Wolodymyr Selenskyj: Vom Komiker zum Kriegshelden

Nicht nur in der Ukraine, überall auf der Welt kennen Menschen inzwischen seinen Namen: Wolodymyr Selenskyj. Der Präsident hat im Ukraine-Krieg an Profil gewonnen. Dahinter steckt eine wundersame Wandlung.

Die Lage für Wolodymyr Selenskyj könnte dramatischer nicht sein. Sein Land wird seit fünf Tagen von russischen Streitkräften unter Beschuss genommen. Explosionen, Sirenengeheul, atomare Drohgebärden aus dem Kreml: Die Eskalationsstufen nehmen immer unwirklichere Dimensionen an.

Was Russlands Präsident Putin als Nächstes plant, scheint kein Mensch voraussagen zu können. Doch einer bleibt ruhig, besonnen, standhaft und geradezu heroisch: Wolodymyr Selenskyj.

Selbst die Bedrohungslage für ihn persönlich lässt den ukrainischen Präsidenten nicht die Fassung verlieren – jedenfalls nach außen hin. Der 44-Jährige sei Staatsfeind Nummer eins für die Russen, so gibt er es kurz nach Kriegsausbruch selbst zu Protokoll.

Seine Familie, die gleichaltrige Frau Olena Selenska sowie seine zwei Kinder, stünden ebenfalls im Fadenkreuz des Kremldespoten Putin: Auf Platz zwei der Todesliste befänden sich demnach die drei engsten Angehörigen des Ukrainers. Selenskyj hat sie in Sicherheit bringen lassen – und bleibt selbst in der Hauptstadt seines Landes, das sich im Ausnahmezustand befindet.

David gegen Goliath – und Selenskyj vorneweg

"Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition", ruft er der internationalen Gemeinschaft am 26. Februar aus Kiew entgegen. Der US-Geheimdienst soll das Angebot unterbreitet haben, ihn außer Landes zu bringen. Für Selenskyj keine Option. Er werde kämpfen, für sein Vaterland, für die Freiheit – so wie seine tapferen Landsleute.

Das Narrativ der widerstandsfähigen Ukraine gegen den scheinbar übermächtigen Gegner ist damit in der Welt. Das "David gegen Goliath"-Motiv, es hat auch viel mit Wolodymyr Selenskyj selbst zu tun.

Denn das 44-Millionen-Einwohner-Land bringt die Großmacht Russland mit ihren mehr als 144 Millionen Staatsbürgern schier zur Verzweiflung. Oder sollte man sagen: Wladimir Putin, Ex-KGB-Offizier und seit 20 Jahren an den Schaltzentralen der russischen Macht, verzweifelt an einem einstigen Komiker?

Tatsächlich lässt die russische Führung keinen Zweifel daran, dass es ihr in der Ukraine auch um einen Sturz der politischen Führung geht, die sie als vom Westen gesteuerte "Junta" brandmarkt. Russlands Präsident scheint in Selenskyj so etwas wie eine Inkarnation des "bösen Westens" zu sehen, eine Art Nato-Marionette – so das diffuse Weltbild des Kriegstreibers aus Moskau. "Es wäre naiv zu sagen, dass er sich nicht in Gefahr befindet", hatte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Hebestreit, vor ein paar Tagen in Berlin gesagt und dann angefügt: Selenskyj sei "ein sehr mutiger Mann".

Vor einigen Monaten wären solche Aussagen noch undenkbar gewesen. Selbst viele Ukrainer zeigten sich bis vor Kurzem skeptisch, was Selenskyjs staatsmännische Fähigkeiten anbelangt. Und das hat viel mit seiner Vergangenheit zu tun. Schließlich hatte Selenskyjs politische Laufbahn skurril begonnen.

Bis zu seiner Wahl zum Präsidenten 2019 unterhielt er die Ukrainer als Komiker und Schauspieler – und hatte keinerlei politische Erfahrung. Sein Weg ins Präsidentenamt ähnelte dem Drehbuch seiner populären Fernsehserie "Diener des Volkes".

Selenskyjs Sketche gehen viral

In der Serie spielt er einen Geschichtslehrer, der zum Präsidenten gewählt wird, nachdem sich ein Video, in dem er gegen die Korruption im Lande wettert, im Internet rasant verbreitete. Auch im echten Leben verdankt Selenskyj seine Beliebtheit seinem erfolgreichen Auftritt im Internet. Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem damaligen Staatschef Petro Poroschenko verhalf ihm zum Wahlsieg.

Genau diese Geschichten tragen nun dazu bei, dass Selenskyjs Popularität raketenhaft in die Höhe schießt. Clips aus seiner Zeit als Entertainer verbreiten sich in den sozialen Medien und werden zu viralen Hits.

Eines dieser Videos zeigt ihn auf einer Bühne. Selenskyj steht mit drei weiteren Männern hinter einem Klavier. Das hebräische Volkslied "Hava Nagila" wird gespielt. Doch statt eines Pianisten gibt es nur dieses Männerquartett, das mit heruntergelassenen Hosen die Tasten bedient – also quasi mit den Genitalien für musikalische Unterhaltung sorgt.

Eine andere Anekdote beschreibt seinen Erfolg in der ukrainischen Version von "Let's Dance", die er 2006 gewann. Außerdem spricht Selenskyj im Kinderfilm "Paddington", der auf den gleichnamigen Büchern von Michael Bond basiert, die ukrainische Synchronstimme des putzigen Bären.

In "Diener des Volkes" soll er sich einst sogar über Wladimir Putin lustig gemacht haben. Dafür schlüpfte er in die Rolle einer Geliebten. Schließlich ist das geheime Privatleben des russischen Präsidenten auch in der Ukraine immer wieder Anlass für Spekulationen.

Umgekehrt versucht nun der Machthaber im Kreml Selenskyj zu diskreditieren. Putin wolle die Ukraine "entnazifizieren" raunte er in Richtung seines Widersachers. Der konterte: "Wie kann ich ein Nazi sein? Erklären Sie das meinem Großvater, der den ganzen Krieg in der sowjetischen Armee mitgekämpft hat!"

Dass Wolodymyr Selenskyj selbst Jude ist und drei Brüder seines Großvaters im Holocaust ermordet wurden, erwähnt er bei dieser Gelegenheit nicht. Vom Witze reißen ist er längst zum Führen eines kriegsgebeutelten Landes übergegangen. Für PR in eigener Sache bleibt keine Zeit: Er schmiedet Allianzen, verbucht eine neue Waffenlieferung nach der anderen und spricht von einer "Anti-Kriegs-Koalition" gegen Putin.

Putins Nemesis trägt den Namen Selenskyj

Einige Ukrainer mögen nach dem Amtsantritt des aus der russischsprachigen Industriestadt Krywyj Rih stammenden Schauspielers noch das Schlimmste befürchtet haben. Spätestens jetzt scheinen sie froh, in Selenskyj einen Mann an der Spitze zu wissen, der mit Mut und Unerschrockenheit die Verteidigung der Ukraine organisiert.

Während in Russland die Unruhe ob des Angriffskriegs gegen das Nachbarland wächst, gewinnt Selenskyj in der Ukraine mehr und mehr an Statur. Es ist der wundersame Wandel eines politischen Außenseiters, vom Filou hin zur Führungsfigur – wie gemacht für eine große Heldenerzählung der Moderne.

Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn nun ausgerechnet ein Ex-Komiker zur Nemesis von Wladimir Putin würde. Doch noch ist die Lage dramatisch – und niemand weiß, ob Selenskyj die künftigen Geschichten über sich noch selbst erleben darf.