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Stolpersteine: Zehntausende Behinderte wurden von den Nazis ermordet


Tagesanbruch
Eine wie Liesel

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 21.02.2019Lesedauer: 7 Min.
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Stolperstein in Berlin-Kleinmachnow.Vergrößern des Bildes
Der Stolperstein für Liesel in Berlin-Kleinmachnow. (Quelle: Florian Harms)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

wir hetzen durch den Alltag, flitzen von A nach B, erledigen hurtig dieses und haken schnell noch jenes ab, ein Dauerlauf von morgens bis abends. Atemlos, Tunnelblick. Mitten auf dem Weg blicken wir zufällig zu Boden – und dann blitzt sie dort in der Sonne, springt uns förmlich an, zwingt uns zum Innehalten: eine kleine quadratische Messingtafel, darauf eingraviert ein Name und Lebensdaten. Mehr als 70.000 Stolpersteine hat der Künstler Gunter Demnig inzwischen im ganzen Bundesgebiet verlegt, um an Menschen zu erinnern, die von den Nazis ermordet wurden: Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Oppositionelle, Kranke und Behinderte.

"Aktion T4" nannten die Nazis ihr Programm zum Massenmord an Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen. "Vernichtung lebensunwerten Lebens" hieß das in ihrer perfiden Diktion. Mehr als 70.000 Menschen schickten sie in Gaskammern, darunter Tausende Kinder. Mein Kollege Marc von Lüpke hat die Hintergründe der “Krankenmorde“ hier beschrieben. Als der Unmut von Angehörigen zu groß wurde, als Kirchenvertreter wie der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, öffentlich protestierten, stoppte Hitler die Aktion – ließ aber im Geheimen weitermorden. Ab August 1941 bis zum Kriegsende wurden zigtausend weitere Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung in Heil- und Pflegeanstalten umgebracht. Ärzte und Pfleger fällten im Einvernehmen die Todesurteile, dann spritzten sie den Patienten tödliche Medikamente oder ließen sie verhungern. Von “wilder Euthanasie“ sprechen Forscher heute. Auf der Sterbeurkunde stand dann meistens eine scheinbar natürliche Todesursache wie “Herzmuskelentartung“.

So wie bei Liesel. Sie war 29, als sie im Oktober 1942 wegen eines “Schwermut“-Anfalls in die Wittenauer Heilstätten in Berlin eingewiesen wurde. “Sie hat von ihrer Reise noch sehr dankbar gesprochen und auch noch kurz, ehe sie wegfuhren, der Mutter gesagt, sie wisse, wie lieb wir sie alle hätten und dass wir ihr viel Gutes getan hätten“, schrieb ihr Vater anschließend in einem Brief an die Familienmitglieder. Sieben Tage nach ihrer Aufnahme wurde Liesel gemeinsam mit 51 weiteren Patienten in die Landesanstalt Neuruppin verlegt. Vier Tage später war sie tot. “Herzmuskelentartung“. Die Sterbeurkunde ist vergilbt, aber noch gut erhalten. Unterzeichnet haben sie ein Standesbeamter und ein Provinzial-Obermedizinalrat, deren Namen ich nicht zu entziffern vermag. Neben ihren Unterschriften prangen der Hakenkreuz-Stempel des Standesamtes Neuruppin und der Stempel des Direktors der Brandenburgischen Landesanstalt Neuruppin. Staatlich organisierter und bescheinigter Mord.

Jahrzehntelang sprach man in meiner Großfamilie kaum über Liesel. Vielleicht war es die Trauer, vielleicht war es die Scham, ihren Tod nicht verhindert zu haben. Vielleicht war es beides. Gestern haben wir das Schweigen öffentlich und gemeinsam gebrochen. Einige von uns kamen aus Süddeutschland, andere aus Berlin, manche aus Uelzen und andere aus Amerika. Wir versammelten uns vor dem prachtvollen Haus in Kleinmachnow, in dem unsere Ahnin Liesel zuletzt gewohnt hatte, wir erinnerten uns an ihr viel zu kurzes Leben und sangen einen Choral. Gunter Demnig hatte einige Mühe, den harten Asphalt aufzuhämmern, aber es gelang ihm. Auf einem von 23 Stolpersteinen in Berlin-Kleinmachnow steht nun Liesels Name. Er soll nie mehr verschwiegen werden. Und wenn die Radler auf dem Fahrradweg nebendran von A nach B flitzen, dann blitzt ihnen eine kleine Messingtafel entgegen. Dann halten sie vielleicht kurz inne und erinnern sich daran, wie viele einst in unserem Land lebten, die plötzlich nicht mehr weiterleben durften. Und dass es uns obliegt, eine Wiederholung solchen Grauens zu verhindern.


