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Ukraine: Russland greift Energieinfrastruktur an – Das steckt dahinter


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Stromausfälle in der Ukraine
Kurz vor dem Kollaps


28.11.2024Lesedauer: 4 Min.
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Ukrainer sitzen in sicheren Räumen und warten auf das Ende des Luftalarms. (Quelle: reuters)

Russland weitet seine Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur aus. Der dritte Kriegswinter könnte für Millionen Zivilisten katastrophal werden.

Im Winter wird es in der Ukraine sehr kalt. Die durchschnittlichen Temperaturen liegen von Dezember bis März zwischen zwei und minus fünf Grad, doch sie können bis unter minus 20 Grad fallen. Dagegen hilft nur Heizen. Doch seit Beginn der russischen Invasion wurde ein Großteil der ukrainischen Energieinfrastruktur zerstört. Jetzt eskaliert Putin diese Angriffe. Dahinter steckt eine verbrecherische Kalkulation.

Nach massiven russischen Luftangriffen in der Nacht zum Donnerstag sind eine Million Menschen in der Ukraine ohne Strom. Über das ganze Land verteilt waren Hunderttausende Ukrainer von der Stromversorgung abgeschnitten, teilten die örtlichen Behörden mit. Es ist bereits der zweite große russische Luftangriff auf die ukrainische Energieinfrastruktur in diesem Monat.

Putins Vergeltung

Seit der russischen Invasion im Jahr 2022 hat sich der Luftkrieg zwischen den beiden Ländern zunehmend verschärft. Jede Nacht beschießen sich die Ukraine und Russland mit Hunderten Drohnen und Raketen, die oft nur teilweise von Abwehrsystemen abgefangen werden. Nun hat Russland den Beschuss noch deutlich verschärft. Zuletzt setzte das Land knapp 200 Drohnen an einem Tag ein – die Ukraine sprach von einem Rekord.

Wladimir Putin erklärte den jüngsten Angriff mit Kiews Einsatz von US-amerikanischen und britischen weitreichenden Waffen, für die Washington und London vergangene Woche die Freigabe zum Einsatz gegen Ziele in Russland erteilt hatten. Auch den Einsatz einer neuartigen Mittelstreckenrakete gegen die Ukraine hatte Putin bereits vergangene Woche mit diesem Schritt begründet.

Dieses Narrativ ist nicht neu. Schon zuvor hat der Kreml Angriffe auf Infrastruktur als Vergeltung für ukrainische Aktionen im Krieg bezeichnet. So begründete der Kreml massive Bombardements von zivilen Zielen auch mit der ukrainischen Invasion von Kursk Anfang August oder der Beschädigung der Krim-Brücke im Jahr 2023. Das Narrativ der Vergeltung soll jedoch nur über die tatsächlichen Hintergründe der Angriffe hinwegtäuschen.

Angriffe gelten als Kriegsverbrechen

Russland führt seit Beginn des Krieges systematische Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine durch. Vorrangiges Ziel ist, die Zivilbevölkerung zu destabilisieren und ihren Widerstandswillen zu brechen. Durch die Zerstörung von Strom- und Wärmeversorgung sollen die Lebensbedingungen verschlechtert und die Moral der Bevölkerung geschwächt werden, insbesondere während der kalten Wintermonate. Diese Taktik zielt darauf ab, den Druck auf die ukrainische Regierung zu erhöhen. Solche Angriffe auf zivile Infrastruktur werden international als Kriegsverbrechen verurteilt.

Bei den Angriffen werden immer wieder Elektrizitätswerke, Wärmekraftanlagen, Gas- und Wasserinfrastruktur sowie Umspannwerke und Energieleitungen getroffen. Die Folgen sind verheerend. In den ersten beiden Kriegsjahren wurde etwa die Hälfte der Kapazität zur Stromerzeugung sowie die Hälfte aller Umspannwerke zerstört, beschädigt oder von russischen Streitkräften besetzt.

"Inzwischen wurden 65 Prozent der ukrainischen Energieproduktion zerstört", sagt Matthias Schmale, UN-Koordinator für humanitäre Hilfe in der Ukraine, der Plattform "Voice of America". Die systematischen Angriffe im Winter seien ein großes Risiko, "vor allem für vulnerable Menschen, die bei Stromausfällen tagelang Minusgraden ausgesetzt sind", so Schmale.

Die wirtschaftlichen Folgen

Die Krise hat die Nutzung von Energie in der Ukraine fundamental verändert. Der Stromverbrauch der Industrie ging um die Hälfte zurück, der Verbrauch von Privathaushalten sank um 20 Prozent. Immer wieder haben Betreiber den Strom selbst abgeschaltet. Das war im Sommer möglich, doch lässt sich im Winter kaum vertreten.

Die ökonomischen Auswirkungen der Angriffe sind immens. Allein die Schäden im Stromsektor beliefen sich bis Mitte 2024 auf über 11,4 Milliarden US-Dollar. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass die Wiederherstellung rund 30 Milliarden US-Dollar kosten würde. Der nationale Stromnetzbetreiber Ukrenergo steht aufgrund der hohen Reparaturkosten sowie wegen Einnahmeverlusten vor dem Bankrott. Das staatliche Unternehmen musste beträchtliche Schulden aufnehmen, die den sowieso schon strapazierten Haushalt zu überlasten drohen.

Doch die Energieversorgung ist überlebensnotwendig. Deshalb hat sich der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, wiederholt für die Wiederherstellung von zerstörten Energieanlagen eingesetzt. Das haben Deutschland, die Vereinigten Staaten und andere Verbündete der Ukraine unterstützt und seit Beginn des Krieges ungefähr zwei Milliarden Euro Hilfen für das Energienetz gezahlt.

Gigantisches Defizit in der Stromerzeugung

Doch die Reparatur von Großanlagen ist langwierig. Und selbst wenn sie wieder am Netz sind, könnten sie erneut Ziel von Russlands Angriffen werden. Deshalb gestaltet die Ukraine ihren Energiesektor derzeit radikal um. Um zerstörte Punkte des Netzes zu umgehen, setzt das Land auf dezentrale Stromerzeugung und hat Photovoltaik-Anlagen massiv ausgebaut.

Zudem wurde die Ukraine an das europäische Stromnetz angeschlossen und hat dadurch Zugang zu bis zu 1,7 Gigawatt Importstrom. Doch trotz dieser Hilfen sieht es vor dem dritten Kriegswinter außerordentlich schlecht aus. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt den ukrainischen Strombedarf in diesem Winter auf 18,5 Gigawatt. Das Land hat nach IEA-Angaben wohl derzeit noch eine Kapazität zur Stromerzeugung von zwölf bis 13 Gigawatt übrig. Es bleibt also ein Defizit von ungefähr 6 Gigawatt bestehen.

Für die Menschen in der Ukraine bedeutet dies Dunkelheit, Kälte und extrem schwere Lebensbedingungen. Doch ob das wirklich die Moral der Zivilbevölkerung schmälert und die Ukraine zum Aufgeben zwingt, ist mehr als fraglich. Der Wille, das Land gegen die Invasoren zu verteidigen, scheint weiterhin ungebrochen. Der Preis dafür ist jedoch ohnehin schon hoch – und könnte in den nächsten Monaten noch deutlich höher werden. Denn Putin schreckt vor weiteren Kriegsverbrechen nicht zurück.

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