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Ukraine-Konflikt: Wird diese Fabrikruine für Putin zur Gefahr?


Im Video: Ukrainer proben Ernstfall
"Ich weiß, dass Deutsche das nicht gerne hören"

  • Daniel Mützel
Von D. Mützel und M. Hübner (Video & Fotos), Kiew

Aktualisiert am 02.02.2022Lesedauer: 5 Min.
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Ukraine: In einer alten Fabrikanlage aus Sowjetzeiten nahe Kiew üben Zivilisten für den Ernstfall. t-online ist vor Ort, um mit ihnen zu sprechen. (Quelle: t-online)

Die Gefahr eines russischen Einmarschs in der Ukraine ist hoch. In einer alten Fabrikanlage aus Sowjetzeiten nahe Kiew wollen sich Architekten, Lehrer und Frisöre Putins Armee in den Weg stellen.

Olga und ihr Mörsertrupp stehen im Schnee und überlegen, wie sie einen russischen Panzer ausschalten. Ihre Waffen: ein braunes Kartenheft, Lineal, Kompass, Taschenrechner und ein Richtkreis, eine Art Stativ mit Fernrohr und Winkelmesser.

"Old school!", grinst Olgas Kamerad Serhiy, aber mit einem großen Vorteil: Weil das Messgerät komplett mechanisch arbeitet, könnten ihm die GPS-Störsender der Russen nichts anhaben. Die ukrainische Artillerie hätte freie Schussbahn.

Olga und die drei Panzerknacker üben für den Moment, in dem ihr größter Albtraum wahr werden könnte: eine groß angelegte russische Invasion ihres Heimatlandes. "Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet", sagt Olga.


Die Frisörin aus Kiew gehört zum 130. Territorialen Verteidigungsbataillon, das jeden Samstag in einem Autokorso die Stadt verlässt, um sich in Gestrüpp und Fabrikruinen aus der Sowjetzeit für den Ernstfall zu wappnen. An diesem Tag sind es rund 100 Männer und Frauen, die bei peitschendem Wind und Minusgraden ihr Kampftraining absolvieren.

Trotz des ernsten Anlasses wirken viele Kämpfer gelassen. Gelegentlich brüllt der Kommandant über die verschneite Wiese, dann hüpfen Dutzende Lehrer, Frisöre und Investmentbanker in die Luft, kneten zum Warm-up ihre Hände, zielen mit der Maschinenpistole auf ein Büschel Gras oder werfen sich auf die gefrorene Erde. Manche haben ihre eigene Uniform mitgebracht, geschmückt mit Aufnähern von Comic-Figuren oder dem umstrittenen Nationalhelden Stepan Bandera.

Die Territorialen Verteidigungskräfte (TDF) gehören offiziell zur ukrainischen Armee, doch viele sind Freiwillige ohne Kampferfahrung. Zivilisten, die ihren Alltag leben, und am Wochenende mit Uniform und Gewehr den Krieg mit Russland proben.

Anhaltend hohe Kriegsgefahr

Obwohl die ukrainischen Streitkräfte mit rund 250.000 Mann deutlich an Kampfstärke hinzugewonnen haben, wären sie einer einfallenden Kreml-Armee chancenlos unterlegen. Aus Sicht der Regierung sollen die Reservistenverbände nicht nur zusätzliche Feuerkraft bringen, sondern auch eine Botschaft an Moskau senden: Die Ukraine wird sich mit aller Macht verteidigen.

Die Gefahr einer russischen Invasion ist anhaltend hoch. Präsident Wladimir Putin hat rund 100.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen, flankiert von Panzern, Helikoptern und Flugabwehrsystemen. Obwohl die diplomatischen Kanäle heiß laufen und alle Beteiligten nach außen hin auf Dialog pochen, dreht der Kreml weiter an der Eskalationsschraube: Zuletzt hat die russische Armee an der Grenze ihre Vorräte an Blutkonserven aufgestockt, um in einem möglichen Gefecht Verwundete versorgen zu können, berichten US-Medien.

Nach Einschätzung der Biden-Administration hätte Putin nun alles beisammen für eine Offensive. Doch auch wenn eine Invasion ausbleiben sollte, drohten "provokante politische Aktionen", befürchtet Washington, etwa die Annexion weiterer ukrainischer Gebiete.

"Das hören die Deutschen nicht so gern"

Zweifellos wäre ein groß angelegter Feldzug gegen ukrainische Städte die blutigste Variante, die wohl erbitterte Häuserkämpfe und viele Todesopfer nach sich ziehen würde. Für die Reservisten des 130. Verteidigungsbattaillons wie den 33-jährigen Iwan ist das ein Horrorszenario, das sie verhindern wollen.

