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Ukrainer an der Grenze: Die unzensierten Clips zeigen fürchterliche Szenen


Besuch an der polnischen Grenze
"Hilft ihnen mehr als mein Blut, das ich in der Ukraine lasse"

Von Gerd Waliszewski

Aktualisiert am 23.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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Eine Frau steigt in Lubin aus einem Zug aus Kiew: Hunderttausende sind auf der Flucht aus der Ukraine.Vergrößern des Bildes
Eine Frau steigt in Lubin aus einem Zug aus Kiew: Hunderttausende sind auf der Flucht aus der Ukraine. (Quelle: Gerd Waliszewski/T-Online-bilder)

Geflüchtete. Kämpfer, die in den Krieg ziehen. Freiwillige, die ihr Leben aufgeben, um zu helfen. An der polnisch-ukrainischen Grenze treffen sie alle aufeinander. Der Fotograf Gerd Waliszewski hat die Stimmung dokumentiert.

"Mein lieber Herr, es ist Krieg", antwortet der Betreiber eines Hostels in Lublin auf die Frage nach einem Zimmer. So ganz stimmt das natürlich nicht. Die polnische Stadt liegt ungefähr 100 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt – und doch bekommt sie die Auswirkungen unmittelbar zu spüren. Bereits kurze Zeit nach der Invasion russischer Streitkräfte waren alle Unterkünfte in der Region für die nächsten Wochen ausgebucht. Bis heute hält der Ausnahmezustand an.

Weil es eine Zugverbindung zwischen Lublin und Kiew gibt, ist die Stadt in den Anfangstagen des Krieges schnell zu einem der Hotspots entlang der Fluchtroute geworden. Mittlerweile kommen die meisten mit dem Bus. Zehntausende ukrainische Geflüchtete reisen täglich durch in Richtung Westen, kommen in Kontakt mit Tausenden freiwilligen Helfern – und einigen, die zurück in die Ukraine wollen, um ihre Heimat zu verteidigen.

Im Keller des städtischen Kulturzentrums läuft in diesen Tagen alles zusammen. Dort hat sich eine der Menschenrechtsorganisationen, "Homo Faber", ein spontanes Lagezentrum eingerichtet. Sie koordinieren von hier aus das "Lubliner Sozialkomitee für Ukraine-Hilfe".

Die Organisation füllt die Lücken im staatlichen Umgang mit Geflüchteten, die sich wegen mangelnder Erfahrung der polnischen Regierung auftun.

Kein Wunder – zeitgleich, nur einige Kilometer weiter nördlich und im toten Winkel der medialen Aufmerksamkeit, wird Geflüchteten an der Grenze zu Belarus seit Monaten das Asylrecht verwehrt.

Um Personal muss sich "Homo Faber" keine Sorgen machen – schon am zweiten Tag nach Kriegsbeginn meldeten sich mehr als zweitausend hilfsbereite Personen.

Für die meisten von ihnen ist die Lage doppelt belastend. Den Flüchtenden widmen sie ihre ganze Freizeit und nach Schichtende müssen sie sich um ihre eigenen Familien sorgen. Die meisten Helferinnen und Helfer kommen nämlich selbst aus der Ukraine – die Universitätsstadt Lublin ist ein beliebter Studienort für Polens östliche Nachbarn.

Auch Solomiya ist für ihr Studium aus Lutsk hergezogen. Dass ihre Eltern in ihrer Heimatstadt im Nordwesten der Ukraine geblieben sind, sorgt bei ihr erst recht für Tatendrang: "Ich wollte so schnell wie möglich etwas tun, irgendwie helfen", sagt sie.

Sie erinnert sich an die Liste der verpassten Anrufe, die sie am Morgen des 24. Februar auf ihrem Telefon gesehen hat. "Warum sollten sie mich um diese Uhrzeit anrufen?", wunderte sie sich damals. Dann erfuhr sie vom Kriegsbeginn und fand sich plötzlich in einer neuen Welt wieder.

Am ersten Gleis des Lubliner Hauptbahnhofs sammeln sich Dutzende Helferinnen und Helfer, darunter auch Solomiya.

Sie erwarten einen der ersten Züge aus Kiew, die nicht mehr wie bisher von Pendlern oder Touristen genutzt werden, sondern überwiegend von flüchtenden Frauen und Kindern. Männer im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht mehr verlassen. Wegen der strengen Kontrollen wurde die Ankunft des Zugs bereits drei Mal verschoben.

Als die überfüllten Waggons schließlich in Lublin ankommen und die ersten Personen aussteigen, ist die Stimmung bedrückt. Der Zug leert sich, bis auf dem Bahnsteig kaum noch Platz ist. Einige nutzen den 15-minütigen Stopp für eine Zigarettenpause, andere lassen ihre Hunde laufen, eine Frau kämmt ihrer Tochter die Haare.

Jelena und ihre Schwiegermutter stehen eng beieinander, und reagieren doch völlig unterschiedlich. Ihre zwei Hunde hält Jelena fest im Arm.

Ihren Mann musste sie zur Verteidigung von Kiew zurücklassen. Der kleinste Gedanke an ihn bringt sie zum Weinen.

Ihre Schwiegermutter zeigt sich kämpferisch. Sie deutet auf ihre goldene Jackennadel, die das ukrainische Wappen darstellt. "Tryzub" (Dreizack), erklärt sie voller Stolz. Bald steigen sie wieder in den Zug ein, um ihre Familie in der Nähe Berlins zu erreichen.

