Virologe Alexander Kekulé "Wir haben einen Fehler nach dem anderen gemacht"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschland hat in der Corona-Pandemie versagt, kritisiert Alexander Kekulé. Im Interview erklärt er, wie man Lockdowns hätte vermeiden können und schlägt einen anderen Umgang mit Corona-Leugnern vor.
War der Teil-Lockdown in Deutschland richtig? Welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um die Infektionszahlen unter Kontrolle zu bringen? Und wie können wir trotz Corona Weihnachten mit der Familie feiern? Diese und weitere Fragen beantwortet der Virologe Alexander Kekulé im Interview mit t-online.
t-online: Herr Kekulé, Sie waren mehrere Monate mehr oder weniger von der öffentlichen Bildfläche verschwunden. Warum?
Alexander Kekulé: Der Grund dafür war das Buch, das ich geschrieben habe. Und ehrlich gesagt war ich um die mediale Auszeit ganz froh. Mir gehen die ständig schlimmer werdenden Nachrichten zur Corona-Pandemie auch auf die Nerven.
Inwiefern?
Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit solchen Ausbrüchen. Es ist aber ein riesiger Unterschied, ob Sie in ferne Länder fliegen, um die Epidemien vor Ort zu untersuchen und wieder nach Hause in die heile Welt fahren oder ob ein Virus einen zu Hause bei der Familie heimsucht.
Wie groß sind eigentlich Ihr persönlicher Frust und Ihre Ängste angesichts der unklaren Entwicklung der Pandemie?
Es gibt zum einen die private Situation, dass man sich und seine Familie vor dem Virus schützen muss. Da geht es mir aber besser als anderen, die weniger Platz zu Hause oder nicht die Möglichkeit haben, von zu Hause aus zu arbeiten. Lehrer, Gaststättenbetreiber, Künstler – die trifft es viel härter.
Als Politikberater bin ich natürlich nicht sehr glücklich darüber, dass wir in Europa und auch in Deutschland einen Fehler nach dem anderen gemacht haben. Die europäischen Staaten – aber auch die USA – haben in dieser Krise versagt.
Wie stehen Sie denn zu den aktuellen Maßnahmen im Teillockdown und Forderungen nach schärferen Einschränkungen? Der Corona-Gipfel wurde ja vorerst verschoben.
Es war deprimierend zu sehen, wie die Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin lange zusammensitzen und dann hinterher die Artisten ratlos unter der Zirkuskuppel stehen. Als Fachmann hat man natürlich Ideen, wie man die Probleme angehen könnte. Wahrscheinlich geht es vielen meiner Kollegen so. Aber wenn am Ende nichts entschieden wird und die Menschen darunter leiden und zum Beispiel in finanzielle Not kommen, ist das nicht gut für unser Land.
Spätestens jetzt wird deutlich: Man hat sich auf den Herbst nicht ausreichend vorbereitet. Alle Virologen waren sich einig darüber, dass wir im Sommer eine Entlastung bei den Infektionszahlen erleben und es im Herbst wieder schlimmer wird. Denn letztlich verhält sich das Coronavirus wie ein Erkältungsvirus. Die Politik hat aber offenbar trotzdem gehofft, dass die vorhergesagte Verschlimmerung nicht eintreten würde. Anfang November gab es dann keine Alternative mehr zu einem Lockdown.
Prof. Dr. Alexander S. Kekulé
ist Professor für Medizinische Mikrobiologie und Virologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle (Saale).
Seine Forschungsschwerpunkte sind Infektionskrankheiten, Pandemieplanung und Bevölkerungsschutz.
Sie halten den Teil-Lockdown also für richtig? Eigentlich kritisieren Sie seit Langem, dass bei den Corona-Maßnahmen ein Wechsel zwischen Bremsen und Beschleunigen keine langfristige Strategie ist ...
Dieser Lockdown und auch der im Frühjahr wären vermeidbar gewesen. Aber wenn man im Vorfeld kein gutes Konzept hat, um die Pandemie kontinuierlich zu bekämpfen, muss man eben irgendwann in den Lockdown gehen, wenn die Infektionszahlen drastisch ansteigen. In dieser Lage war ich auch dafür. Und es war grundsätzlich auch richtig, keinen vollen Lockdown zu machen, sondern nur teilweise auf die Bremse zu treten. Das wurde allerdings nicht sehr differenziert gemacht – man hätte beispielsweise nicht alle Gaststätten schließen müssen.
Nach zwei Wochen sieht man jetzt: Ja, der Lockdown wirkt – aber noch nicht genug. Das war sicher auch den Politikern beim letzten Corona-Gipfel klar.
Aber die Meinungen gehen nicht alle immer zusammen ...
Ich glaube nicht, dass es bei der wissenschaftlichen Interpretation unterschiedliche Blickwinkel zwischen der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten gab. Die Fakten lagen auf dem Tisch: Der Lockdown reicht so nicht. Es gab nur bei der politischen Frage nach den richtigen Maßnahmen unterschiedliche Meinungen. Deshalb wurde entschieden, dass man noch zehn Tage wartet.