Einladung zum Weiterwursteln

Nun also doch noch die Einigung: Bund und Länder haben ihren Streit um den Digitalpakt für Schulen beigelegt. Das stimmt uns positiv – einerseits. Schon heute soll der Bundestag über die nötige Grundgesetzänderung abstimmen, der Bundesrat folgt Mitte März. Fünf Milliarden Euro fließen in den kommenden fünf Jahren in die Schulen, um WLAN-Netze, Whiteboards, digitale Lernprogramme und Systemadministratoren zu bezahlen. So der Plan. Von einem “guten Tag“ reden sie jetzt in Berlin und davon, dass es bei der Einigung nur Gewinner gebe.

Das allerdings möchte ich in Zweifel ziehen. Denn es gibt bei dieser Einigung auch ein Andererseits. Sie ist nur zustande gekommen, weil der Bund den Ländern weit, sehr weit entgegengekommen ist, nachdem Baden-Württembergs König Kretschmann wütend sein Zepterle schwenkte. Das ist per se nichts Schlechtes, Kompromisse sind in unserem föderalen System unabdingbar. Allerdings kommt es auf deren Details an. Und da wird es kritisch.

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Ursprünglich wollte der Bund seine Kompetenzen auf die Bildungspolitik ausdehnen und mitbestimmen, wie genau das viele Geld verwendet wird – und so verhindern, dass es für das Stopfen von Haushaltslöchern in klammen Kommunen zweckentfremdet wird. Das ist vom Tisch, die Länder entscheiden wie bisher weitgehend selbst. In Bundesländern mit hervorragendem Bildungssystem, wie Baden-Württemberg, Sachsen, Thüringen oder Bayern, ist das kein Problem; die wissen, wie der Hase läuft. Aber die Gefahr ist groß, dass die abgehängten Länder – Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und vor allem die Stadtstaaten Berlin und Bremen – nun wie bisher weiterwursteln dürfen. Dass also das Bildungsgefälle in Deutschland noch weiter kippt. Schon jetzt sind beispielsweise Abiturienten in Bayern und Sachsen beim Wissensstand den Gymnasiasten in Bremen um zwei Jahre voraus. Das ist nicht einfach nur eine Folge regionaler Unterschiede in der Wirtschaftskraft, den Bevölkerungsschichten und den Landesregierungen, das ist das Elend des Flickenteppichs in der deutschen Bildungspolitik. In der Theorie soll er die Konkurrenz zwischen den Ländern anstacheln und so das Gesamtniveau heben. In der Praxis hat er eine Gesellschaft von Bildungsgewinnern und Bildungsverlierern geschaffen. Und der vielgelobte Digitalpakt Schule wird daran kaum etwas ändern.


Außerdem beschließt der Bundestag heute voraussichtlich das geänderte Werbeverbot für Abtreibungen (Paragraf 219a), auf das sich Union und SPD geeinigt haben. Künftig sollen Ärzte darüber informieren dürfen, dass sie Abtreibungen vornehmen. Für weitergehende Informationen müssen sie aber auf Behörden und Beratungsstellen verweisen.

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Im Vatikan lädt Papst Franziskus heute zum Gipfeltreffen, um den Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und anderen Schutzbefohlenen aufzuarbeiten. Die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche ist durch unzählige Missbrauchsskandale inzwischen so sehr erschüttert, dass manche Beobachter meinen, sie werde sich nie mehr davon erholen. In jedem Fall wird die heutige Konferenz als wegweisend für das Pontifikat von Papst Franziskus angesehen. Der erste Tag steht unter dem Motto “Verantwortung“. Das macht Hoffnung auf eine ehrliche Aufarbeitung. Ob sie erfüllt wird, steht auf einem anderen Blatt.


Auch im Bistum Augsburg geht es um Missbrauch. Vor knapp einem Jahr wurden zahlreiche Fälle körperlicher und sexueller Gewalt in einem Kinderheim in Donauwörth bekannt. Eine Arbeitsgruppe hat sie dokumentiert, heute stellt sie ihre Ergebnisse vor.