Iwan ist eigentlich Kaufmann. Von Montag bis Freitag arbeitet er in seinem Büro in Kiew, verkauft Brennholz nach Europa oder Wodka in den Nahen Osten. Doch jeden Samstag schlüpft er in seine Uniform und fährt in das Waldgebiet nahe der Hauptstadt.

Um seine Brust hat er sein privates Tablet geschnallt, auf das er neben WhatsApp und YouTube auch eine App für Artillerieschläge installiert hat.

"Da ist alles drauf: Karten, die Standorte der ukrainischen Armee, zur Verfügung stehende Artilleriegeschütze. Damit kann ich meiner Artillerie-Brigade in Nullkommanichts die nötigen Infos durchgeben, damit die einen russischen Panzer niederschlägt."

Iwan spricht Deutsch, das er sich als reisender Kaufmann selbst beigebracht hat. Seine Geschäfte brachten ihn nach Köln und München, vor Jahren hat er vor allem Brennholz und Bier nach Deutschland exportiert. "Ukrainisches Zibert-Bier, ein süffiges Helles. Kennst du vielleicht aus der Supermarktkette Norma."

Der Artillerieoffizier macht für die aktuelle Eskalation vor allem wirtschaftliche Gründe verantwortlich. Putins Hauptinteresse seien die Erträge aus dem Gasverkauf, an denen er die Ukraine nicht mehr beteiligen wolle.

"Ich weiß, dass manche Deutsche das nicht gern hören, aber Nord Stream 2 muss gestoppt werden." Sobald durch die neue Ostsee-Pipeline Gas fließe, brauche Putin die Pipelines, die durch die Ukraine laufen, nicht mehr.

In Iwans Stimme schwingt tiefe Entschlossenheit mit, die in manchen Momenten fast wie eine schaurige Art der Vorfreude wirkt. Vielleicht ist es auch der Wunsch, dass es irgendwann vorbei ist, das ständige Säbelrasseln aus Moskau, die Anspannung, die Ohnmacht. Fast acht Jahre geht es für ihn schon so. "Ich habe 2014 und 2015 den Flughafen Donezk gegen prorussische Kräfte verteidigt." Damals habe er noch Angst gehabt, heute nicht mehr.

Er sei bereit für die letzte Schlacht, sagt Iwan. "Wie sagen die Japaner? Leb, als ob du tot wärst."

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"Sagen Sie das nicht meiner Frau"

Das gilt keineswegs für alle hier. Manche Gesichter zeugen von Furcht, andere von Langeweile. Ein älterer Herr mit grauen Bartstoppeln hält sein "Gewehr" – eine Attrappe aus dürrem Holz – so wackelig, dass der nächste Windstoß es ihm aus der Hand wehen könnte.

Mit seinen eingefallenen Backen und der viel zu großen Jacke wirkt er wie ein Statist in einem Film, für den er nie vorgesehen war, dessen Drehbuch er nicht kennt – und der ihn vielleicht das Leben kostet.

Auch Yuri gehört nicht zu der Sorte Kämpfer, die innerlich schon ihr Testament geschrieben haben. "Ich will nicht sterben. Ich würde meinem Land lieber den Sieg bringen und überleben. Genau deswegen bin ich hier."

Im zivilen Leben ist Yuri Historiker an der Nationalen Universität der Ukraine für physische Bildung und Sport, erzählt er erschöpft bei einer Übungspause. Das Sturmgewehr auf seinem Schoß habe er selbst gekauft und dafür heimlich eine Hypothek auf sein Haus aufgenommen. "Aber sagen Sie das nicht meiner Frau", grinst er.

Der Reservist mit einem Doktor in Geschichtswissenschaft schaut pessimistisch auf die nächsten Wochen. "Ich fürchte, Putin ist zu weit gegangen. Wenn er jetzt zurückweicht, verliert er sein Gesicht. Die Gefahr ist ernst."

Auf die Frage, was er Putin gern sagen würde, wenn der ihm zuhören könnte, muss Yuri grinsen: "Definitiv nichts Gutes. Da kommen mir hauptsächlich Beleidigungen oder gemeine Witze in den Kopf."

Vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj, der zuletzt die russische Bedrohung herunterspielte, ist der Geschichtsprofessor ebenfalls nicht sonderlich begeistert.

"Aber ich liebe dieses Land, und ich werde es verteidigen."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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