Ein fataler Fehler?
Natürlich. Als Virologe kann ich nur zurückgeben: Das Virus wartet nicht. Es wird sich weiter ausbreiten und in zehn Tagen wird die Lage nicht einfacher sein, weil die Wirkung des Lockdowns auf diesem Niveau bleiben wird. Man hätte also die Maßnahmen sofort verschärfen müssen.
Was heißt "verschärfen" konkret?
Da gibt es verschiedene Ansätze. Erstens würde ich bundesweit durchsetzen, dass immer Masken getragen werden, wenn Menschen aus verschiedenen Haushalten in geschlossenen Räumen zusammen sind. Zumindest, wenn sie mehr als ein paar Minuten zusammentreffen.
In vielen Geschäften sieht man Mitarbeiter ohne Maske hinter der Plexiglasscheibe. In einigen Bundesländern tragen Taxifahrer eine Maske – in anderen nicht. Und so mancher Postzusteller trägt keine Maske, wenn er durch das Treppenhaus läuft. Dabei produziert er Aerosole, insbesondere wenn er es eilig hat und aus der Puste ist. Dadurch kann sich etwa eine alte Dame infizieren, wenn sie danach ohne Maske durch das Treppenhaus geht.
Die Maskenpflicht noch einmal nachzuschärfen würde sehr viel bringen. Zweitens funktionieren die Kontaktbeschränkungen offensichtlich nicht.
Aber angeordnet sind die ja. Woran hapert es also?
Ich denke, wir haben einen Teil der Bevölkerung bei diesen Maßnahmen verloren. Klar kann man sagen, statt zehn Personen dürfen sich jetzt nur noch fünf treffen – das wäre epidemiologisch sinnvoll. Aber denjenigen, die sich sowieso nicht daran halten, dürfte das auch egal sein. Man muss hier sicher noch mehr Überzeugungsarbeit leisten.
Wie?
Es gilt, den Leuten klarzumachen: Die Lage ist wahnsinnig ernst. Aber wie soll der Bürger das nachvollziehen, wenn die Politik selbst kein starkes Signal sendet und sich nicht einmal die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten einigen können?
In Ihrem neuen Buch "Der Corona-Kompass" erklären Sie anschaulich, was Viren sind und welche Bedrohungen von ihnen ausgehen. Wie gefährdet fühlen Sie sich selbst von SARS-CoV-2?
Als Virologe und Mikrobiologe habe ich keine Angst. Ich habe mit solchen Erregern oft zu tun. Das ist wahrscheinlich ähnlich wie bei jemandem, der Giftschlangen züchtet. Der weiß genau, wie man sie anfassen muss, um nicht gebissen zu werden. Bei Viren ist es so, dass jede Art ihre Spezialitäten hat. Wenn man die kennt, kann man sich schützen.
Und wie schützen Sie sich persönlich?
In meiner Familie halten wir uns an die empfohlenen Regeln. Jedes Mal, wenn ich fliege oder mit dem Zug fahre, trage ich eine FFP2-Maske. Das Gleiche gilt für Prüfungstermine mit Studenten. Den ganzen Tag die Maske zu tragen ist anstrengend, klar. Da kann einem abends der Hals wehtun – auch ganz ohne Corona-Infektion. Aber die Schutzwirkung ist entscheidend.
Nur eine Maske im Alltag zu tragen, genügt aber auch nicht als Schutz.
Egal wie akribisch man ist – jeder hat eine offene Flanke. Ich habe Kinder im Kita- und Grundschulalter. Da wird aber – entgegen meiner Empfehlungen – nicht getestet. Die Kinder sind den ganzen Tag zusammen und es gibt Eltern, die die Maßnahmen weniger ernst nehmen als wir. Dann ist man unmittelbar infektionsgefährdet und wird vom Staat dem Risiko einfach ausgesetzt.
Apropos Kinder: Würden Sie die Schulen schließen lassen?
Das Schulthema ist die schwierigste Frage von allen. Aus epidemiologischer Sicht ist das eindeutig: Spätestens ab der Sekundarstufe können Schüler Ausbrüche verursachen. Sie übertragen das Coronavirus untereinander, sie können Erwachsene anstecken. Das haben wir schon in den USA und Israel gesehen, nun auch in Deutschland. Ich würde darum, wo das möglich ist, nach der Grundschule die Klassen halbieren und den sogenannten hybriden Unterricht einführen. Aber das geht natürlich nicht überall.
Viele Menschen schauen besorgt auf Weihnachten. Aber dass wir alle auf dieses Familienfest verzichten ist illusorisch, oder?
Ich gehe davon aus, dass sich die Menschen Weihnachten nicht verbieten lassen werden. Und kein Politiker will dies anordnen, keiner will der "Grinch" sein.
