"Maybrit Illner" zu Kiew-Reise Botschafter Melnyk lobt Scholz – dann teilt er doch wieder aus
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Melnyk ist plötzlich voll des Lobes für Scholz. Aber der ukrainische Botschafter erhöht nach dessen Kiew-Besuch bei "Maybrit Illner" auch den Druck. Zu seiner Kritik an der deutschen Flüchtlingshilfe behauptet er: "Das habe ich nicht gesagt."
Von der "beleidigten Leberwurst" zum ehrwürdigen Staatsmann: Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, lobt die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach Kiew. "Das war ein wichtiger Besuch für die Ukraine, auf jeden Fall, aber hoffentlich auch für den Bundeskanzler selbst, weil er sich vor Ort selbst ein Bild machen konnte, wie verzweifelt die Lage ist", sagte der Diplomat am Donnerstagabend bei "Maybrit Illner".
Seine Forderungen folgten auf dem Fuße. "Es geht darum, dass die Deutschen Worten Taten folgen lassen", verlangte Melnyk vor allem mit Blick auf militärische Hilfe. "Fakt ist: Bis zu diesem Tage gibt es in der Ukraine keine einzige schwere Waffe aus Deutschland im Einsatz."
Die Gäste
- Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland
- Ralf Stegner (SPD), Mitglied im Auswärtigen Ausschuss
- Roderich Kiesewetter (CDU), Ex-Oberst der Bundeswehr
- Katja Gloger, Putin-Biografin
- Anne Gellinek, Leitern des ZDF-Studios in Brüssel
Melnyk begann die Sendung aber mit der positiven Seite des Scholz-Besuches. Der Kanzler hatte sich mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Regierungschef Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Iohannis dafür ausgesprochen, dass die Ukraine rasch den EU-Kandidatenstatus erhält.
"Die Worte, die wir in Kiew gehört haben, geben uns auf jeden Fall ein bisschen Hoffnung, dass das Urteil des Europäischen Rats nächste Woche positiv ausfällt", sagt der Botschafter. Ganz sicher sei er aber nicht, dass der Ankündigung auch das nötige einstimmige Ergebnis in Brüssel folgen wird. "Ich befürchte: Da sind wir noch nicht über den Berg."
Scholz-Besuch schwere Niederlage für Putin?
Die Putin-Biografin Katja Gloger unterstrich die Tragweite der Ankündigung. "Die Ukraine hat eine europäische Perspektive, damit eine politische und ökonomische Zukunftsperspektive. Das kann Wladimir Putin eigentlich nicht anders interpretieren als eine große politische Niederlage", sagte die ehemalige Moskau- und USA-Korrespondentin des "Stern". Ganz anders sah das Anne Gellinek, Leitern des ZDF-Studios in Brüssel, die über eine erstaunlich schlechte Internetverbindung zugeschaltet war.
"Wenn wir ehrlich sind, heißt der Beitragskandidatenstatus erst mal sachlich gar nichts", stellte sie mit Blick auf das Prinzip der Einstimmigkeit unter den 27 EU-Mitgliedern fest. "Man muss sehen, ob die drei es schaffen, alle anderen Skeptiker zu überzeugen." Zur Dauer der möglichen Beitrittsverhandlungen sagte die ZDF-Journalistin: "Wir reden ganz bestimmt von einem Jahrzehnt."
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Melnyk: "Man kann doch viel mehr tun"
Gerade deshalb stellt Melnyk klar: "Die Perspektive ist natürlich ein sehr starkes Signal. Aber diese Zukunft liegt noch lange vor uns, aber wir müssen jetzt überleben. Um das zu tun, brauchen wir schwere Waffen." Der Botschafter zeigte sich hier diplomatisch. "Es geht jetzt nicht um Schuldzuweisungen, sondern dass nach diesem wichtigen Besuch die Erkenntnis da ist, dass man doch viel mehr tun könnte und sollte."
So verfüge Deutschland beispielsweise über 800 Fuchstransportpanzer und 200 bis 300 Panzer des Typs "Marder". Auch alte Panzer könnten einen wertvollen Beitrag dazu leisten, von Russland besetzte Gebiete zurückzuerobern. "Wir geben den Deutschen die historische Chance, spätestens heute zu beginnen, viel mehr zu tun."
"Beitritt ist kein Geschenk an die Ukraine"
Melnyk warnte davor, der psychologischen Kriegsführung des Kreml auf den Leim zu gehen. Putin konzentriere derzeit im Donbass die zweitgrößte Armee der Welt auf ein kleines Gebiet und erobere dort jeden Tag einige Dörfer. Auf diese Weise erzeuge der russischen Machthaber ein Gefühl der Unbesiegbarkeit Russlands.
"Wir müssen uns nicht einschüchtern lassen", forderte Melnyk. Außerdem wollte der Botschafter klarstellen: "Der EU-Beitritt ist kein Geschenk an die Ukraine. Es ist etwas, was auch im ureigenen Interesse der Bundesrepublik ist. Kein anderes Land hat mehr profitiert von der Osterweiterung der EU."
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Einen persönlichen Dank des Botschafters erhielt Scholz hingegen für die Entscheidung, das hochmoderne Luftabwehrsystem IRIS-T an die Ukraine zu liefern. "Deutschland hat hier das Eis gebrochen", attestierte ihm Melnyk.
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"Putin hat nichts erreicht"
Neben dem SPD-Politiker Ralf Stegner wertete auch der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter den Scholz-Besuch bei Illner grundlegend als Erfolg. "Es war schon ein sehr starkes Zeichen", sagte er. Macron aber habe mit dem Bekenntnis zu schnellen Waffenlieferungen die Führung übernommen.
Scholz hingegen zögere. "Da würde ich mir eine Erklärung wünschen", sagte der Ex-Oberst. Mit erst später realisierbaren Versprechungen sei dem überfallenen Land zunächst wenig geholfen. "Die Ukraine muss erst mal überleben und in der Lage sein, die Verhandlungen in freier Selbstbestimmung zu führen." Stegner wies Kritik am angeblichen Nichtstun Deutschlands zurück, ebenso wie Äußerungen, Russland gewinne gerade den Krieg: "Woher kommt der Defätismus? Putin hat nichts erreicht, nichts."
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Melnyk bemühte sich am Tag des Scholz-Besuchs in Kiew auffallend um wieder größere Nähe zu seinem Gastland. "Warum machen Sie die Flüchtlingshilfe in Deutschland schlecht? Warum sagen Sie, dass Sie glauben, dass Ukrainer sich hier nicht mehr wohlfühlen?", fragte Illner mit Blick auf den Auftritt des Botschafters bei Bild TV. "Das habe ich nicht gesagt. Das wurde aus dem Zusammenhang gerissen", behauptete Melnyk.
Er habe vielmehr gesagt, dass die Debatte, ob sich Waffenlieferungen noch lohnen, bei manchen Geflüchteten zum Eindruck führen, dass ihr Land im Stich gelassen wird. Er versicherte: "Wir schätzen die Hilfe von der Bundesregierung, den Kommunen, den Tausenden von Ehrenamtlichen. Wir hoffen, dass diese Hilfsbereitschaft bleibt." "Dann sollte man sie nicht beleidigen", meinte Illner.
- "Maybrit Illner" vom 16. Juni 2022