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfängt heute den lettischen Präsidenten Raimonds Vejonis und ehrt ihn abends mit einem Staatsbankett, zu dem auch deutsche Bürger eingeladen sind. Bin gespannt auf den Nachtisch.


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet heute über die Beschwerde von fünf türkischen Staatsbürgern gegen den geplanten Bau des riesigen Ilisu-Staudamms. Dadurch würden die Häuser der Siedlung Hasankeyf überflutet – und zahlreiche Kulturschätze unter den Wassermassen verschwinden. Die Kläger sehen das Menschenrecht auf Bildung für kommende Generationen verletzt. Das Urteil könnte deshalb wegweisend sein.


Das Landgericht Stuttgart verkündet heute sein Urteil im Prozess gegen ehemalige Mitarbeiter des Waffenherstellers Heckler & Koch. Es geht um Verstöße gegen das Kriegswaffenkontroll- und Außenwirtschaftsgesetz durch die Lieferung von mehreren Tausend G36-Sturmgewehren nach Mexiko. Die Waffen wurden in Unruhe-Provinzen eingesetzt, wo sie laut Ausfuhrgenehmigung gar nicht hätten sein dürfen.


WAS LESEN?

Seit anderthalb Jahren empfehle ich Ihnen an dieser Stelle lesenswerte Texte anderer Journalisten. Heute erlaube ich mir einen kleinen Hinweis in eigener Sache, denn heute erscheint mein Roman. “Versuchung“ heißt er und handelt von der Jagd auf den besten Geschmack der Welt: Er ist so intensiv, dass jeder, der von ihm kostet, sofort süchtig wird. Als ein Schweizer Lebensmittelkonzern zufällig in den Besitz des Aromas gelangt, beginnt der Wettlauf um das größte Geschäft aller Zeiten. Er führt nach Marokko, Tunesien, Libyen und Syrien, aber auch nach Berlin, Hamburg, Straßburg und Freiburg, und er offenbart die Abgründe der menschlichen Seele ebenso wie die Wurzeln der Konflikte zwischen Orient und Okzident. Ein Sohn, der seinen Vater sucht, ein Ermittler, der einen Agenten aufspüren soll, ein Offizier des deutschen Afrikakorps, der 1941 in der Sahara kämpft, eine Flugzeugingenieurin, die einem Geheimdienst auf die Schliche kommt, eine Scharfschützin, die in die Abgründe des libanesischen Bürgerkriegs schlittert, ein begnadeter Koch, der mit seinen Rezepten den Himmel auf Erden erschaffen kann – und das größte Geheimnis der Welt: Wer es kennt, beherrscht die Menschen und die Liebe. All das und noch mehr steckt in “Versuchung“. Wenn Sie das reizt (und das ist jetzt eine ANZEIGE), können Sie das Buch ab heute in jeder Buchhandlung oder hier bei Amazon erwerben.


Er kaufte sich eine teure Limousine, ließ sie aber schon nach einer Woche in der Garage stehen, weil sie ihm peinlich war. Er hat so viel Geld verdient, dass er sich nie mehr finanzielle Sorgen machen muss, aber bezeichnet sich selbst als "kniepig", was man andernorts wohl mit “knickrig“ oder “knausrig“ übersetzen würde. Er weiß, dass viele Sportler seinesgleichen als unpolitisch gelten, aber er selbst hört politische Podcasts über die Grundrente. Und jetzt gibt er Im Interview mit meinem Kollegen Robert Hiersemann tiefe Einblicke in das Leben eines Profifußballers: “Geld macht definitiv nicht glücklich.“ Hier lesen Sie die wirklich interessanten Gedanken eines deutschen Weltmeisters und Millionärs.


WAS AMÜSIERT MICH?

Es ist ein einfaches Spiel und enorm entspannend: Man steht an einem stillen See, wirft einen flachen Stein und lässt ihn über die Wasseroberfläche hüpfen. Dreimal, viermal, öfter? Oder macht es sofort "plopp", und weg ist er? Wie auch immer, ist jedenfalls eine schöne, schlichte Freude. Und wissen Sie was? Die gönnen wir uns hier und jetzt. Allerdings mit Autos. (Na gut, "entspannend" ist dann vielleicht nicht mehr das passende Wort.)

Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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