Mein Vorschlag ist, dass die Sekundarstufen eine Woche vorher in die Weihnachtsferien gehen. Anders kann man nicht verhindern, dass Schüler sich kurz vor Weihnachten noch anstecken. Sonst befürchte ich, dass wir über die Feiertage ein massives Infektionsgeschehen durch private Feiern bekommen und im Winter die Krankenhäuser voll sind.
Haben Sie eine persönliche Strategie, wie Sie trotz allem Weihnachten in der Familie feiern können?
Wir feiern Weihnachten wie immer – nur dass wir eine Woche vorher in eine Art private Quarantäne gehen und an Heilig Abend einen Schnelltest machen.
Die Vorquarantäne vor Weihnachten hat ja auch Christian Drosten schon in seinem Podcast empfohlen ...
Dann wird er wahrscheinlich auch meinem Vorschlag für vorgezogene Weihnachtsferien zustimmen, weil es ja eine gesetzliche Schulpflicht gibt. Unter Vorquarantäne, wenn Sie es so nennen wollen, verstehe ich nicht, dass man nur zu Hause bleibt, sondern dass man besonders riskante Situationen meidet. Ich treffe dann beispielsweise keine Studenten mehr, behandle keine Patienten persönlich und verreise nicht mehr.
Damit minimiere ich mein Risiko so weit, dass ich mich an Weihnachten auch mit meiner Mutter treffen kann. Wie weit man sich hier zurücknimmt, sollte jeder privat für sich entscheiden.
Allerdings gibt es viele Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, eine Woche vorher frei zu nehmen oder im Homeoffice zu arbeiten. Für die bleibt es problematisch.
Das ist ein wichtiger Punkt, denn das trifft die Menschen ungleich. Trotz des Lockdowns kommt es ja weiter zu Infektionen. Aktuelle Studien aus den USA zeigen, dass davon hauptsächlich sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen betroffen sind. Die können oft nicht wie Wissenschaftler oder Journalisten eine Weile von zu Hause arbeiten. Wenn Sie auf der Baustelle oder in der Produktion tätig sind, müssen Sie physisch anwesend sein. Hier kommt es darauf an, ob man vom Arbeitgeber Urlaub bekommt – und das geht natürlich nicht für alle.
Manche Menschen empfinden die Maßnahmen als sinnlos und versammeln sich bei Demonstrationen wie kürzlich in Berlin. Darunter auch Corona-Leugner, die das Virus nicht ernst nehmen. Was haben Sie denen zu entgegnen?
Dass Leute sagen, das Virus gibt es gar nicht, gab es schon bei Aids oder auch bei Zika, das vor einiger Zeit in Brasilien grassierte. Ein harter Kern von denen ist unverbesserlich. Die werden wir nicht erreichen können.
Die Frage ist, wie geht man mit der restlichen, heterogenen Gesellschaft um, ohne totalitär zu werden wie in China? Ich meine: Man muss erklären, warum man etwas macht und welches Konzept hinter den Maßnahmen steht. Ich bin überzeugt, dass man damit die allermeisten Leute in Deutschland auch erreichen würde. Das Buch habe ich insbesondere deshalb geschrieben, damit sich Menschen selbst ein Bild davon machen können, welche Maßnahmen sinnvoll sind und wie gefährlich das Virus wirklich ist.
Was muss vonseiten der Politik passieren?
Die Politik muss ihre Strategie erklären und wissenschaftlich begründen. Das hat sie von Anfang an nicht ausreichend gemacht. Es wird kaum erklärt, warum man eine Maßnahme ergreift. Zum Beispiel wurde nicht erläutert, warum alle Gaststätten geschlossen wurden.
Die Kanzlerin hat selbst gesagt: Ich weiß, das ist für viele unverständlich. Das reicht aber nicht. Man hätte erklären müssen, warum das wissenschaftlich nötig war. Übrigens kommt man bei solchen Erklärungsversuchen mitunter selbst darauf, dass die eine oder andere Maßnahme gar nicht schlüssig begründbar ist.
Und was ist mit den Corona-Leugnern, die womöglich gar keine Lust haben, das wissenschaftlich nachzuvollziehen?
Mit den Argumenten der Leugner sollte man offen umgehen. Die könnte man ruhig einmal zu einem Streitgespräch mit einem seriösen Experten einladen. Allerdings wird eine Gesellschaft, in der sich 85 Prozent an die Regeln halten, letztlich mit 15 Prozent Quertreibern auch klarkommen. Dabei ist es epidemiologisch völlig egal, warum die sich nicht an die Maßnahmen halten. Die einen glauben an Verschwörungstheorien, die anderen machen einfach nur Fehler oder haben etwas nicht ganz verstanden.
Wir sollten also einen gewissen Anteil an Gegnern einfach hinnehmen?
Ich bin jedenfalls dagegen, die Leute, die sich nicht an die Maßnahmen halten, zu verteufeln. Das verhärtet nur die Fronten. Wir müssen ja nicht nur mit dem Virus, sondern auch miteinander noch eine ganze Weile klarkommen.
Wir danken für das Gespräch, Herr Kekulé!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Eigenes Interview per Telefon mit Alexander Kekulé