Am Lubliner Busbahnhof kommen die Reisebusse aus der Ukraine im Minutentakt an. Die Helferinnen und Helfer haben einen großen Stand errichtet, an dem sie warme Getränke und Suppen anbieten. Ärzte und Notfallsanitäter behandeln in einem Nebenraum medizinische Notfälle. Gearbeitet wird rund um die Uhr.

Stanislav schreckt vor diesen Arbeitsbedingungen nicht zurück. Der 17-Jährige aus Krywyi Rih legt heute eine Nachtschicht ein.

Er ist im Herbst für sein Studium nach Lublin gezogen. Sollte die Krise anhalten, sind ihm die persönlichen Konsequenzen bewusst. "Ich werde die Uni und Flüchtlingshilfe in dieser Intensität niemals vereinbaren können", sagt er. Aber das zählt jetzt erst mal nicht.

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In der Wartehalle kümmern sich die Ehrenamtlichen um die erschöpften Reisenden. Sie organisieren Transporte oder eine Unterkunft für die Nacht. Nicht jeder hat einen Plan, wie es weitergeht – Vika schon: Ihre Freunde aus Bremen sind auf dem Weg, um sie abzuholen.

Die Frau aus Mykolajiw packte sofort ihre Sachen, als sie vom Kriegsausbruch hörte. Fassen kann sie es noch nicht: "Der Krieg herrscht schon acht Jahre und die Lage fühlte sich stabil an." Wie viele Ukrainer hatte sie sich an die ständigen Gefechte mit prorussischen Separatisten im Osten des Landes gewöhnt. Mit dem russischen Großangriff rechnete sie nicht.

Aiko, ihr Hund, liegt nach 35-stündiger Busfahrt erschöpft am Boden. Bis nach Bremen sind es weitere 16 Stunden.

Auf einer Bank gegenüber schaut Viktor Kysel Videos, die ihm seine Freunde täglich aus der Ukraine zusenden.

Die unzensierten Clips zeigen verkohlte Soldatenleichen und zerstörtes Militärequipment. Im Wechsel verflucht er den Aggressor oder ruft "Slava Ukraini!" – was so viel heißt wie "Ruhm der Ukraine".

Schließlich greift er in seine Jackentasche, aus der er einen angebrochenen Tablettenblister herauskramt. "Nach meinen Schlaganfällen war mir diese Fahrt zu viel. Der Bus war voller weinender Kinder", beschwert er sich, eine der Tabletten schluckend. Stolz zeigt er auf einem Foto sein Kalaschnikow-Gewehr. Nach Kriegsbeginn hat er es seinem Bruder überreicht, der wüsste es einzusetzen, meint der 70-Jährige.

Andriy trennen nur wenige Monate von der Wehrpflicht – bald wird er volljährig.

Wäre der Krieg ein paar Monate später ausgebrochen... Darüber will er sich lieber keine Gedanken machen. Als die Kämpfe begannen, besuchte er gerade seine Familie in Schytomyr.

Seit über einem Jahr geht der 17-jährige Schüler auf eine technische Schule im polnischen Dęblin und wohnt dort im Internat. Er und seine Eltern erhoffen sich für ihn einen besseren Start ins Leben durch Bildung im Ausland.

Auch in die Gegenrichtung fahren Busse. Lublin ist dann der letzte Halt vor dem Krieg. Nur wenige Menschen sind an Bord. Aber es ist eine letzte Möglichkeit, den Bus mit Hilfsgütern zu beladen – nicht nur die Gepäckluken, auch Sitze und Gänge werden als Stauraum genutzt.

Die Busfahrer erlauben sich in Lublin nur eine schnelle Zigarette, eine letzte Umarmung, um den Helferinnen und Helfern zu danken. Zuversichtlich nehmen sie wieder ihre Plätze hinter dem Steuer ein.

Ein letztes Mal recken sie ihre in geballten Fäuste nach oben, von ihren Lippen kann man "Slava Ukraini" ablesen. Dann manövrieren sie den Bus im Rückwärtsgang aus der Parklücke – und vorwärts ins Ungewisse.

Nicht alle Busse Richtung Ukraine sind leer. Für eine Zigarettenpause steigen Männer aus, die sich entschlossen haben, für ihre Heimat zu kämpfen. Ein 24-jähriger Ukrainer, der aus Warschau anreist, fühlt sich seiner Heimat verpflichtet. "Fünf Tage lang habe ich überlegt", sagt er nur, bevor er den Zigarettenstummel ausdrückt und gedankenverloren wieder in den Bus steigt.

Auch Serhiy stand kurz davor, das Schicksal dieser Männer zu teilen. Er kommt aus Szczecin, vor einem Monat ist er aus dem ostukrainischen Donezk hergezogen.

"Gerade ich wäre dort gebraucht", meint der 24-Jährige. Er hat schon Militärerfahrung – auf seinem Handy zeigt er Bilder aus den Schützengräben von Awdijwka, wo er gegen die prorussischen Separatisten kämpfte.

"Meine Eltern riefen mich auf meiner Fahrt an. Sie überzeugten mich, dass das Geld, das ich in Polen verdiene, ihnen mehr helfen wird als mein Blut, das ich in der Ukraine lasse", erklärt er. Hier in Lublin ist es seine letzte Möglichkeit vor der Grenze auszusteigen.

Seinen Landsleuten, die tiefer in den Osten fahren, blickt er nachdenklich hinterher. Der Bus, der ihn zurück nach Szczecin bringt, wird erst am nächsten Morgen kommen.

Verwendete Quellen
  • Recherche und Gespräche vor Ort in Lublin
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