gedanken darüber gemacht, mein Schullehrer hatte mir ein Studium der Mittelalterlichen Geschichte empfohlen. Als ich dann damit begann, entdeckte ich, wie faszinierend diese Zeit ist. Ich arbeite und schreibe nun seit mehr als 20 Jahren über das Mittelalter und es kommt mir immer vertrauter vor. Tatsächlich denke ich, dass wir aus der Gegenwart und die Menschen von damals ähnlicher sind, als wir das wahrhaben wollen.

Das Mittelalter gilt als ausgesprochen düster und gewalttätig.

Wenn wir das Mittelalter mit dem 20. Jahrhundert vergleichen, hält diese Behauptung der Realität doch nicht stand – denken wir an die Massenmörder Adolf Hitler, Josef Stalin und Pol Pot zum Beispiel. Ja, im Mittelalter erlebte die Menschheit etwa mit den christlichen Kreuzzügen oder den Eroberungszügen des Dschingis Khan einige der barbarischsten und schrecklichsten Zeiten, die sie je erlebt hat. Auf der anderen Seite gab es damals Entwicklungen, die unsere Welt von heute überhaupt erst möglich gemacht haben. Wie etwa die Renaissance.

Ein Vorwurf an der Konzeption des Mittelalters ist der Eurozentrismus. Der Blick sei ausschließlich auf Europa und angrenzende Regionen gerichtet, während Entwicklungen in anderen Teilen der Welt außer Acht gelassen würden. Was halten Sie davon?

In der Geschichtswissenschaft gilt "Eurozentrismus" mittlerweile geradezu als Teufelei. Ich lebe in Europa, Sie leben in Europa: Was ist falsch daran, sich für seine eigene Kultur zu interessieren? Ebenso kann ich mich daneben für außereuropäische Kulturen begeistern. Das Mittelalter ist nun einmal ein europafokussiertes Konzept, das es so in anderen Erdteilen nicht gibt.

Kritik erhalten Sie bisweilen, weil Sie zur Illustration in Ihren historischen Sachbüchern Anspielungen auf die Gegenwart machen. Wie gehen Sie damit um?

Ich verstecke solche Hinweise mittlerweile in den Fußnoten. Aber im Ernst: Warum soll der Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart falsch sein? Wenn man es mit Bedacht angeht, kann es für die Menschen durchaus hilfreich sein: Um zu verstehen, dass vergangene Welten nicht völlig verschieden sind von der unseren. Putin ist ein skrupelloser Eroberer, er ist kaum zu bändigen. Das gab es schon viel zu oft. Donald Trump ist ein ehemaliger Unternehmer, den es in die Politik zog – und der wie schon diverse Vorgänger in den Jahrhunderten mit Vorwürfen des Machtmissbrauchs und der Korruption konfrontiert worden ist.

In Trumps Fall völlig zu Recht.

Absolut. Worauf ich hinaus will: Für vieles von dem, was wir heute für genial oder verwerflich, einzigartig oder bedrohlich halten, gibt es eine historische Entsprechung. In gewisser Weise zumindest. Mancher Herausforderung, wie klimatischen Veränderungen, mussten sich etwa auch schon unsere Vorfahren stellen.

Also sind Sie grundsätzlich hoffnungsvoll, was die Zukunft der Menschheit angeht?

Wir können nicht nur zerstören, sondern auch erschaffen. Als der Schwarze Tod im Mittelalter wütete, starben Millionen. Als das Coronavirus aufkam, hatten wir binnen kürzester Impfstoffe. Es geht also aufwärts.

Eine letzte Frage: In Großbritannien haben Sie den zweiten Band ihrer "Essex Dogs"-Trilogie schon veröffentlicht, die deutschen Leser müssen sich zunächst mit dem ersten begnügen. Wie geht es weiter?

Der nächste Teil handelt von der Belagerung von Calais. Es wird spannend, vertrauen Sie mir!

Herr Jones, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Dan Jones via Videokonferenz
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